1. Der "Kampf um die Deutungshoheit"
Zeitzeuginnengespräch auf der Geschichtsmesse 2012 in Suhl mit Margot Jann, Anita Goßler und Konstanze Helber vom Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen (v.l.); Moderation: Ulrike Greim, Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. (© Christian von Ditfurth)
Zeitzeuginnengespräch auf der Geschichtsmesse 2012 in Suhl mit Margot Jann, Anita Goßler und Konstanze Helber vom Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen (v.l.); Moderation: Ulrike Greim, Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. (© Christian von Ditfurth)
"Die Zukunft der Aufarbeitung – Demokratie und Diktatur in Deutschland und Europa nach 1945" – unter diesem Titel fand im März 2012 die 5. Geschichtsmesse der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Suhl statt. Im Verlauf der dreitägigen Veranstaltung besonders beeindruckend war sicherlich die Vorführung des Films "Ein Tag zählt wie ein Jahr – Die Frauen von Hoheneck" und das anschließende Gespräch mit Zeitzeuginnen, in dem diese von ihren leidvollen, traumatischen Erfahrungen im Frauengefängnis Hoheneck bei Stollberg (Erzgebirge), von unrechtmäßigen Verfahren und unmenschlichen Misshandlungen erzählten; so wurden beispielsweise den jungen Müttern ihre Kinder weggenommen, wenn sie diese in der Haft zur Welt brachten – mit psychischen Langzeitfolgen bis heute. Die ehemaligen politischen Gefangenen berichteten ferner von der Verarbeitung dieser Erlebnisse und von ihrem Einsatz als Zeitzeugen in Schulen. Darüber hinaus wurden auf der Geschichtsmesse in unterschiedlichen Sektionen Projekte vorgestellt, die unter den Überschriften "Opposition und Repression in der DDR" oder "Die SED-Diktatur in der Region" zusammengefasst wurden.
Insgesamt ist hier eine Deutung der DDR-Geschichte dominierend, und zwar die, die DDR als Diktatur und Unrechtsstaat zu sehen. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn in der Sektion "Die heile Welt der Diktatur? Alltags- und Sozialgeschichte der DDR" eine Ausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt wird, die zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem DDR-Alltag führen soll. "Die oft subtil ausgeübte Repression der SED und die alles durchdringende Stasi-Überwachung verblassen in populären Erinnerungen oder werden als das 'Leben der Anderen' wahrgenommen. Die Ausstellung soll verdeutlichen, dass der Alltag selbst von politischer Repression durchdrungen war", heißt es in der Projektvorstellung.
In der Dokumentation dieser Tagung werden einzelne Rückmeldungen zitiert, etwa: "Aussagen von Zeitzeugen prima." (sic!) – "Besonders wichtig ist mir die Aufarbeitung in der Region und die Aufarbeitung der Diktaturen in den Nachbarländern."
Faltblatt zur Tagung "Früher war alles besser" (© Sächsische Landeszentrale für politische Bildung)
Faltblatt zur Tagung "Früher war alles besser" (© Sächsische Landeszentrale für politische Bildung)
Nicht weit entfernt und zur gleichen Zeit fand unter dem Titel "Früher war alles besser. Historisches Bewusstsein zwischen Aufklärung und Verklärung" in Radebeul eine Tagung statt, die von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung veranstaltet wurde. Im Zentrum stand hier ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte, aber in spezifisch anderer Deutung. In der Dokumentation dieser Tagung sind einige Leitfragen vorgegeben: "Wie erinnern wir uns an die DDR? War früher tatsächlich alles besser oder trügt uns die Erinnerung? Und wie kann man einer Verklärung der DDR-Vergangenheit entgegenwirken?"
In der Dokumentation der Radebeuler Tagung wird dieser Befund erklärt: "Prof. Dr. [Bodo von] Borries aus Hamburg führte mit seinem Vortrag 'Vorstellungen von Geschichte. Zwischen kommunikativem Gedächtnis und kultureller Überlieferung' in das Thema ein. Er machte deutlich, wie individuelle Erinnerungen an glückliche Zeiten dem kritischen Blick der Geschichtswissenschaft auf Nationalsozialismus und DDR widersprechen können. Seine These: Gerade wenn die Gegenwart als bedrückend empfunden wird, neigen Menschen dazu, die Vergangenheit zu verklären."
