I.
Die beiden Erweiterungsschübe der Europäischen Union nach Osten von 2004 und 2007 haben die erinnerungskulturellen Gewichtungen im Europa der 27 dramatisch verschoben: Zu den dominierenden Erinnerungsorten "Holocaust" und "Nationalsozialismus" ist auf Drängen der neuen EU-Mitglieder das Gedenken an die Opfer von Verbrechen der Parteidiktaturen sowjetischer Prägung hinzugekommen. Seit 2005 sind daher Parlament, Kommission und Rat bemüht, daraus resultierende Memorialkonflikte zu entschärfen. Dies geschieht zum einen dadurch, dass die osteuropäische Opfererfahrung in Resolutionsform gegossen wird – so etwa in der Entschließung des Europaparlaments zum "Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine" von 2008
Die Kompromissformel des "Totalitarismus" ist unverkennbar ein Erfolg der Parlamentarier der neuen EU-Mitgliedsstaaten, die sich parlamentsintern in einer Intergroup mit der Bezeichnung "Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe's shared history" organisiert haben.
Den "Totalitarismus"-Kompromiss tragen indes zahlreiche Europaabgeordnete vor allem aus den "alten" EU-Mitgliedsstaaten nicht mit, wie er auch bei jenen Beamten der EU-Kommission auf Skepsis stößt, die für die Bewilligung von Fördergeldern für einschlägige Projekte zuständig sind. Die Genfer Politikwissenschaftlerin Annabelle Littoz-Monnet hat daher einen geschichtspolitischen Graben ausgemacht, der die EU durchziehe und diesen mit der Formel "'The Holocaust as Unique' vs. 'Hitler and Stalin as equally Evil'" charakterisiert.
II.
Gleichsam jenseits des Brüsseler Holocaust-Totalitarismus-Grabens initiierte der deutsche Christdemokrat Pöttering in seiner Amtszeit als Parlamentspräsident ein geschichtspolitisches EU-Großprojekt in Form eines Hauses der Europäischen Geschichte (House of European History) in Brüssel.
Anders als verschiedene Parallel- und Konkurrenzunternehmungen auf EU-, auf nationalstaatlicher und auf nicht-staatlicher Ebene, wie etwa das Musée de l'Europe in Brüssel, das Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée in Marseille oder das gescheiterte Bauhaus Europa in Aachen
Terror háza, das "Haus des Terrors", in Budapest (© 704 akg-images/album)
Terror háza, das "Haus des Terrors", in Budapest (© 704 akg-images/album)
Das Haus des Terrors (Terror háza) in Budapest, das seiner Gleichsetzung der Diktaturen der rechtsextremen Pfeilkreuzler 1944/45 und der Stalinisten ab 1945 wegen stark umstritten ist, bezeichnete er als Vorbild für die Brüsseler Museumsneugründung, da dort "auf eindrucksvolle Art […] die zwei blutigen Zeiten in der Geschichte Ungarns, der Faschismus und der Kommunismus, parallel dargestellt werden".
Unter der Leitung des deutschen Museumsmachers Hans-Walter Hütter, seit 2007 Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, legte ein neunköpfiger Sachverständigenausschuss um den polnischen Zeithistoriker Włodzimierz Borodziej und den finnischen Neuzeithistoriker Matti Klinge im September 2008 ein internes Papier zu den konzeptionellen Grundlagen eines solchen Museums vor.
Abgesehen vom nicht eben originellen Bezug auf das EU-Motto "In Vielfalt geeint" und der historisch fragwürdigen Charakterisierung von Kaltem Krieg, Ost-West-Konflikt und nuklearem Wettrüsten als "Friedensphase" ist die Hintanstellung "nationaler oder regionaler Geschichten" zweifelsohne ein ebenso mutiger wie zweckmäßiger Schritt, ebenso wie die Konzentration auf "europäische Phänomene", welche im Weiteren allerdings nicht spezifiziert werden. Auch eine den detaillierten und chronologisch angeordneten "Inhaltlichen Grundlinien der Dauerausstellung" angefügte Liste von "Fragen an die europäische Zukunft" zeugt von Courage: "Wann wird die Erweiterung der EU beendet sein? Kann die Türkei Vollmitglied in der EU werden? […] Warum kann die EU keine wirkliche Begeisterung unter den Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten hervorrufen? Wie kann die EU die strukturelle Schwäche in militärischen Fragen, in der Außenpolitik generell überwinden?"
