Die zeithistorische Forschung untersucht erst seit wenigen Jahren die politischen Kultur des Kalten Krieges im Raum Berlin. Zur Auflösung der Fußnote[1] Ein wesentliches "Schlachtfeld" des Kalten Krieges in Deutschland und Berlin war die Flüchtlingsfrage bzw. die Frage, wie die massenhafte Flucht aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR sozial, logistisch und politisch gesteuert wurde und vor allem: durch wen? Angesichts der Tatsache, dass fast drei Millionen Deutsche die junge DDR vorrangig durch das "Nadelöhr" Westberlin in Richtung Bundesrepublik verließen, ist eine detaillierte Untersuchung der "Abwicklung" des Flüchtlingsstroms überfällig. In diese Forschungslücke ist nun Keith R. Allen mit seiner Studie "Befragung, Überprüfung, Kontrolle. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in West-Berlin bis 1961" vorgedrungen:
Keith R. Allen, Befragung, Überprüfung, Kontrolle. (© Ch. Links Verlag)
Allen beschreibt das politische Spannungsfeld rund um das Berliner Flüchtlingsproblem in der Frühphase des Kalten Krieges. Er konzentriert sich dabei auf die massenweise vorgenommenen Befragungen von DDR-Flüchtlingen in den Aufnahmelagern durch die Westalliierten und durch nichtstaatliche Akteure, wie z.B. der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KgU) und dem "Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen" (UFJ). Kenntnisreich veranschaulicht Allen, wie es im Beziehungsgeflecht zwischen alliierten Geheimdiensten und der um Souveränität ringenden jungen Bundesrepublik dazu kommen konnte, dass eine obskure und ideologisch fragwürdige "Nichtregierungsorganisation" wie die KgU über die Anerkennung von politischen Flüchtlingen entscheiden durfte. Die Erlangung des Status "politischer Flüchtling" war vielfach eine entscheidende soziale und wirtschaftliche Weichenstellung für das weitere Leben der Ostzonenflüchtlinge in der Bundesrepublik. Die Aktivitäten der genannten Organisationen hatten demnach weitreichende Konsequenzen für die Biografien von einer Vielzahl von Flüchtlingen. Spannend schildert Allen den Konflikt zwischen politischen Organen der Bundesrepublik einerseits, welche diese antikommunistischen Organisationen aus der Flüchtlingsbefragung hinausdrängen wollten, und den Westalliierten andererseits, die die Arbeit dieser Organisationen in der Flüchtlingsarbeit aus Gründen ihrer nachrichtendienstlichen Verwertbarkeit verteidigten. Indem Allen die sozialpolitischen und gesamtdeutschen Absichten der bundesrepublikanischen Politik, den sicherheitspolitischen Zielen der Westalliierten gegenüberstellt, blickt er über seinen unmittelbaren Forschungsgegenstand hinaus und bettet ihn zugleich in die globale "cold war culture" der 1950er Jahre ein.
Bundesdeutsches Souveränitätsdefizit und alliierter Antikommunismus
Allens Studie gliedert sich in vier Kapitel, die sich auf zwei Teilbereiche erstrecken: Nachdem anfangs die Rahmenbedingungen der Berliner Flüchtlingsfrage und ihre Akteure beschrieben und vorgestellt worden sind, Zur Auflösung der Fußnote[2] konzentriert sich der Verfasser auf die Flüchtlingsarbeit der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" und des "Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen" sowie auf die Befragungspraxis der Westalliierten. Zur Auflösung der Fußnote[3] Hier legt Allen anhand von Fallbeispielen nicht nur die Vorgehensweise, Motivation und innere Verfasstheit der Organisationen exemplarisch und anschaulich dar, sondern beweist auch ihre Abhängigkeit von den amerikanischen Geheimdiensten und ihre zum Teil provokativ zur Schau gestellte Unabhängigkeit vom bundesdeutschen Staat. Zur Auflösung der Fußnote[4] Auch die Versuche von bundesdeutschen Ministerien und der Westberliner Politik, die von den Westalliierten verfügte Vorschaltung von Nichtregierungsorganisationen in der Flüchtlingspolitik zu unterbinden, beschreibt Allen anschaulich als Ringen der jungen Bundesrepublik um staatliche Souveränität.
