I. Das Ereignis
Am 7. September 1987 wurde der SED-Generalsekretär Erich Honecker mit allen protokollarischen Ehren eines Staatsbesuchers in Bonn von Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem Arbeitsbesuch – so die offizielle Bezeichnung – empfangen. Es schien, als hätte die Bundesrepublik die Existenz des zweiten deutschen Staates endgültig anerkannt. Die Teilung des Landes schien die Lösung der deutschen Frage zu sein und die Bundesregierung sich endlich dieser Realität zu beugen. Nicht nur beschwor Honecker während seines Besuchs immer wieder die Existenz zweier unabhängiger souveräner Staaten in Deutschland, die Fernsehbilder vermittelten Anerkennung auf Augenhöhe, unterstrichen durch die Gespräche mit der politischen Prominenz der Bundesrepublik, die der Staatsgast führte.
Die Analyse des einzigen Staatsbesuchs eines SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden in der Bundesrepublik zeigt im Rückblick eine Kreuzung zwischen Gegenwart und naher Zukunft, medial wurde deutsche Zweistaatlichkeit zelebriert, während sich untergründig bereits die Umrisse einer neuen Konstellation der internationalen Politik abzuzeichnen begannen, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen sollte.
II. Der Wunsch eines russischen Dichters
1986 störte der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko die Ruhe des SED-Generalsekretärs, er wünschte den Deutschen die Wiedervereinigung: "Ich denke, daß dieses große deutsche Volk, aus dem heraus so große Philosophie, Musik und Literatur entstanden ist, daß dieses in Zukunft wiedervereinigt werden muß. Aber es braucht Zeit. Es hängt von der Atmosphäre ab, von der globalen Atmosphäre."
Wenige Wochen später war der Wunsch Jewtuschenkos und die in West-Berlin vertretene These seines Kollegen Andrej Wosnessenski, "die Schriftsteller seien das Gewissen der Nation",
Schon 1986 versuchte Honecker in Moskau, die DDR vor den Folgen von Gorbatschows Reformpolitik abzuschirmen. Seine Beunruhigung durch die Worte russischer Dichter, die von einer deutschen Literatur sprachen und die Wiedervereinigung des deutschen Volkes wünschten, war begründet, wie sich 1989 zeigen sollte. Das Ende der SED-Diktatur begann mit der Durchsetzung der freien Rede in der DDR durch ihre Bürger.
III. Moskau: Wir werden Bonn nicht Honecker überlassen!
Wenige Tage vor seinem Gespräch mit Honecker hatte Gorbatschow selbst die Fragen der sowjetischen Deutschlandpolitik im Kreml aufgeworfen: "Die BRD ist an Beziehungen zu Osteuropa interessiert. Wir sind dafür. Doch wir sehen die Absichten. Honecker krümmt sich, wenn wir ihm 'die Mauer' ins Gedächtnis rufen. Besser müssen wir mit mehr Takt darüber sprechen – über die Prozesse, die unausweichlich sind. […] Selbst werden wir die Frage des Besuchs Honeckers in der BRD nicht auf[werfen]. Alle sozialistischen Länder sind verwundbar – wir können Sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, d.h. auf Kosten des Sozialismus."
Ende Januar 1987 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl zum zweiten Mal die Bundestagswahlen gewonnen. Wenige Tage später ließ Gorbatschow seinen Gedanken über Deutschland und die Zukunft der DDR – noch vor der Einladung des Bundeskanzlers an den SED-Generalsekretär – eine Direktive zur Deutschlandpolitik folgen: "An [den sowjetischen Botschafter in Bonn Julij] Kwizinskij – Besuch [des Bundespräsidenten Richard von] Weizsäckers in Moskau sicherstellen. Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Keine Eile, mit den Deutschen auf Regierungsebene überzugehen. 2. An Außenministerium und [den Leiter der Internationalen Abteilung des KPdSU-Zentralkomitees Andrej] Dobrynin – analytischen Bericht und Vorschläge zur BRD vorbereiten. 'BRD nicht Honecker überlassen!' Schewardnadse – in die BRD reisen. Material für mein Interview mit dem 'Spiegel' aktualisieren. […] Es ist Zeit, die BRD aktiver anzugehen, damit Margo [Margaret Thatcher] nicht vor Vergnügen platzt."
Der Bundeskanzler griff in seiner Regierungserklärung im März Gorbatschows Wort "vom 'Neuen Denken' in den internationalen Beziehungen auf" und erklärte seine Bereitschaft "zur verstärkten Zusammenarbeit 'auf allen Ebenen' in den deutsch-sowjetischen Beziehungen, denen [er] eine 'zentrale Bedeutung' für die künftige Außenpolitik zumaß."
