I
Am 18. August 1962 erschien im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" eine kleine "Mitteilung": "Die Pressestelle des Ministeriums des Innern teilt mit:
Am 17. August 1962, gegen 14.20 Uhr, versuchten zwei flüchtende Verbrecher, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin in der Nähe der Zimmerstraße gewaltsam zu durchbrechen, wobei sie von Westberliner Polizei aktiv unterstützt wurden. Da die Flüchtenden auf wiederholte Aufforderungen und Warnungen durch Angehörige der Grenzsicherungsorgane nicht reagierten, musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Während einer der Verbrecher nach Westberlin entkommen konnte, ist der andere im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen."
Bereits am Vorabend war die Meldung in der DDR-Fernseh-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" verlesen worden.
Der Name und das Schicksal des erschossenen "flüchtenden Verbrechers" haben sich in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt: Peter Fechter.
Besuch der Gedenkstätte für Peter Fechter in der Berliner Zimmerstraße durch den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende, 20. Oktober 1963 (© Bundesregierung, Bild B 145 Bild-00086291; Foto: Gert Schütz)
Besuch der Gedenkstätte für Peter Fechter in der Berliner Zimmerstraße durch den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende, 20. Oktober 1963 (© Bundesregierung, Bild B 145 Bild-00086291; Foto: Gert Schütz)
ein Holzkreuz. Für Politiker und Staatsgäste wurde es in den folgenden Jahrzehnten bei Besuchen in West-Berlin zum festen Ritual, an dieser Stelle der Opfer der Mauer zu gedenken. Alljährlich am 13. August, zum Jahrestag des Mauerbaus, versammelten sich an der Gedenkstätte Verwandte und Politiker, um an Fechter und die anderen Opfer der Mauer zu erinnern. Doch einer war bei diesen Feierstunden nie dabei, ein Zeuge und Kumpel: Peter Fechters Fluchtgefährte Helmut Kulbeik.
Peter Fechter wäre wohl lange ein namenloser Flüchtling geblieben, wenn es der zweite "flüchtende Verbrecher" nicht nach West-Berlin geschafft und dort berichtet hätte.
II
Der 18-jährige Helmut Kulbeik hatte zwar vom Stacheldraht ein paar Kratzer am Fuß, an den Armen und auf der Brust davongetragen und seine Kleider waren vollkommen zerrissen, aber sonst hatte er die Flucht durch den Kugelhagel körperlich unbeschadet überstanden.
Kulbeik, so notierten die Polizisten, war "aufgeregt und zerfahren".
Die Polizisten beendeten die vorläufige Befragung des jungen Mannes. Da er Verwandte in West-Berlin hatte, musste Kulbeik nicht ins Flüchtlingslager. Die neue Adresse in der Togostraße wurde notiert. Dann wurde Kulbeik von seinen Verwandten im Polizeirevier abgeholt.
Am 20. August machte sich ein Polizist in die Togostraße auf, um Kulbeik zu vernehmen.
Kulbeik ging am nächsten Tag zum Polizeirevier und gab seine Aussage zu Protokoll.
Fluchtgedanken hätten sie seit Mai 1962 gehabt. Ihren Eltern hätten sie davon nichts erzählt. Kulbeik gab über die konkreten Fluchtmotive nichts zu Protokoll. Er schilderte dafür ausführlich die Fluchtvorbereitungen: "Gelegentlich" seien Fechter und er in verschiedenen Stadtbezirken an der Grenze entlanggegangen, um eine mögliche Fluchtstelle zu finden: "Weil wir davon überzeugt waren, dass es z. Z[t]. schwierig sei, über die Mauer zu gelangen, verzögerten wir unser Vorhaben."
Zwei Tage vor der Flucht, so Kulbeik, hätten sie sich die Grenzanlagen in der Nähe der Charlottenstraße/Ecke Schützenstraße genauer angeschaut. Dort seien sie auf ein Fabrikgebäude, scheinbar eine Tischlerei, gestoßen, dessen Vorderseite an die Zimmerstraße grenzte. Doch ein Entschluss zur Flucht sei hier nicht gefallen: "Über die Möglichkeit, an dieser Stelle in der Zimmerstr. nach Berlin (West) zu flüchten, haben wir an dem Tage nicht gesprochen."
Am 17. August seien sie kurz nach 12 Uhr von ihrer Baustelle verschwunden. Kulbeik berichtete, dass sie zunächst in einen "Konsum"-Laden Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße gegangen seien und dort etwas gegessen hätten. Dort sei die letzte Entscheidung gefallen: "Wir kamen überein, in Arbeitskleidung die von mir erwähnte Tischlerei in der Zimmerstr. aufzusuchen, um dadurch dichter heranzukommen." Was letztlich den Ausschlag dafür gegeben hätte, die Flucht an diesem Tag und an dieser Stelle zu wagen, erklärte Kulbeik nicht. Er berichtete, wie sie erneut bis in die Tischlerei gekommen seien. Völlig ungehindert seien sie bis an die Vorderfront zur Zimmerstraße gelangt. "In dem großen Haus", so Kulbeik, "waren alle Fenster zugemauert bis auf ein kleines, links der Einfahrt. Es hatte etwa eine Größe von etwa 60 x 50 cm." Unterhalb des Fensters habe sich ein Haufen Hobelspäne befunden. In dem Haufen hätten sie sich verkrochen. Dort wollten sie abwarten, bis in dem Haus Arbeitsschluss wäre. "Peter Fechter und ich nahmen uns vor, in den Spänen etwa 1 Stunde zu schlafen, das war aber nicht möglich, weil uns zu warm wurde."
