Besprochene Werke
Keith R. Allen, Befragung, Überprüfung, Kontrolle. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in West-Berlin bis 1961, Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 238 S.
Peter Köpf, Wo ist Lieutenant Adkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR., Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 224 S.
Die zeithistorische Forschung untersucht erst seit wenigen Jahren die politischen Kultur des Kalten Krieges im Raum Berlin.
Allen beschreibt das politische Spannungsfeld rund um das Berliner Flüchtlingsproblem in der Frühphase des Kalten Krieges. Er konzentriert sich dabei auf die massenweise vorgenommenen Befragungen von DDR-Flüchtlingen in den Aufnahmelagern durch die Westalliierten und durch nichtstaatliche Akteure, wie z.B. der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KgU) und dem "Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen" (UFJ). Kenntnisreich veranschaulicht Allen, wie es im Beziehungsgeflecht zwischen alliierten Geheimdiensten und der um Souveränität ringenden jungen Bundesrepublik dazu kommen konnte, dass eine obskure und ideologisch fragwürdige "Nichtregierungsorganisation" wie die KgU über die Anerkennung von politischen Flüchtlingen entscheiden durfte. Die Erlangung des Status "politischer Flüchtling" war vielfach eine entscheidende soziale und wirtschaftliche Weichenstellung für das weitere Leben der Ostzonenflüchtlinge in der Bundesrepublik. Die Aktivitäten der genannten Organisationen hatten demnach weitreichende Konsequenzen für die Biografien von einer Vielzahl von Flüchtlingen. Spannend schildert Allen den Konflikt zwischen politischen Organen der Bundesrepublik einerseits, welche diese antikommunistischen Organisationen aus der Flüchtlingsbefragung hinausdrängen wollten, und den Westalliierten andererseits, die die Arbeit dieser Organisationen in der Flüchtlingsarbeit aus Gründen ihrer nachrichtendienstlichen Verwertbarkeit verteidigten. Indem Allen die sozialpolitischen und gesamtdeutschen Absichten der bundesrepublikanischen Politik, den sicherheitspolitischen Zielen der Westalliierten gegenüberstellt, blickt er über seinen unmittelbaren Forschungsgegenstand hinaus und bettet ihn zugleich in die globale "cold war culture" der 1950er Jahre ein.
Bundesdeutsches Souveränitätsdefizit und alliierter Antikommunismus
Allens Studie gliedert sich in vier Kapitel, die sich auf zwei Teilbereiche erstrecken: Nachdem anfangs die Rahmenbedingungen der Berliner Flüchtlingsfrage und ihre Akteure beschrieben und vorgestellt worden sind,
Keith Allens Arbeit leuchtet nicht nur ein bisheriges Forschungsdesiderat um die Flüchtlingspolitik im Kalten Krieg aus, sondern berichtet in stets wohltuend sachlicher Tonlage vom großen Souveränitätsdefizit der frühen Bundesrepublik und ihren alltäglichen Folgen für Millionen Deutsche auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs". Damit berührt die Studie einen häufig verdrängten Aspekt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, in der sonst erfolgsbetonende Schlüsselbegriffe wie "Wirtschaftswunder", "Wiederaufbau" und "Westanbindung" die (keinesfalls nur populärwissenschaftliche) Erinnerungskultur unserer Tage bestimmen. Die sachliche Tonlage verlässt der Verfasser auch dann nicht, wenn er den Leser mit der selbstgerechten Perfidie konfrontiert, mit welcher z.B. die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" Opfern des NS-Regimes den Status des politischen Flüchtlings aus der SBZ verweigerte. Leider hat er darauf verzichtet, seine Leser der wissenschaftlichen Zunft mit einem Forschungsausblick aus der Lektüre zu entlassen. Dies ist bedauerlich, da Allen, wie bereits angemerkt, mit seiner Studie die Tür zu einem wichtigen Forschungsfeld geöffnet hat und an einer Fortführung interessiert sein dürfte.
Kooperation mit gesellschaftlichen Trägern als Staatsversagen?