SED-Politbüromitglied Günter Schabowski meint, dass Honecker seinen eigenen Rang "in der Hierarchie der kommunistischen Partei- und Staatsführer an seiner Rolle als BRD-Spezialist" bemaß;
Moskau überließ Honecker in Bonn nicht den Vortritt.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (r.) wird am 7. Juli 1987 von KPdSU-Chef Michail Gorbatschow (3.v.l.) im Katharinensaal des Kreml zu einem Gespräch empfangen; links der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse. Im Mittelpunkt stehen Abrüstungsfragen, die Europapolitik im West-Ost-Gefüge sowie die Situation des kurz zuvor in Moskau gelandeten Sportfliegers Matthias Rust. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00079196; Foto: Engelbert Reineke)
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (r.) wird am 7. Juli 1987 von KPdSU-Chef Michail Gorbatschow (3.v.l.) im Katharinensaal des Kreml zu einem Gespräch empfangen; links der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse. Im Mittelpunkt stehen Abrüstungsfragen, die Europapolitik im West-Ost-Gefüge sowie die Situation des kurz zuvor in Moskau gelandeten Sportfliegers Matthias Rust. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00079196; Foto: Engelbert Reineke)
Noch bevor dieser dort den roten Teppich betrat, empfing der Kreml den Bundespräsidenten zum Staatsbesuch. Gorbatschow ließ durch Richard von Weizsäcker dem Bundeskanzler ausrichten: "Bei uns in der sowjetischen Führung ist das Gefühl herangereift, es sei unerlässlich, die Beziehung zwischen der UdSSR und der BRD zu überdenken und sie durch gemeinsame Anstrengungen auf ein neues Niveau zu heben. Wir sind dazu bereit aber dafür ist es nötig, sich von Komplexen, politischen Mythen und von einem Feindbild in Gestalt der Sowjetunion zu befreien."
Die Überlegungen über das neue Denken in der sowjetischen Deutschlandpolitik verband der Generalsekretär mit dem Rückgriff auf die Geschichte. Er erinnerte an Rapallo: 65 Jahre zuvor hatte Deutschland mit der jungen Sowjetunion am Genfer See einen Vertrag über Zusammenarbeit abgeschlossen. Gorbatschow behauptete, dass sich die Deutschen daran erinnerten und dass das Ereignis die Westmächte bis heute "quäle". Gorbatschow war sich dessen bewusst, dass eine Wiederholung von Rapallo nicht möglich sei, da man in einer anderen Zeit lebe. Trotzdem wählte er diese Analogie; sie besagte im Kontext der damaligen Diskussion: "Das ist die Realität, die Zusammenarbeit mit der BRD ist möglich."
IV. Honeckers langer Weg nach Bonn
Im Dezember 1981 war Bundeskanzler Helmut Schmidt zu einem deutsch-deutschen Gipfeltreffen in die DDR gereist. Dort hatte er am 13. Dezember 1981 den SED-Generalsekretär Honecker zum Gegenbesuch nach Bonn eingeladen. Es war ein symbolträchtiger Tag: In Polen wurde das Kriegsrecht verhängt, Solidarność verboten, und die SED hatte das mecklenburgische
Die andere Seite "deutscher Normalität": Volkspolizisten riegeln am 13. Dezember 1981 die Straßen Güstrows während des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der mecklenburgischen Kleinstadt ab. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00100469, Foto: Klaus Lehnartz)
Die andere Seite "deutscher Normalität": Volkspolizisten riegeln am 13. Dezember 1981 die Straßen Güstrows während des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der mecklenburgischen Kleinstadt ab. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00100469, Foto: Klaus Lehnartz)
Güstrow in eine belagerte Stadt verwandelt, als Schmidt dort den Dom besuchte.
Bis 1986 blockierte Moskau den Besuch Honeckers in Bonn. Die Einsprüche gegen Honeckers Reisepläne hingen sowohl mit der sowjetischen Interessenlage in der Blockkonfrontation als auch mit der Politik der Regierungen Schmidt und Kohl in der Raketenkrise zusammen. So vergingen fast sechs Jahre, bis Honecker der Einladung zum Gegenbesuch in Bonn folgen konnte. Der Blick auf die Chronik dieser aufhaltsamen Reise vermittelt einen Eindruck von den komplexen Realitäten der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, ihrer jeweiligen Blockloyalität in der Raketenkrise und der Deutschlandpolitik der Sowjetunion.
1. Die Wirtschaftsbeziehungen als Achse innerdeutscher Gemeinsamkeiten
Nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1972 wurden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten das Feld ihrer operativen Deutschlandpolitik. Der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit der DDR und der Transferzahlungen an sie nach Abschluss des Grundlagenvertrages beruhte seitens der Bundesregierung auf dem politisch begründeten Tausch von D-Mark gegen humanitäre Zugeständnisse der DDR an ihre Menschen. Auch die Transferzahlungen der westdeutschen Kirchen an die in der DDR waren Teil dieser deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Diese sollten dem Zusammenhalt der geteilten Nation dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, galt es einen Weg zu finden, mit dem ökonomische und verkehrstechnische Fragen mit humanitären Problemen durch Geheimdiplomatie so verknüpft wurden, ohne dass dabei ein öffentliches Junktim zwischen beiden Komplexen hergestellt wurde.
Der "Devisenbeschaffer" der DDR Alexander Schalck-Golodkowski traf den Kern der Sache, wenn er schrieb: "Zwischen 1974 und 1982 trafen die beiden deutschen Staaten zahlreiche Vereinbarungen, die die Beziehungen merklich intensivierten. […] Diese 'Politik der kleinen Schritte' – das waren von heute aus betrachtet Schritte in Richtung Wiedervereinigung."