Mangels zügiger Veröffentlichung des Konzeptionsentwurfs fand keine öffentliche, geschweige denn eine europaweite Diskussion dieses geschichtspolitischen Vorhabens statt. Lediglich in Polen kam es zu einer Debatte über die vorgeblich unzureichende Berücksichtigung der eigenen Nationalgeschichte,
III.
Im Frühjahr 2009 wurden ein 15-köpfiges Kuratorium unter dem Vorsitz Pötterings – mit dem genannten Wojciech Roszkowski aus Polen und dem kommunistischen Europaabgeordneten Francis Wurtz aus Frankreich als stellvertretenden Vorsitzenden – sowie ein aus 14 Mitgliedern bestehender Wissenschaftlicher Beirat unter Führung Włodzimierz Borodziejs berufen und die Eröffnung unter Bezug gleich auf mehrere Jubiläen – 25 Jahre 1989, 75 Jahre 1939 und 100 Jahre 1914 – auf Juli 2014 festgesetzt. Zugleich wurde ein Architektenwettbewerb für eine von der EU erworbene Brüsseler Immobilie, die in unmittelbarer Nähe zum Gebäudekomplex des EU-Parlaments gelegene ehemalige Eastman-Kinderzahnklinik im Léopold-Park, ausgeschrieben.
Bald darauf führte die offensichtlich von oben angeordnete Modifizierung der chronologisch strukturierten Borodziej-Klinge-Konzeption von 2008 in Richtung einer thematischen Gliederung zu Unmut im Beirat. "Mir scheint, als ob die Bürokraten das Konzept beeinflusst und verändert haben", mutmaßte Beiratsmitglied Matti Klinge nach einer Sitzung des Gremiums am 22. Juni 2011.
"1. A process, event or development should have originated in Europe; 2. It should have been spread over Europe at a certain time; 3. It should be still of relevance today."
Und in einer Broschüre des Museums aus dem Jahr 2012 heißt es: "Das Besondere an der Institution Haus der Europäischen Geschichte liegt in dem Bestreben, die europäische Geschichte von einem globalen und transnationalen Gesichtspunkt aus zu betrachten und dabei der Vielfalt dieser Geschichte sowie deren unterschiedlichen Interpretationen und Wahrnehmungen Rechnung zu tragen. Die jüngere Geschichte soll einem breiten Publikum dadurch verständlich gemacht werden, dass sie in einem Zusammenhang mit den vorhergehenden Jahrhunderten gestellt wird, die für die Entwicklung von Ideen und Werten ausschlaggebend waren. Auf diese Weise will das Museum den Bürgerinnen und Bürgern Kenntnisse und Informationen an die Hand geben, um so die Debatte über Europa und die Europäische Union zu fördern."
Parlamentarium in Brüssel (© Herbert Reul MdEP)
Parlamentarium in Brüssel (© Herbert Reul MdEP)
In gewisser Weise typisch für die nach Inhalt und Form wenig koordinierte Geschichtspolitik des EU-Parlaments ist der Umstand, dass mitten in der Konzipierungsphase des Hauses der Europäischen Geschichte im Oktober 2011 mit dem Parlamentarium ein Besucherzentrum im Hauptgebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel eröffnet wurde, dessen Dauerausstellung sowohl einen historischen Vorspann zum Zweiten Weltkrieg als auch einen Durchgang durch die Geschichte von EWG, EG und EU enthält: "Dynamische und interaktive multimediale Darstellungen begleiten unsere Besucher durch die Geschichte der europäischen Integration und zeigen, wie sie unser tägliches Leben beeinflusst."