Keith Allens Arbeit leuchtet nicht nur ein bisheriges Forschungsdesiderat um die Flüchtlingspolitik im Kalten Krieg aus, sondern berichtet in stets wohltuend sachlicher Tonlage vom großen Souveränitätsdefizit der frühen Bundesrepublik und ihren alltäglichen Folgen für Millionen Deutsche auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs". Damit berührt die Studie einen häufig verdrängten Aspekt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, in der sonst erfolgsbetonende Schlüsselbegriffe wie "Wirtschaftswunder", "Wiederaufbau" und "Westanbindung" die (keinesfalls nur populärwissenschaftliche) Erinnerungskultur unserer Tage bestimmen. Die sachliche Tonlage verlässt der Verfasser auch dann nicht, wenn er den Leser mit der selbstgerechten Perfidie konfrontiert, mit welcher z.B. die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" Opfern des NS-Regimes den Status des politischen Flüchtlings aus der SBZ verweigerte. Leider hat er darauf verzichtet, seine Leser der wissenschaftlichen Zunft mit einem Forschungsausblick aus der Lektüre zu entlassen. Dies ist bedauerlich, da Allen, wie bereits angemerkt, mit seiner Studie die Tür zu einem wichtigen Forschungsfeld geöffnet hat und an einer Fortführung interessiert sein dürfte.
Kooperation mit gesellschaftlichen Trägern als Staatsversagen?
Dessen ungeachtet ist die Untersuchung uneingeschränkt als Lektüre zu empfehlen, und es sind ihr viele Leser zu wünschen, da der Verfasser nicht nur die bisher wenig bekannten Fluchterfahrungen von Hunderttausenden Deutschen von Ost nach West abseits der mittlerweile auch medial verarbeiteten spektakulären Fluchtgeschichten erforscht hat, sondern auch an bundesdeutschen Mythen kratzt, welche sich mit der Zeit um die eigene Willkommenskultur gegenüber den Ostzonenflüchtlingen und um die oft allzu harmonisch geschilderte Westanbindung der Bundesrepublik gebildet haben. Auch an die von vielen als Schattenseiten des bundesdeutschen Korporatismus beklagte Schwäche des Staates gegenüber gesellschaftlichen Akteuren erinnert dieses Buch, indem es das komplizierte Verhältnis zwischen den aggressiv agierenden antikommunistischen Organisationen KgU und UFJ und den staatlichen Stellen beschreibt. Wer die Beschäftigung mit der deutschen Zeitgeschichte auch deshalb betreibt, um neben dem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, Denkanstöße für Gegenwartsfragen zu erhalten, wird diese Studie mit großem Gewinn lesen.
Peter Köpf, Wo ist Lieutenant Adkins? (© Ch. Links Verlag)
Eine gänzlich andere Flüchtlingsbewegung beschreibt der Journalist Peter Köpf in seinem Buch "Wo ist Lieutenant Atkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR". Er befasst sich mit den kaum bekannten Schicksalen der in die DDR desertierten NATO-Soldaten. Eine relativ große Zahl von über 200 Soldaten westeuropäischer Streitkräfte, vorrangig US-Soldaten, lief bis zum Mauerbau im Jahre 1961 als Fahnenflüchtige in die DDR über. Die vielfältigen Gründe für diese Fahnenfluchten sowie der Umgang mit diesen Soldaten durch die DDR-Behörden und ihr Alltagsleben im realexistierenden Sozialismus beschreibt Köpf ebenso anschaulich wie quellengestützt. Anhand von bis dahin unerschlossenen Akten der Stasiunterlagenbehörde (BStU) hat der Autor einige Fallbeispiele von Deserteursbiografien rekonstruiert und diese für den wissenschaftlichen wie den nichtwissenschaftlichen Leser gleichermaßen spannend und sachgerecht aufgearbeitet. Damit hat er sich mit dem wenig beachteten Phänomen der Wanderungsbewegung von West nach Ost in Form von ausgewählten biografischen Fallstudien gewidmet.