Die deutsch-deutschen Annäherungen auf ökonomischem Gebiet blieben in Moskau nicht unbemerkt und wurden argwöhnisch dahingehend beobachtet, ob daraus nicht eine politische Kooperation erwüchse, die aus Sicht des Kreml unerwünscht war.
2. Die innerdeutschen Beziehungen in der Raketenkrise
Weltpolitisch waren die Jahre zwischen 1979 und 1985 gekennzeichnet durch wechselseitige Aufrüstung und Konfrontation zwischen West und Ost. Die Raketenkrise begann Mitte der 70er-Jahre, als die Sowjetunion damit anfing, eine neue Generation von Mittelstreckenraketen, die SS-20, zu stationieren. Deren Reichweite von 4.000 Kilometern bedrohte Westeuropa, aber nicht die USA. Bundeskanzler Schmidt gehörte in der NATO zu jenen Politikern, die auf Gegenmaßnahmen drängten. Das Bündnis einigte auf sich 1979 auf einen Doppelbeschluss: Zunächst sollte versucht werden, in Verhandlungen der USA mit der Sowjetunion die Stationierung der SS-20 rückgängig zu machen. Sollte dies nicht gelingen, würde die NATO ihrerseits auch in der Bundesrepublik amerikanische Pershing-Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missiles) stationieren. Die SPD verweigerte jedoch ihrem Kanzler in der Sicherheitspolitik die Gefolgschaft. Auch an der Frage der Bündnisloyalität zerbrach deshalb 1982 die sozial-liberale Koalition.
Helmut Kohl folgte Schmidt als Bundeskanzler. Die Koalition von CDU/CSU und FDP setzte dessen Sicherheitspolitik fort. Die SPD kündigte dagegen auf ihrem Kölner Parteitag 1983, wenige Wochen bevor der Bundestag über die Stationierung amerikanischer Raketen entscheiden sollte, den NATO-Doppelbeschluss auf.
Altbundeskanzler Helmut Schmidt auf dem SPD-Bundesparteitag am 19. November 1983 in Köln; neben ihm sein Amtsvorgänger, der SPD-Vorsitzende Willy Brandt (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F066927-0015; Foto: Ludwig Wegmann)
Altbundeskanzler Helmut Schmidt auf dem SPD-Bundesparteitag am 19. November 1983 in Köln; neben ihm sein Amtsvorgänger, der SPD-Vorsitzende Willy Brandt (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F066927-0015; Foto: Ludwig Wegmann)
Schmidt, in seiner Partei bereits in der Minderheit, begründete vor den Delegierten, warum nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über die SS 20-Vorrüstung die amerikanischen Pershing-Raketen in der Bundesrepublik stationiert werden müssten. Zwei zentrale Stichworte bestimmten seine Argumentation – Bündnisloyalität und politisches Gleichgewicht: "Die Bundesrepublik Deutschland muß ihr Wort halten […]. Unsere eigenen Vorstellungen von der nötigen Gesamtstrategie des Bündnisses – und d. h. auch unser Wunsch nach Fortentwicklung unserer Ostpolitik – machen Solidarität und Kohärenz innerhalb der Allianz zu einem überragenden Gebot. Mein zweiter Grund: das politische Gleichgewicht würde nachhaltig gestört werden, wenn sich die Sowjetunion mit ihrer einseitigen, unprovozierten Hochrüstung durchsetzte; eine tiefe Krise der Allianz würde unvermeidlich eintreten."
Diese rationalen außenpolitischen Gründe ließ die Mehrheit der Delegierten nicht gelten, sie wollte sich mit der Friedensbewegung gegen die NATO-Raketen solidarisieren. Das zentrale Motiv für diese emotionale oder moralische Ablehnung der westlichen Sicherheitspolitik war für Schmidt Angst. Sie hatte ihre Wurzeln in der Teilung des Landes und dem "Fehlen nationaler Identität." Er zitierte Verse aus Heinrich Heines "Wintermärchen" über die "Hegemonie" der Deutschen im "Luftreich des Traums", um vor allem die friedensbewegten Nachgeborenen vor einem neuen deutschen Sonderweg zu warnen: "Wenn wir Deutschen es noch einmal dahin brächten, für unberechenbar, für unzuverlässig angesehen zu werden, dann würde es für uns Deutsche wirklich gefährlich."
Für seinen Amtsnachfolger war die Stationierung amerikanischer Raketen eine Frage der Selbstbehauptung der Bundesrepublik: "Schließlich ging es im entscheidenden Kern um die Frage, ob die Bundesrepublik willens und fähig war, sich mit ihren Verbündeten einem Vormachtanspruch der Sowjetunion entgegenzustellen oder nicht. Die außenpolitische Orientierung unseres Landes stand auf dem Spiel."