Aus dem Souvenirshop des Brüsseler Parlamentariums: Euro-Taschentücher (© Invotis BV)
Aus dem Souvenirshop des Brüsseler Parlamentariums: Euro-Taschentücher (© Invotis BV)
Einwegtaschentüchern mit aufgedruckten 50-, 100- und 200-Euro-Scheinen.
IV.
Im Gegensatz zum unterfinanzierten Kommissionsprogramm "Aktive europäische Erinnerung" von 2007, zur Entschließung von 2009 zum "Gewissen Europas und zum Totalitarismus" und zur 2011 gegründeten monothematischen "Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas" wird das Museumsprojekt des EU-Parlamentspräsidiums die Nagelprobe der Konkretisierung, Visualisierung und Kontextualisierung der "EU interpretation of history" in Gestalt musealer Exponate, Bild-Text-Flachware, Audioguides, interaktiver Angebote, Flyer, Kataloge, Website, Veranstaltungsreihen, thematischer Führungen, Sonder- wie Wanderausstellungen und anderem mehr bestehen müssen. Entscheidend dafür, ob eine solche Dauerausstellung zur Europäischen Geschichte gelingt, ist das ihr zugrunde liegende Narrativ. Die Kuratorin hat diesbezüglich die Frage "Do Europeans need the House of European history?" ebenso affirmativ wie selbstreferentiell beantwortet: "Yes, there should be a House of European History, because 'Europe' as a multifaceted idea, that has grown out of a long past and can have a fascinating future, is a great theme to communicate to a broad audience through the means of a modern museum."
Das kann man, eine optimistische Weltsicht vorausgesetzt, so sehen, doch ersetzt dies keine Konzeption. Die Veröffentlichung einer solchen war zwar in überarbeiteter Form für den Sommer 2012 angekündigt, doch war der Beratungsbedarf des Beirates größer als vermutet.
"The first theme […] focuses on the complexity and variety of European history and the forces which have shaped this history and Europe's values. The theme explores how ideas, images, and concepts of Europe – which have developed in terms of geography, culture and politics – have changed over time and space. […] This theme illustrates how history and memory play a constituent role in human life, both on an individual and social basis. […] The first theme also examines notions of a common European heritage and its roots from philosophy, literature, language, lawmaking, statecraft, and religion, and looks at whether there are historical phenomena and traditions which have been important for most or all of Europe. […]
The sixth and final theme of the exhibitions reflects on how the commitment of various generations to the ideal of European unity has transformed the continent over the past half century. […] This theme poses the question as to what the different visions of the future held by today's Europeans are, especially in view of the economic crisis. It also explores the role to be Played by the nation state in the future, looks into how effective regions and municipalities can be in dealing at the same time with diversity and the demand for good governance and considers which issues are best dealt with at a European level."
So auffallend die Ähnlichkeiten mit dem EU-Speak auch sind, so bemerkenswert ist doch die gleichsam selbstverständliche, "im Westen" indes keinesfalls unumstrittene Einbeziehung Russlands und der Sowjetunion in das Narrativ. Neben der Oktoberrevolution von 1917, dem Stalinschen Großen Terror und der Rolle der UdSSR im Kalten Krieg soll auch das Projekt der Schaffung eines "neuen sowjetischen Menschen" dargestellt werden.
2012, zwei Jahre vor der terminierten Eröffnung des Hauses der Europäischen Geschichte, wird über dessen Konzeption also weiter diskutiert. Das ist einerseits gut so, denn das neue Museum steht unter großem Erwartungsdruck und muss Maßstäbe setzen. Dass die Debatte über Ausstellungsstruktur, museale Inhalte und politische Botschaften indes weiterhin hinter verschlossenen Brüsseler Türen stattfindet, steht in krassem Gegensatz zum EU-Mantra eines "Europas der Bürgerinnen und Bürger".