Juliane Lanz: Zwischen Politik, Protokoll und Pragmatismus. Die deutsche Olympiageschichte von 1952 bis 1972, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag 2011, 427 S., € 58,–, ISBN: 9783865736260.
Kay Schiller/Christopher Young: München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen: Wallstein 2012, 397 S., € 29,90, ISBN: 9783835310100.
David Clay Large: Munich 1972. Tragedy, Terror, and Triumph at the Olympic Games, Lanham MD: Rowman & Littlefield, 2012, 372 S., $ 29,95, ISBN: 9780742567399.
Sportliche Großveranstaltungen erreichten mit dem Aufkommen des Fernsehens ein Millionenpublikum. Dies galt besonders für die ohnehin prestigereichen Olympischen Spiele, die seit ihrer Gründung als Politikum ersten Ranges begriffen wurden, ging es hier doch um die Selbstdarstellung der Nationen. So zog der Kalte Krieg naturgemäß auch den Sport in Mitleidenschaft, und dies galt besonders für die Sportbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Während die Bundesrepublik ihren politischen Alleinvertretungsanspruch auch bei den Olympischen Spielen durchzusetzen suchte, ging es der DDR um den Nachweis der vollen Eigenstaatlichkeit auch in diesem Feld.
Zwischen Politik, Protokoll und Pragmatismus
Diese deutsch-deutsche Rivalität zwischen den Spielen von Helsinki 1952 und München 1972 steht im Zentrum der Rostocker Dissertationsschrift von Juliane Lanz. Sie setzt mit dem Neuaufbau im Sportbereich beider deutscher Staaten in vergleichender Perspektive ein. Im Westen wurden die institutionellen Strukturen der Vorkriegszeit wiederbelebt und eine hohe personelle Kontinuität gewährleistet. Dies ging so weit, dass mit Adolf Friedrich Herzog von Mecklenburg-Schwerin und mit Karl Ritter von Halt als Präsidenten des 1949 wiederbelebten "Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland" zwei belastete Führungsfiguren aus der Zeit der Nazidiktatur in die leitenden Positionen aufrückten. Die DDR hingegen distanzierte sich nicht nur vom Erbe des Nazismus, sondern vom bürgerlichen Sportbetrieb überhaupt und hob die antifaschistischen Traditionen des kommunistischen Arbeitersports hervor. Das 1951 in der DDR gegründete NOK verstand sich explizit als Gegengründung zum bundesdeutschen Komitee. Die Autorin zeigt, wie die bundesdeutsche Sportführung, ganz im Einklang mit der Bundesregierung, den Sport als unpolitische Sache definierte, während in der DDR der Leistungssport zum Vehikel wurde, mittels dessen die westdeutsche Hallstein-Doktrin durchbrochen und die internationale Anerkennung des zweiten deutschen Staates erreicht werden sollte.
Auf der 45. Session erkannte das Internationale Olympische Komitee (IOC) 1951 in Lausanne zunächst nur das westdeutsche, nicht das ostdeutsche NOK an, dessen Sportler bei den Olympischen Spielen 1952 somit noch fehlten. Es scheint kaum glaubhaft, ist aber wahr: Die DDR schickte nach Lausanne eine Delegation, in der niemand Englisch sprach, und so unterschrieben die Ostdeutschen das englische Dokument, das zunächst nur ein NOK für Deutschland anerkannte – nämlich das bundesdeutsche. (33) Da in den vom IOC beschlossenen deutsch-deutschen Verhandlungen keine Einigung über das weitere Vorgehen erzielt wurde, kam das Exekutivkomitee des IOC in Paris 1955 zu einem Kompromiss, der für die Olympischen Spiele des folgenden Jahres Ausscheidungswettkämpfe festlegte, in denen die Teilnehmer einer gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft ermittelt wurden. Für die ostdeutsche Republik war dies der erste "Punktsieg" in der internationalen Sportpolitik, da das IOC somit ein eigenständiges NOK der DDR anerkannte.
Nach dem Bau der Berliner Mauer und dem folgenden Abbruch der sportlichen Kontakte von westdeutscher Seite schwand im IOC die Bereitschaft, die Fiktion eines einheitlichen Deutschlands auf sportlicher Ebene aufrechtzuerhalten. So sprachen sich im Oktober 1965 die IOC-Mitglieder auf ihrer Jahrestagung in Madrid mit 44 gegen vier Stimmen für die Aufstellung zweier deutscher Olympiamannschaften aus. Für 1968 sollten beide Mannschaften noch eine gemeinsame Flagge, Schwarz-Rot-Gold mit den Olympischen Ringen, und eine gemeinsame Hymne, Beethovens "Ode an die Freude", behalten, bis das IOC nach den Spielen von Mexiko auch diese symbolische Gemeinsamkeit abschaffte.