Die Regierung Kohl war willens und fähig, die Stationierung der der amerikanischen Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik gegen den Widerspruch von SPD, Grünen und der außerparlamentarischen Friedensbewegung durchzusetzen. Damit handelte sie als verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten in der NATO und verhinderte die Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Europa zu Gunsten der Sowjetunion. Für den Bundeskanzler Kohl war die Parlamentsentscheidung für die NATO-Nachrüstung "die Schicksalsstunde Deutschlands. Wäre die Nachrüstung gekippt, hätte die Entwicklung einen ganz anderen Verlauf genommen."
In dieser Phase der Konfrontation verlangte Moskau von der SED Bündnistreue und eine konfrontative Politik gegen die NATO-Nachrüstung in der Bundesrepublik. So handelte die SED auch. Sie förderte nach Kräften über die DKP die außerparlamentarische Friedensbewegung gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik
Trotzdem geriet die SED-Führung in einen Zielkonflikt. Politisch agierte sie in der Raketenkrise auf der mit der KPdSU abgestimmten Linie, gleichzeitig wurden aber die Transferzahlungen aus Westdeutschland für die SED immer wichtiger angesichts ihrer Verschuldung im Westen. Obendrein hatte die Sowjetunion 1981 die Erdöllieferungen an die DDR drastisch gekürzt und gewährte ihr auch keine Kredite mehr. 1982 kam eine Studie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zur Verschuldung der DDR im westlichen Ausland zu dem Ergebnis, dass "für die DDR die reale Gefahr des kurzfristigen Eintritts der Zahlungsunfähigkeit gegen dem NSW gegeben ist".
Trotz der wirtschaftlichen Zwangslage und trotz der erneuten Einladung von Schmidts Amtsnachfolger Kohl nach dem Regierungswechsel in Bonn im Herbst 1982 konnte Honecker dieser Einladung nicht folgen. Das Jahr 1983 war der Höhepunkt der Raketenkrise.
3. 1983: Milliardenkredit an die DDR
Die Finanznot der DDR war groß; in dieser Situation kam für Honecker unerwartete Hilfe aus München. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, für die Kommunisten und viele innenpolitische Gegner die propagandistische Symbolfigur eines kalten Kriegers und Antikommunisten, überraschte die politischen Gegner und die eigenen Anhänger während der Raketenkrise mit einer ungewöhnlichen, deutschlandpolitischen Aktion.
Treffen des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (l) mit Staats- und Parteichef Erich Honecker auf Schloss Hubertusstock bei Berlin am 24. Juli 1983 (© picture-alliance, dpa)
Treffen des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (l) mit Staats- und Parteichef Erich Honecker auf Schloss Hubertusstock bei Berlin am 24. Juli 1983 (© picture-alliance, dpa)
Er organisierte in Absprache mit dem Bundeskanzler einen Milliardenkredit für die DDR und half damit die drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, zumal 1984 ein weiterer Kredit in dieser Höhe folgte.
Kein offizielles Junktim, aber ein Deal: "Honecker kam Strauß entgegen – freundlichere Grenzkontrollen, Kinder bis zu 14 Jahren sollten [beim Besuch aus der Bundesrepublik in der DDR] vom Mindestumtausch befreit werden. Und er teilte persönlich und streng vertraulich mit, dass er sich ernsthafte Gedanken mache, die 'Selbstschussautomaten' abbauen zu lassen und zu einer üblichen Grenzsicherung überzugehen. All dies selbstverständlich nur unter der Zusicherungen von Verschwiegenheit – vor allem gegenüber der Presse."
4. 1984: Der verbotene Besuch
Die amerikanischen Mittelstreckenraketen wurden in der Bundesrepublik stationiert, die Sowjetunion hatte ihren Raketenpoker verloren. Durch die amerikanischen Waffen hatte sich aber die sicherheitspolitische Bedeutung der Bundesrepublik für die Sowjetunion grundlegend geändert, sie war zu einer mittelbaren Bedrohung geworden. Sollte es zum Krieg kommen, würden die Pershing-Raketen innerhalb von Minuten in Moskau einschlagen, es gab praktisch keine Vorwarnzeiten. Diese potentielle Bedrohung aus der Bundesrepublik sollte sich erst 1987 durch den INF-Vertrag über den Abzug der amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen aus Europa ändern.
Nach der Entscheidung des Bundestages über die Stationierung der Pershing-Raketen bot der Bundeskanzler in einem Schreiben an Honecker die Fortsetzung des innerdeutschen Dialogs an: "Die beiden Staaten in Deutschland stehen in ihren Beziehungen zwischen West und Ost zueinander in einer Verantwortungsgemeinschaft vor Europa und vor dem deutschen Volk. Beide können gerade in schwierigen Zeiten des West-Ost-Verhältnisses einen wichtigen Beitrag für Stabilität und Frieden in Europa leisten, wenn sie aufeinander zugehen und das jetzt Machbare an Zusammenarbeit voranbringen."