Dessen ungeachtet ist die Untersuchung uneingeschränkt als Lektüre zu empfehlen, und es sind ihr viele Leser zu wünschen, da der Verfasser nicht nur die bisher wenig bekannten Fluchterfahrungen von Hunderttausenden Deutschen von Ost nach West abseits der mittlerweile auch medial verarbeiteten spektakulären Fluchtgeschichten erforscht hat, sondern auch an bundesdeutschen Mythen kratzt, welche sich mit der Zeit um die eigene Willkommenskultur gegenüber den Ostzonenflüchtlingen und um die oft allzu harmonisch geschilderte Westanbindung der Bundesrepublik gebildet haben. Auch an die von vielen als Schattenseiten des bundesdeutschen Korporatismus beklagte Schwäche des Staates gegenüber gesellschaftlichen Akteuren erinnert dieses Buch, indem es das komplizierte Verhältnis zwischen den aggressiv agierenden antikommunistischen Organisationen KgU und UFJ und den staatlichen Stellen beschreibt. Wer die Beschäftigung mit der deutschen Zeitgeschichte auch deshalb betreibt, um neben dem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, Denkanstöße für Gegenwartsfragen zu erhalten, wird diese Studie mit großem Gewinn lesen.
Peter Köpf, Wo ist Lieutenant Adkins? (© Ch. Links Verlag)
Peter Köpf, Wo ist Lieutenant Adkins? (© Ch. Links Verlag)
Eine gänzlich andere Flüchtlingsbewegung beschreibt der Journalist Peter Köpf in seinem Buch "Wo ist Lieutenant Atkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR". Er befasst sich mit den kaum bekannten Schicksalen der in die DDR desertierten NATO-Soldaten. Eine relativ große Zahl von über 200 Soldaten westeuropäischer Streitkräfte, vorrangig US-Soldaten, lief bis zum Mauerbau im Jahre 1961 als Fahnenflüchtige in die DDR über. Die vielfältigen Gründe für diese Fahnenfluchten sowie der Umgang mit diesen Soldaten durch die DDR-Behörden und ihr Alltagsleben im realexistierenden Sozialismus beschreibt Köpf ebenso anschaulich wie quellengestützt. Anhand von bis dahin unerschlossenen Akten der Stasiunterlagenbehörde (BStU) hat der Autor einige Fallbeispiele von Deserteursbiografien rekonstruiert und diese für den wissenschaftlichen wie den nichtwissenschaftlichen Leser gleichermaßen spannend und sachgerecht aufgearbeitet. Damit hat er sich mit dem wenig beachteten Phänomen der Wanderungsbewegung von West nach Ost in Form von ausgewählten biografischen Fallstudien gewidmet.
Nach einem kurzen Prolog, in dem die Leser mit dem Prozess seiner Themenfindung vertraut gemacht werden, widmet sich der Autor den vielgestaltigen Gründen der über 200 Deserteure für ihre Fahnenflucht gen Osten.
Dass das Leben der Deserteure in der neuen ostdeutschen Heimat oft wenig glücklich verlief, beschreibt Köpf ebenso detailliert.
Individuelle Tragik und systembedingtes Scheitern
Köpfs Buch wirkt bisweilen etwas unübersichtlich, was jedoch auch dem kaleidoskopisch angelegten Reportagestil zuzurechnen ist, der zwar einen biografisch orientierten Panoramablick über dieses Phänomen erlaubt, doch häufig nicht allzu sehr in die Tiefe geht. Trotz dieses Einwandes handelt es sich um ein lesenswertes und aufschlussreiches Sachbuch. Es schildert ebenso detailliert wie emphatisch die Beweggründe und Hoffnungen der Fahnenflüchtigen Nato-Soldaten und ihr menschliches Scheitern im neuen System, dessen Enge und Antiindividualismus sie allesamt unterschätzt hatten.
Doch der größte Wert dieses Bandes liegt woanders: Peter Köpf ist, vielleicht nur nebenbei, eine eindrucksvolle Darstellung des "autoritären Charakters" der DDR-Behörden gelungen. Er schildert einen paranoiden Sicherheitsapparat, der nicht einmal gegenüber seinen "Freunden" auf das bekannte Stasi-Instrumentarium aus Druck, Denunziation und schikanöser Menschenmanipulation verzichtet und dadurch bei den anfänglich wohlwollenden Neubürgern letztlich jede Loyalität gegenüber dem DDR-Staat abtötet. Diese Unfähigkeit der DDR-Behörden, die Nato-Überläufer an die DDR zu binden und gesellschaftlich zu integrieren, zeigt en miniature jene Rigidität, welche letztlich maßgeblich zum Scheitern des DDR-Staates mit beigetragen hat. Dass Köpf dieses Grundproblem des DDR-Systems anhand einer Darstellung über einen interessanten, aber eigentlich unwesentlichen Seitenaspekt des Kalten Krieges so scharf und anschaulich herausgearbeitet hat, ist sein eigentliches Verdienst.
Zitierweise: Tilman Wickert, Sammelrezension: Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik im Kalten Krieg, in: Deutschland Archiv Online, 17.07.2013, Link: http://www.bpb.de/164109