Hatte die Bundesrepublik bis 1965 der sich anbahnenden Anerkennung der DDR im sportpolitischen Bereich erbitterten Widerstand entgegengesetzt, so gab sie dann diesen Widerstand, wie Juliane Lanz zeigt, relativ schnell auf. Als Grund benennt sie zu Recht einerseits die angesichts des Leistungsaufschwungs im DDR-Sport drohende deutliche numerische Unterlegenheit der West-Athleten in den gemeinsamen Olympiamannschaften, andererseits die zunehmende Anpassung der bundesdeutschen Politik an die Realitäten. Der Großen Koalition in Bonn (1966) und der Bildung der sozialliberalen Regierung (1969) war ein Generationswechsel im bundesdeutschen Sport vorausgegangen: Die "Kalten Krieger" vom Schlage Karl Ritter von Halts oder Peco Bauwens', des Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), wurden durch pragmatisch denkende Sportpolitiker abgelöst, als deren weitaus profiliertester sich Willi Daume erwies, der sich über politisch kurzsichtige Festlegungen der Bundesregierung gegebenenfalls hinwegzusetzen verstand. Ein dritter Grund war das Bestreben der Bundesrepublik, Olympische Spiele auszurichten, nachdem unter anderem die Bewerbung zur Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 1966 durch das nationalistische, die DDR-Stadien vereinnahmende Auftreten Bauwens' gescheitert und die Box-Europameisterschaft 1965 von Paris nach Ost-Berlin verlegt worden, als den DDR-Sportlern die Einreise nach Frankreich verweigert werden sollte.
München 1972
Kay Schiller/Christopher Young, München 1972 (© Wallstein)
Kay Schiller/Christopher Young, München 1972 (© Wallstein)
Doch Mitte der 1960er-Jahre veränderten sich die sportpolitischen Rahmenbedingungen, und zwar sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik. Bis 1965 konnte die DDR sich international durchaus gegenüber der Bundesrepublik – und zwar trotz des Mauerbaus und der Ausschaltung der innenpolitischen Opposition – als der "bessere" deutsche Staat präsentieren, als der von "unverbesserlichen Altnazis" in der BRD in Schach gehaltene Paria. Spätestens mit der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel ab 1970 war dieses Bild politisch irrelevant geworden. Dessen ungeachtet pflegte die DDR es im Vorfeld der 1966 nach München vergebenen Olympischen Spiele weiterhin, obgleich das Bild zur bloßen Propagandafigur hinabsank. Diese Querelen stehen im Blickpunkt der Arbeit von Kay Schiller und Christopher Young, die zuerst 2010 unter dem Titel "The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany" bei der University of California Press erschienen ist.
Neu an diesem Buch sind die auf Beständen des Bundesarchivs in Koblenz wie des IOC-Archivs in Lausanne beruhenden Erkenntnisse über das Ausmaß der Anstrengungen von Bewerberstadt, Bundesregierung und (anfangs zögernd) der bayerischen Landesregierung, die Spiele nach München zu holen. Die Bundesregierung scheute keine finanziellen Anstrengungen, durch umfangreiche Entwicklungshilfe an Staaten der Dritten Welt deren IOC-Mitglieder zur Stimmabgabe für München zu bewegen. So wurden zum Beispiel Marokko fast 194 Millionen DM an Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt. Gleichfalls interessant zu lesen sind die offiziellen Bemühungen, München als weltoffenes Gegenbild zu den Berliner Spielen von 1936 zu präsentieren, die nunmehr – anders als bisher – in den Mainstream-Medien sehr kritisch gesehen wurden (so wurde übrigens Leni Riefenstahl jede noch so bescheidene Mitwirkung an der künstlerischen Ausgestaltung des Rahmenprogramms versagt, obwohl sie sich sehr darum bemühte). Die Richtlinien in allem, was die künstlerische Gestaltung der Anlagen bis hin zu den Piktogrammen betraf, gab mit Otl Aicher ein Designer vor, der als Jugendlicher zum antifaschistischen Widerstand gehört hatte und zudem mit einer Schwester von Hans und Sophie Scholl verheiratet war. Willi Daume, der NOK-Präsident der Bundesrepublik, verwies auf diese Personalie besonders gern, hoffte er doch, der "Propaganda aus dem Osten" entgegenwirken zu können, die München als Heimstätte von Vertriebenenverbänden und von faschistischen Exilorganisationen wie den Überresten der kroatischen Ustascha sowie als Herberge amerikanischer "imperialistischer Hetzsender" wie Radio Free Europe und Radio Liberty brandmarkte. Hierbei tat sich besonders die DDR hervor, deren Presse sogar forderte, München die Spiele wieder zu entziehen.