Bevor Honecker die Einladung annehmen konnte, traf er sich im August mit der sowjetischen Führung in Moskau. Häber verfasste für Honecker das Positionspapier für das Treffen. Es war ein Plädoyer für die Fortsetzung der Politik des Dialogs mit der Bundesrepublik. Das Papier unterstrich eingangs, in der SED habe es niemals "Illusionen über den Charakter der BRD, über das Wesen und die Ziele ihrer Politik" gegeben. Nach dieser Feststellung ging es dann um die Ziele der Deutschlandpolitik der SED: "Angesichts der Notwendigkeit, alles zu tun, um die Welt vor einer nuklearen Katastrophe zu bewahren und die von den USA betriebene Politik der Konfrontation zu durchkreuzen, gehen wir in unserer konkreten Situation davon aus, gegenüber der BRD eine Politik zu entwickeln,
- die in unserem Land von den Volksmassen verstanden und unterstützt wird;
- die von einer möglichst großen Zahl der Bürger der BRD mehr und mehr verstanden und akzeptiert wird;
- die Kräfte des Friedens und der Opposition in der BRD nicht in Resignation verfallen lässt, sondern zum Kampf mobilisiert;
- die es der Kohl-Regierung erschwert, ein guter und aktiver Verbündeter der Reagan-Regierung zu sein."
Die SED sehe durchaus, dass es weiterhin in der Bundesrepublik revanchistische Kräfte in der Politik und den Medien gebe, aber die Zahl der Bürger wachse, die in der DDR einen "selbstständigen deutschen Staat sehen, mit dem man normal auskommen muß. Dieser Teil ist im Wachsen begriffen und vor allem viele Jugendliche denken so. […] Damit ist, ohne es zu überschätzen, ein politisches Kapital entstanden, das wir nicht verschenken oder gar jetzt dem Einfluss des Feindes überlassen dürfen. Wir müssen es vergrößern." Im Sinne dieser Politik hielt das SED Politbüro den Besuch Honeckers in Bonn für nützlich, um öffentlich die "konstruktiven Vorschläge der UdSSR und der anderen sozialistischen Staaten zur Verhinderung eines Atomkriegs, zum Stopp der Raketenrüstung und dem Abbau der bereits stationierten Systeme" zu propagieren.
In Moskau dagegen löste diese Konzeption innerdeutscher Annäherung unter dem 'Banner des Kampfes um den Frieden', Misstrauen und Ablehnung aus. Die SED wollte offenbar um die Akzeptanz der DDR in der Bundesrepublik werben, als wichtige Voraussetzung für die Sicherung ihrer dauerhaften Herrschaft – unabhängig von der Existenzgarantie durch die Sowjetunion.
Das Gipfeltreffen in Moskau vernichtete Honeckers Reisepläne. Nicht Kooperation, sondern Abgrenzung forderte KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko von seinem Gast: "Die Lage selbst, die Positionen Bonns diktieren die Notwendigkeit der Linie der Abgrenzung."
Innerhalb der SED hatte dieses Treffen auch personelle Konsequenzen, Herbert Häber, Honeckers Beauftragter für die engen Verbindungen zu westdeutschen Politikern aller Parteien, verlor seinen Sitz im Politbüro und alle Funktionen. Er war das Bauernopfer und Schalk-Golodkowski sein Erbe.
VI. Honeckers Triumph und Kohls Kalkül
1. 1986: Gorbatschows Veto
Als Gorbatschow 1985 sein Amt als neuer Generalsekretär des ZK der KPdSU antrat, hoffte Honecker, dass er nun seine Reise nach Bonn antreten könne. Darüber kam es im Anschluss an den XI. Parteitag der SED im April 1986 zwischen Gorbatschow und Honecker zu einer Kontroverse in Ost-Berlin. Der Gast aus Moskau wiederholte die Argumente seines Amtsvorgänger Tschernenko von 1984 und fragte abschließend: "Was soll ich meinen Volk sagen, Erich, wenn du in dieser Situation die Bundesrepublik besuchst?" Der Angesprochene erwiderte: "Und was sagen wir unserem Volk, das in tiefer Sorge um den Frieden ist und deshalb will, dass ich diese Reise unternehme?"
Erst im Herbst 1986 soll ZK-Sekretär Vadim Medwedjew die persönliche Botschaft Gorbatschows an Honecker übermittelt haben, er wolle sich mit ihm über einen Termin seiner Reise nach Bonn einigen.
2. Die Einladung
Nach der gewonnenen Bundestagswahl 1987 wurde Bundeskanzler Kohl in der Deutschlandpolitik initiativ, er wiederholte seine Einladung an den SED-Generalsekretär. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) überbrachte die Einladung zum Arbeitsbesuch Honecker persönlich.
Für den Bundeskanzler war noch offen, ob Gorbatschows Reformen und sein "Neues Denken" von Dauer sein würden; es galt also das Zeitfenster zu nutzen, um innerdeutsche Verkehrsprojekte und Verbesserungen im Reiseverkehr mit der DDR zu vereinbaren und dazu den Arbeitsbesuch Honeckers zu nutzen. In seinen Memoiren schreibt Kohl: "Für mich war die Entwicklung des Reiseverkehrs von zentraler Bedeutung für die Beziehungen zur DDR. Ein freier und reibungsloser Reiseverkehr war ein elementares Anliegen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands und stärkte die Zusammengehörigkeit und das Bewusstsein für die Einheit der Nation. Insofern ist 'Reisefreiheit' weniger im touristischen Sinn, sondern im Sinne des Zusammenhalts der Nation gemeint. Im Reiseverkehr hatten wir in den letzten Jahren die größten Fortschritte erzielt: zusätzlich zu den eine Million Besuchern im Rentenalter kamen 1987 rund eine Million der jungen Generation in die Bundesrepublik – fast alles Menschen, die noch nie im ihrem Leben in der Bundesrepublik waren. Was damit bewegt wurde, war mittel- und langfristig überhaupt nicht abzusehen."