Nach einem kurzen Prolog, in dem die Leser mit dem Prozess seiner Themenfindung vertraut gemacht werden, widmet sich der Autor den vielgestaltigen Gründen der über 200 Deserteure für ihre Fahnenflucht gen Osten. Zur Auflösung der Fußnote[5] In diesem Panoptikum individueller Wünsche, Sehnsüchte und politischer Überzeugungen stechen vor allem jene Deserteure heraus, welche dem amerikanischen Alltagsrassismus entfliehen wollten und sich in der DDR ein Leben ohne gesellschaftliche Hierarchien und jenseits rassistischer Segregation erhofften. Nach Analyse der Fluchtursachen wendet sich Köpf dem Umgang mit den Deserteuren durch das Ministerium für Staatssicherheit zu. Hier beschreibt der Autor ebenso die gemeinsame Unterbringungen der Soldaten in der Stadt Bautzen, Zur Auflösung der Fußnote[6] wie auch strategische Überlegungen der Staatssicherheitsbehörde, diese Fahnenfluchten propagandistisch für sich zu nutzen sowie die Instrumentalisierung der Deserteure durch das Ministerium für Staatssicherheit für die operative Arbeit. Zur Auflösung der Fußnote[7] Der hohe propagandistische Wert, den diese Fahnenflüchtigen den DDR-Behörden durch ihre Tat beschafften, bestand vor allem in der vom SED-Regime erhofften zersetzenden Auswirkung auf die Moral der westlichen Besatzungstruppen. Die Propaganda, die sich um die Fahnenfluchten der Nato-Soldaten entwickelte, war daher vornehmlich an die in Westdeutschland stationierten Nato-Soldaten gerichtet, welche in Flugblättern über das angeblich glückliche Leben der Deserteure im "Friedenslager" "informiert" und dazu aufgerufen wurden, ihrem Beispiel zu folgen.
Dass das Leben der Deserteure in der neuen ostdeutschen Heimat oft wenig glücklich verlief, beschreibt Köpf ebenso detailliert. Zur Auflösung der Fußnote[8] Die Mischung aus den oft eigenwilligen, konformitätsunwilligen Charakteren der Deserteure einerseits und der Rigidität des DDR-Systems andererseits, sorgte in den meisten Fällen für ein Scheitern der Deserteursbiografien, welche mehr und mehr von Depressionen, delinquentem Verhalten und Selbstmorden geprägt wurden, bis das Zentralkomitee der SED das Scheitern dieses "Deserteursaufnahmeprogramms" konstatierte und dieses Projekt der "internationalen Solidarität" zugunsten der "inneren Sicherheit" im Juni 1962 aufgab. Etliche Überläufer kehrten noch vor dem Mauerbau nach und nach in ihre Heimatländer zurück. Lediglich die Spuren des im Buchtitel erwähnten Überläufers Lieutenant William Adkins verlieren sich unauffindbar im Westen. Im Schlusskapitel des Buches widmet sich der Autor der Frage nach dem mysteriösen Verschwinden und Verbleib des Überläufers Adkins. Zur Auflösung der Fußnote[9]
Individuelle Tragik und systembedingtes Scheitern
Köpfs Buch wirkt bisweilen etwas unübersichtlich, was jedoch auch dem kaleidoskopisch angelegten Reportagestil zuzurechnen ist, der zwar einen biografisch orientierten Panoramablick über dieses Phänomen erlaubt, doch häufig nicht allzu sehr in die Tiefe geht. Trotz dieses Einwandes handelt es sich um ein lesenswertes und aufschlussreiches Sachbuch. Es schildert ebenso detailliert wie emphatisch die Beweggründe und Hoffnungen der Fahnenflüchtigen Nato-Soldaten und ihr menschliches Scheitern im neuen System, dessen Enge und Antiindividualismus sie allesamt unterschätzt hatten.
Doch der größte Wert dieses Bandes liegt woanders: Peter Köpf ist, vielleicht nur nebenbei, eine eindrucksvolle Darstellung des "autoritären Charakters" der DDR-Behörden gelungen. Er schildert einen paranoiden Sicherheitsapparat, der nicht einmal gegenüber seinen "Freunden" auf das bekannte Stasi-Instrumentarium aus Druck, Denunziation und schikanöser Menschenmanipulation verzichtet und dadurch bei den anfänglich wohlwollenden Neubürgern letztlich jede Loyalität gegenüber dem DDR-Staat abtötet. Diese Unfähigkeit der DDR-Behörden, die Nato-Überläufer an die DDR zu binden und gesellschaftlich zu integrieren, zeigt en miniature jene Rigidität, welche letztlich maßgeblich zum Scheitern des DDR-Staates mit beigetragen hat. Dass Köpf dieses Grundproblem des DDR-Systems anhand einer Darstellung über einen interessanten, aber eigentlich unwesentlichen Seitenaspekt des Kalten Krieges so scharf und anschaulich herausgearbeitet hat, ist sein eigentliches Verdienst.
Zitierweise: Tilman Wickert, Sammelrezension: Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik im Kalten Krieg, in: Deutschland Archiv Online, 17.07.2013, Link: http://www.bpb.de/164109