Das Missfallen der DDR, die Spiele dennoch beim "Klassenfeind" ausgerichtet zu sehen, stellen die Autoren in den Kontext der unter Erich Honecker betriebenen Politik der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik. Die DDR-Doktrin der zwei getrennten Nationen stand gegen das von Willy Brandt entworfene Bild von den zwei Staaten bei Fortbestand einer deutschen Nation. Somit gebar die politische Lage ein Paradox: Ungeachtet ihres sportpolitischen Erfolges geriet die DDR politisch insgesamt in die Defensive, und dies zu einem Zeitpunkt, als sie durch ihre zentralistische Sportpolitik (und das einsetzende Doping) einen fulminanten Aufstieg zum "Sportwunderland" verzeichnen konnte. Angesichts einer veränderten internationalen Lage und gegenüber einer sich rapide modernisierenden Bundesrepublik, deren Kanzler Willy Brandt nunmehr ein früherer Hitlergegner war, griffen die alten DDR-Klischees nicht mehr.
Munich 1972
David Clay Large, Munich 1972 (© Rowman & Littlefield)
David Clay Large, Munich 1972 (© Rowman & Littlefield)
Nehmen die deutsch-deutschen Kontakte und Konflikte bei Kay Schiller und Christopher Young breiten Raum ein, so greift David Clay Large weiter aus: Er behandelt im Detail die konzertierte Aktion afrikanischer Staaten, durch eine Boykottdrohung das von einem weißen Rassistenregime regierte Rhodesien von den Spielen in München auszuschließen – eine Drohung, der sich das IOC letztlich beugte – wie auch Spannungen innerhalb des US-amerikanischen Olympiateams und darüber hinaus: Amerikanische Stellen waren besorgt, dass schwarze US-Soldaten, die im Raum München stationiert waren, eventuell gegen die offiziell beendete, faktisch aber noch fortbestehende Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen in den Vereinigten Staaten protestieren könnten. Dies geschah schließlich nicht, und einzelne Protestaktionen schwarzer Sportler erreichten bei Weitem nicht die Wirkung wie vier Jahre zuvor in Mexiko. Auch der Vietnamkrieg warf seine Schatten auf die Spiele; die am Rande der Veranstaltungen sichtbaren Proteste gegen die brutale amerikanische Kriegsführung blieben jedoch in ihrer Wirkung begrenzter, als es US-Stellen vorher befürchtet hatten. Schließlich erwähnt Large das groteske Tauziehen um die Flaggenträgerin des US-Teams bei der Eröffnungsfeier: Die Diskuswerferin Olga Connolly durfte die Flagge erst ins Stadion tragen, nachdem massive Widerstände konservativer Publizisten beiseite geräumt waren, galt sie doch als ausgewiesene Linke und entschiedene Gegnerin des Vietnamkrieges. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten wollten jedoch aus diesem Fall kein Kapital schlagen, hatte die Sportlerin doch anderthalb Jahrzehnte zuvor ihre Heimat, die Tschechoslowakei, nicht nur der Liebe zu ihrem US-Kollegen Harold Connolly wegen verlassen, sondern auch, weil sie diesen Sozialismus Moskauer Prägung nicht wollte.