Schon seit 1959 gewährte die Bundesregierung Besuchern aus der DDR eine Bargeldhilfe als "Begrüßungsgeld", um damit deren "unzulängliche Devisenausstattung" von 15 DM pro Jahr aufzubessern und die privaten Solidarleistungen zu ergänzen.
3. Die doppelte Nulllösung bei den Mittelstreckenraketen
Gipfeltreffen von KPdSU-Chef Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan am 11. Oktober 1986 in Reykjavik (© ddp/AP, Scott Steward)
Gipfeltreffen von KPdSU-Chef Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan am 11. Oktober 1986 in Reykjavik (© ddp/AP, Scott Steward)
1986 trafen sich US-Präsident Ronald Reagan und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in der isländischen Hauptstadt Reykjavik und verständigten sich grundsätzlich auf die Halbierung der strategischen Atomwaffen und auf den Abbau ihrer Mittelstreckenraketen in Europa. Der Ost-West-Konflikt stand an einem Wendepunkt. Gegenüber dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel begrüßte der SED-Generalsekretär Erich Honecker diese Einigung.
Im Sommer 1987 traten die INF-Verhandlungen in Genf in ihre entscheidende Phase. Um zu einem Durchbruch beizutragen war die Bundesregierung bereit, auf die Modernisierung ihrer eigenen Raketen mit einer Reichweite unterhalb von 500 Kilometern zu verzichten, wenn der Zeitpunkt für den Abzug der sowjetischen Systeme, die in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR stationiert waren und die Bundesrepublik unmittelbar bedrohten, ebenso feststand wie der Abzug der amerikanischen Mittelstreckenraketen aus der Bundesrepublik. Dieser Schritt hatte eine positive Wirkung, "die sich nicht vorhersehen ließ", so Kohl, und die betraf dessen Verhältnis zu Gorbatschow.
Die beiden Weltmächte einigten sich auf den Abbau ihrer Mittelstreckenraketen in Europa und damit näherte sich der Ost-West-Konflikt seinem Ende. Während der INF-Verhandlungen besuchte Reagan Berlin und forderte vor der Mauer am Brandenburger Tor Gorbatschow auf, die Mauer niederzureißen. Damit erinnerte der Präsident an ein noch offenes Problem des europäischen Friedens – jenseits der Raketen.
4. Honeckers Triumph
Das deutsch-deutsche Gipfeltreffen fand weltweit Aufmerksamkeit, über 2.000 Journalisten berichteten aus Bonn. Nach dem protokollarischen Empfang, wie er für ein Staatsoberhaupt vorgesehen ist, wurde der SED-Generalsekretär vom Bundespräsidenten empfangen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Gespräch mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im Garten der Villa Hammerschmidt in Bonn, 7. September 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00013805; Foto: Lothar Schaack)
Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Gespräch mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im Garten der Villa Hammerschmidt in Bonn, 7. September 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00013805; Foto: Lothar Schaack)
Richard von Weizsäcker begrüßte Erich Honecker "auch als Deutscher unter Deutschen im Sinne einer Geschichte", unter der dieser "als Deutscher gelitten habe".
Der Arbeitsbesuch in Bonn war für Honecker "sicherlich der Höhepunkt seines politischen Lebens", urteilt Peter Jochen Winters, der langjährige Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in der DDR.
Bei den Verhandlungen in Bonn ging es für Kohl um das damals "Machbare", den Ausbau des Reiseverkehrs, um Projekte, die im Bereich von Wissenschaft und Kultur zu deutsch-deutscher Zusammenarbeit führten, um die Wirtschaftsbeziehungen, und seitens der DDR vor allem um die gemeinsame Verantwortung für den Frieden. In seinen Memoiren schildert Kohl, dass er sich schwergetan habe, Honecker mit allen protokollarischen Ehren eines Staatsoberhauptes zu empfangen. Er habe sich als "Gefangener des Protokolls" gefühlt.
Erich Honecker bei seiner Tischrede während des Abendessens mit Bundeskanzler Helmut Kohl in der Bonner Redoute, 7. September 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00010693; Foto: Lothar Schaack)
Erich Honecker bei seiner Tischrede während des Abendessens mit Bundeskanzler Helmut Kohl in der Bonner Redoute, 7. September 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00010693; Foto: Lothar Schaack)
Um der zu erwartenden Anerkennungspropaganda der SED entgegenzuwirken, bestand er darauf, dass in beiden deutschen Fernsehsystemen die Tischreden des Bundeskanzlers und seines Gastes live übertragen würden: "Wenn wir diese Zusage nicht bekämen, hätte das den Verzicht auf den Honecker-Besuch zur Konsequenz". Politisch wollte Kohl aber den Besuch, um für die Bevölkerung in der DDR Reiseerleichterungen durchzusetzen, was auch gelang.