Etwa zwei Stunden hätten sie in dem Haufen gelegen. Dann hätten sie in unmittelbarer Nähe Stimmen gehört. Sie befürchteten, entdeckt zu werden. "Wir beide verabredeten uns, wenn sich die Stimmen entfernt haben, durch das sich über uns befindliche Fenster in der Zimmerstr. zu springen und von dort über die Mauer nach Berlin (West) zu klettern." Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hätten, sei Peter als erster gesprungen. Ein Arbeiter habe sie zwar noch kurz vor dem Absprung entdeckt, aber der sei "vollkommen sprachlos" gewesen.
Fechter und er seien gut auf dem Bürgersteig in der Zimmerstraße gelandet, hätten den ersten Stacheldrahtzaun überklettert und seien über die zehn Meter breite Fahrbahn bis zur Mauer gerannt. "Peter Fechter", so Kulbeik, "war zuerst dran." Er sei noch zwei, drei Schritte hinter Fechter gewesen. In diesem Augenblick seien die ersten Schüsse gefallen: "Soweit ich mich erinnern kann, waren es 5 oder 6." Fechter sei an der Mauer "wie angewurzelt" stehengeblieben. Kulbeik berichtete weiter, wie er inzwischen die Mauer erreicht habe, hochgesprungen sei und wie er sich unter dem Stacheldraht auf der Mauerkrone hindurchgezwängt habe. Fechter sei nicht gefolgt: "Warum Peter nicht geklettert ist, er hätte vor mir auf der Mauer sein müssen, weiß ich nicht. Er sprach kein Wort und ich hatte den Eindruck, als die ersten Schüsse fielen, dass Peter Fechter einen Schock bekommen hat." Und Kulbeik weiter: "Ich rief ihm noch laut zu: Nun los, nun los, nun mach doch.
Peter Fechter liegt reglos an der Mauer (© picture-alliance/dpa)
Peter Fechter liegt reglos an der Mauer (© picture-alliance/dpa)
Er rührte sich aber nicht."
Kulbeik sagte aus, dass er nicht gesehen habe, dass Fechter getroffen worden sei. Fechter habe nichts gesagt. Und er habe ihn auch nicht umfallen sehen.
Zum Abschluss seiner Vernehmung gab Kulbeik an, dass er mit der Presse nichts zu tun haben wolle. Woher dieses Ansinnen kam, sagte er nicht. Hatte er Angst um seine zurückgebliebenen Eltern in Ost-Berlin? Oder hatte er bereits in den letzten Tagen und Stunden schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht?
III
Auch in Ost-Berlin wurde nach dem tödlichen Grenzzwischenfall ermittelt. Nicht nur die Morduntersuchungskommission der Ost-Berliner Polizei, auch die Staatssicherheit rekonstruierte die letzten Stunden der jungen Bauarbeiter, der "beiden Täter".
Nicht nur die Kollegen auf der Baustelle wurden von den Ermittlern vernommen. Auch Nachbarn und der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei wurden befragt. Nachteiliges über die "flüchtenden Verbrecher" war nicht zu erfahren. Im Zuge der Ermittlungen wurden die Wohnungen der Eltern durchsucht, bei denen Fechter und Kulbeik noch gewohnt hatten. Papiere hatten die beiden Männer nicht mitgenommen. Die Staatssicherheit konnte letztendlich "keinerlei Anzeichen eines vorbereiteten Grenzdurchbruchs" entdecken.
IV
Kulbeik verhielt sich in den Wochen, Monaten und schließlich Jahren danach in West-Berlin unauffällig. Er sprach nicht öffentlich über seine Flucht. Im kollektiven Gedächtnis spielte er deshalb keine Rolle. Auch wenn jährlich an Peter Fechter öffentlich erinnert wurde – über Helmut Kulbeik sprach niemand. Dass der erschossene Fechter einen Fluchtkameraden hatte, war kaum bekannt. Allerdings vergaß die Ost-Berliner Justiz Kulbeik nicht. 1967 wurde der Haftbefehl gegen ihn verlängert.
Als nach dem Fall der Mauer die tödlichen Grenzzwischenfälle juristisch aufgerollt und gegen die Mauerschützen und ihre Vorgesetzten ermittelt wurde, tauchte auch der Name Kulbeik aus den alten Ermittlungsakten wieder auf.
In der halbstündigen Vernehmung äußerte sich Kulbeik erstmals zu den Motiven ihrer Flucht: Einen "konkreten Grund" habe es nicht gegeben. Fechter und er, zwei echte Berliner Jungs, hätten den Mauerbau bewusst erlebt. "Den Druck, der ständig ausgeübt wurde, konnte ich nicht mehr ertragen." Man habe beispielweise gewollt, dass er an der Jugendweihe teilnehme. Ihm habe es auch nicht gefallen, "ständig irgendwie berufs- und freizeitmäßig eingegliedert zu werden." Kulbeik wörtlich: "Ich wollte frei sein."
Die Flucht hat Kulbeiks Leben dramatisch verändert: Er fand keine neue Heimat. Kulbeik arbeitete wieder auf dem Bau, er trank, eine Ehe scheiterte. Kulbeik wurde nicht sesshaft. Er zog in West-Berlin immer wieder um. Das Trinken fand kein Ende. Er stürzte endgültig ab. Nach der Wiedervereinigung zog Kulbeik zurück nach Ost-Berlin. Heute lebt er als Rentner in einem Obdachlosenheim am Rande von Marzahn.
Nach eigener Aussage denkt er sehr oft an seine Flucht und an Peter Fechter.