Das alles überschattende Ereignis, mit dem die Münchner Spiele dauerhaft verbunden bleiben, war die Geiselnahme und Ermordung israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen der Organisation "Schwarzer September". Sowohl Schiller und Young als auch Large widmen dem bedrückenden Ereignis breiten Raum, wobei letzterer den amerikanischen Reaktionen einen stärkeren Platz einräumt. George McGovern, demokratischer Herausforderer von US-Präsident Richard Nixon bei den anstehenden Wahlen, forderte einen Rückzug der US-Olympiamannschaft von den Spielen, was dieser mit sicherem Gespür für die amerikanische Mehrheitsmeinung ablehnte. Das unbeholfene Vorgehen der deutschen Sicherheitskräfte stieß auf scharfe Kritik in Israel, wo verschiedene Stimmen daran erinnerten, dass die Generation der einstigen Nazijugendführer heute die Verantwortung für die Sicherheit der Olympiagäste trage, der sie nur ungenügend nachgekommen sei. Während die bundesdeutsche Seite dazu neigte, den Terroristen nachzugeben, die die Freilassung arabischer Gefangener in Israel (und der beiden RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof) forderten, lehnte Israel dies strikt ab: "Wenn wir nachgeben, wird sich kein Israeli irgendwo auf der Welt noch seines Lebens sicher fühlen", erklärte Premierministerin Golda Meir. (211) Drei Geiselnehmer konnten festgenommen werden. Sie wurden jedoch wenige Wochen später durch die Entführung einer Lufthansa-Maschine freigepresst. Einer der Drahtzieher hielt sich Jahre später zeitweilig in der DDR auf. In deren Presse war 1972 von "Freischärlern", nicht von Terroristen die Rede, die Berichterstattung ließ indes, anders als Large schreibt, keine "Schadenfreude" zu. Vielmehr wurde der "Terrorangriff" als solcher bezeichnet, wie bei Large ebenfalls nachzulesen ist. Die ostdeutschen Kommentare ließen allerdings durchblicken, dass im Osten ein solcher Überfall nicht denkbar gewesen wäre. Die DDR sah in der Besetzung der von Israel 1967 eroberten Gebiete die Ursache für den Terrorismus, ohne die endemische Feindschaft arabischer Kräfte gegen die Existenz des jüdischen Staates zu erwähnen. (235) Mark Spitz, siebenfacher Olympiasieger im Schwimmen, wurde nach dem Überfall und dem Ende seiner Wettkämpfe unter Sicherheitsvorkehrungen nach London ausgeflogen, worüber damals begreiflicher Weise nicht berichtet wurde.
Bei Large findet sich eine ausführliche Schilderung der Wettkämpfe. Er zeigt die Konfusion in der Vorbereitung amerikanischer Athleten, die im versäumten Antreten zweier Hundertmeterläufer ihren grotesken Tiefpunkt erreichte, ebenso wie das unfaire Verhalten des im Basketballfinale der UdSSR unterlegenen amerikanischen Teams. Sowjetische, nicht amerikanische Leichtathleten wurden zu Stars der Spiele: Waleri Borsow, Nikolaj Awilow, Ljudmila Bragina oder Faina Melnik. Die packenden Duelle ost- und westdeutscher Sprinterinnen setzten Glanzlichter. Die Olympiasieger Renate Stecher, Ruth Fuchs und Wolfgang Nordwig, alle aus Jena, zeigten, dass in der thüringischen Stadt nicht nur universitäre Gelehrsamkeit und optische Industrie zu Hause waren. Die von einigen Kampfrichtern benachteiligte sowjetische Turnerin Olga Korbut, aber auch ihre DDR-Konkurrentinnen Karin Janz und Erika Zuchold wurden von einem fairen Publikum gefeiert, aus dessen Köpfen mancher Stereotyp des Kalten Krieges schon verschwunden war. Natürlich erwähnt auch Large das Duell der Speerwurf-Recken Klaus Wolfermann und Jānis Lūsis, das der Westdeutsche mit zwei Zentimetern Vorsprung vor dem Letten gewann. Beide Konkurrenten schlossen eine Freundschaft fürs Leben – ungeachtet aller von sowjetischer Seite aufgetürmten Hindernisse.
Sowohl Schiller und Young als auch Large setzen sich kritisch mit der Rolle von IOC-Präsident Avery Brundage auseinander, der, anders als die westdeutschen Gastgeber, durchaus positiv Bezug auf die Olympischen Spiele von 1936 nahm. Seiner Entscheidung, die Münchner Spiele fortzusetzen, kann aber auch im Nachhinein kaum widersprochen werden. Sie abzubrechen, hätte eine noch größere Selbstbestätigung für den organisierten Terrorismus bedeutet. Large diskutiert schließlich, und dies zu Recht, eine damals verschwiegene Seite aus der Biografie Willi Daumes, nämlich seine Mitwirkung an der Ausbeutung von Zwangsarbeitern im besetzten Belgien ab 1940 sowie seine Spitzeldienste für den "Sicherheitsdienst" (SD) der SS. So bündelten die Münchner Spiele und ihre Vorgeschichte wie in einem Brennglas fast alle politischen Fragen ihrer Zeit. Die drei hier vorgestellten Bücher zeigen dies in vorbildlicher Weise auf.