Die Tischreden waren die Stunde der grundsätzlichen Gegensätze in der Deutschlandpolitik zwischen dem Bundeskanzler und dem SED Generalsekretär. Kohl hob das "Bewusstsein für die Einheit der Nation" hervor: "ungebrochen ist der Wille, sie zu bewahren. Diese Einheit findet Ausdruck in gemeinsamer Sprache, im gemeinsamen kulturellen Erbe, in einer langen, fortdauernden gemeinsamen Geschichte." Der Besuch Honeckers diene dem "Bemühen um ein geregeltes Miteinander" der beiden Staaten. "An den unterschiedlichen Auffassungen der beiden Staaten zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, kann und wird dieser Besuch nichts ändern. Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel."
Honecker ging nicht direkt darauf ein,
Erich Honecker in seiner Heimat: Begrüßung des DDR-Staatsratsvorsitzenden vor dem Bürgerhaus Neunkirchens durch den Oberbürgermeister Peter Neuber (r.) und eine Schalmeienkapelle aus Wiebelskirchen (dem Geburtsort Honeckers) (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016874; Foto: Engelbert Reineke)
Erich Honecker in seiner Heimat: Begrüßung des DDR-Staatsratsvorsitzenden vor dem Bürgerhaus Neunkirchens durch den Oberbürgermeister Peter Neuber (r.) und eine Schalmeienkapelle aus Wiebelskirchen (dem Geburtsort Honeckers) (© Bundesregierung, B 145 Bild-00016874; Foto: Engelbert Reineke)
Erst im Saarland, als er seinen Geburtsort besuchte, sprach Honecker über die Teilung und die daraus entstandenen Grenzen durch Deutschland. Beide Staaten gehörten unterschiedlichen Militärbündnissen an, führte er aus und schloss: Dass "unter diesen Bedingungen die Grenzen nicht so sind, wie sie sein sollten, ist nur allzu verständlich." Er gab sich aber zuversichtlich, dass durch die Zusammenarbeit beider deutscher Staaten der Tag kommen werde, "an dem Grenzen uns nicht länger trennen, sondern vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen vereint."
5. Die Symbolik der Anerkennung deutscher Zweistaatlichkeit
Die Symbolik der Anerkennung deutscher Zweistaatlichkeit beherrschte die mediale Berichterstattung. Nach dem weltpolitischen Wendepunkt des Ost-West-Konfliktes zelebrierten beide deutsche Staaten die Normalität der Teilung. Der Dissens zwischen dem SED-Generalsekretär und dem Bundeskanzler hinsichtlich der nationalen Einheit und der politischen Ordnung in Deutschland während des Besuchs galt als innenpolitische Rhetorik, und über die Bedeutung von Honeckers Äußerungen über die Grenze wurde spekuliert.
Nicht nur Honecker interpretierte seinen Staatsbesuch in der Bundesrepublik als den Höhepunkt der internationalen Anerkennung der DDR. Typisch für die Atmosphäre des Besuchs war der Satz des SPD-Vorsitzenden Hans-Joachim Vogel in seinem Gespräch mit Honecker am zweiten Tag von dessen Besuch, "mit dem gestrigen Tag [werde] der Grundlagenvertrag mit all seinen Elementen Wirklichkeit", so zumindest die Aufzeichnung aus dem Kreise von Honeckers Delegation.
Im Selbstverständnis Honeckers bestätigte ihm Vogel damit seine eigene Interpretation des Grundlagenvertrages als Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Für ihn war die deutsche Zweistaatlichkeit ein irreversibler Pfeiler der europäischen Nachkriegsordnung, dem Bundeskanzler sagte er: "Das Deutsche Reich sei im Feuer des Zweiten Weltkrieges untergegangen. Auf seinen Trümmern seien zwei voneinander unabhängige souveräne Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Bündniszugehörigkeit entstanden. Das seien die politischen und auch die völkerrechtlichen Realitäten. […] Es verstehe sich also von selbst, daß die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD nur so gestaltet werden könnten, wie zwischen souveränen Staaten üblich. Das liege im Interesse des Friedens, der Menschen in beiden Staaten und der Entwicklung unserer Nachbarschaft. Die Existenz der beiden Staaten sei ein grundlegendes Element der europäischen Nachkriegsordnung. Daran rütteln, heißt Frieden und Stabilität gefährden. Wir [die SED-Spitze] meinten, und hierin stimmten wir mit der vorherrschenden Auffassung in Ost und West überein, daß Europa und die Welt gut damit leben können."
Sein Politbüro informierte Honecker in diesem Sinne über die große "historische Bedeutung" des ersten offiziellen Besuchs eines SED-Generalsekretärs in der Bundesrepublik: "Das Stattfinden des Besuches und die durchgesetzte politische und protokollarische Behandlung des Genossen Erich Honecker als Staatsoberhaupt eines anderen souveränen Staates dokumentierten vor aller Welt Unabhängigkeit und Gleichberechtigung beider deutscher Staaten, unterstrichen ihre Souveränität und den völkerrechtlichen Charakter ihrer Beziehungen." Dieser Glanz des Erfolgs schien den Schatten der offenen nationalen Frage zu überstrahlen. Der Bericht fährt fort: "Damit wurde revanchistischen und 'innerdeutschen' Bestrebungen ein schwerer Schlag versetzt. Das konnten auch Äußerungen von Kohl unter anderem über 'Rechtspositionen' und zur 'Einheit der Nation' nicht ändern. Es ist bedeutungsvoll, daß eine CDU/CSU-Regierung gezwungen war, den Besuch und seinem Ablauf in dieser Form zuzustimmen. Sie konnten nicht umhin, den Nachkriegsgegebenheiten in Europa und dem Willen der Mehrheit der BRD-Bevölkerung für Frieden, Entspannung und normale Beziehungen zur DDR Rechnung zu tragen."
1981 hatte Honecker vergeblich die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik gefordert, und auch nun, 1987, hielt Bonn unbeirrt an der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft fest. Über diesen strategischen Misserfolg seiner Anerkennungspolitik verliert dieser Bericht kein Wort.
Der SPD-Abgeordnete Jürgen Schmude, damals Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, konzentrierte sich in der Bundestagsdebatte um den Besuch ebenfalls auf dessen Symbolik. Der Besuch selbst hätte zwar keine besonderen Ergebnisse gebracht, aber das wäre auch nicht notwendig gewesen: "Wichtig war vor allem der symbolische Gehalt der Begegnung, die in dem Spielen der Hymnen und in der Präsentation der Flaggen beider deutscher Staaten besonders augenfällig wurde. Diese Szenen werden im Gedächtnis aller Beteiligten haften bleiben. Wir Sozialdemokraten haben sie uns nicht gewünscht; der Kampf der SPD gegen den außenpolitischen Kurs Konrad Adenauers in den fünfziger Jahren war ausdrücklich von dem Bestreben geleitet, eine verfestigte Teilung Deutschlands zu vermeiden. Das Bemühen ist gescheitert."
VII. Einheit oder Koexistenz – die Perspektiven der Deutschlandpolitik
Die Debatte um die Symbolik des Besuchs war auch eine über die Perspektiven der Deutschlandpolitik von SPD und Bundesregierung. Die Schlüsselworte der Sozialdemokraten hießen "Koexistenz" und "Kooperation" beider Staaten. So rückte die SPD 1986 im Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm von der Forderung nach Wiedervereinigung der deutschen Nation ab. In dem Entwurf hieß es: "Die Frage der Nation, der sich auch die DDR nicht entziehen kann, hat sich durch die staatliche Teilung nicht erledigt … Es bleibt offen, ob und in welcher Form die Deutschen in beiden Staaten in einer europäischen Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft finden."
Seit 1982 unterhielt die SPD Parteibeziehungen zur SED. Kurz vor dem Arbeitsbesuch Honeckers in Bonn veröffentlichten die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ihr gemeinsames Papier über den "Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Dessen zentrale deutschlandpolitische Aussage lautet: "Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen."
Bundeskanzler Kohl hatte zuvor in seinem Bericht zur Lage der Nation wiederholt, seine Regierung halte am Ziel der Einheit und der Freiheit der Deutschen und ihrer Selbstbestimmung fest. Er unterstrich nachdrücklich den Zusammenhang der Deutschlandpolitik mit der Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Den Arbeitsbesuch Honeckers setzte er in Beziehung zu dem Gipfeltreffen Reagans mit Gorbatschow in Reykjavik im Oktober 1986: "Nicht zufällig treffen beide Ereignisse zeitlich zusammen: In ihnen kommt der gegenwärtige Stand der West-Ost-Beziehungen, die gerade für uns Deutsche so wichtig sind, ganz besonders deutlich zum Ausdruck."
Honeckers Feststellung über die Unmöglichkeit einer Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus griff der Bundeskanzler im Bundestag auf und stimmte ihm zu: "Freiheitliche Demokratie und kommunistische Diktatur sind in der Tat unvereinbar."
Die Frage der nationalen Einheit und der politischen Ordnung in Deutschland blieb nach diesem von vielen Zeitgenossen als Zäsur bewerteten Ereignis weiterhin offen.1987 schien es, dass die SPD den richtigen Weg in der Deutschlandpolitik kannte. Durch friedliche Koexistenz zwischen beiden Staaten, durch Verhandlungen mit der SED die Lebensbedingungen der Menschen in der DDR verbessern. Der Bundeskanzler hielt am Ziel der staatlichen Einheit der Nation in Freiheit fest, ohne auf Verhandlungen zu verzichten. "Einheit und Freiheit Deutschlands" implizierte das Ende der SED-Diktatur, Kohl kannte nur (noch) nicht den Weg, wie dieses Ziel in Deutschland und weltpolitisch durchsetzbar war. Für beide grundsätzlichen Optionen der Bonner Deutschlandpolitik galt indes: Die Deutschen in der DDR hatten ihr Urteil über den SED-Staat noch nicht gesprochen.