In Radebeul wurde dieses Phänomen weiter diskutiert: "Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums Berlin, erläuterte das Entstehen von Verklärung. Die Erinnerung entstehe im Alltag der Menschen und diese 'heile Welt' wird vom offiziellen Geschichtsbild in Frage gestellt. Wichtig sei es hier, zu differenzieren: Viele Menschen sähen 'ihre gesamte Lebensleistung vor 1989 in Frage gestellt'".
Die beiden Tagungen dokumentieren eine ungebrochene Debatte um die Deutung zur DDR-Geschichte. Es konkurrieren unterschiedliche historische Sinnbildungsangebote, die – und das ist sicherlich der Kern der Auseinandersetzung – jeweils andere politische Schlussfolgerungen nahelegen. Deutlich werden diese in der Debatte um die "Sabrow-Komission", die "Empfehlungen (…) zur Schaffung eines Geschichtsverbundes 'Aufarbeitung der SED-Diktatur'" erstellen sollte. Dieser Kampf um die Deutungshoheit ist dokumentiert
2. Historisches Lernen im Spannungsfeld von Zeitzeugen, Geschichtskultur und zeithistorischer Forschung
Wer kann besser von der DDR berichten als die Menschen, die in ihr gelebt haben? Dass dieser Satz problematisch ist, wird bereits aus den einleitenden Überlegungen deutlich. Zu reflektieren ist hier das Verhältnis der Zeitzeugen zur Geschichts- und Erinnerungskultur und zur zeithistorischen Forschung, weil hier mutmaßlich ein Wechselverhältnis vorliegt: Die Zeitzeugen berichten von ihren Erfahrungen, sind aber eingebettet in geschichtskulturelle Entwicklungen (sei es durch Filme, wie "Das Leben der Anderen", und ihren Deutungen zur DDR-Geschichte, sei es, wenn Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews in Fernsehdokumentationen als Beleg für Aussagen über die Vergangenheit verwendet werden
Damit stehen ihre Aussagen zum Teil im Widerspruch zur zeithistorischen Forschung, sodass Zeitzeugen auch – durchaus mit ironischem Unterton – "als größter Feind des Historikers"
Im Kontext historischer Bildung ist zu berücksichtigen, dass die Erzählungen der Zeitzeugen nicht mit den gemachten Erfahrungen identisch sind, sondern auch im Hinblick auf die jeweiligen Adressaten konstruiert werden und deshalb partiell verschieden sind.
Die Erzählungen von Zeitzeugen weisen bestimmte Merkmale auf, sie sind perspektivische, selektive, retrospektive Narrationen, die standpunktbezogen sind und eine Sinnbildung für die Gegenwart und Zukunft anbieten. Zudem sind sie konkret an den eigenen Erfahrungen der Erzählenden orientiert. Die Gefangenen aus Hoheneck berichten auf Grund ihrer Erfahrungen und Perspektiven eben ganz anders über die Vergangenheit als etwa die ehemaligen Gefängniswärterinnen, die in dem oben erwähnten Film oder auf dem Podium in Suhl aber nicht zu Wort kommen (wollten).
All die Merkmale stellen Schwierigkeiten für das historische Lernen dar, weil sie reflektiert werden müssen, wenn nicht nur eine Übernahme an Deutung im Zentrum steht. Zugleich bieten sie große Chancen zum historischen Lernen, weil konkret darüber gesprochen werden kann – etwa warum bestimmte Aspekte aus der Erinnerung ausgewählt werden – und somit die jeweiligen Deutungen offengelegt werden können.
3. Historische Bildung aus der Perspektive der Bildungsgangforschung
Lernen ist ein subjektiver, individueller Prozess, der immer in soziale und gesellschaftliche Kontexte eingebunden ist. Diese allgemeine Aussage wird kaum zu bestreiten sein, aber nur wenige machen sich Gedanken darüber, wie Lernen und Bildung aus Sicht der Lernenden gesehen wird und wie Bildungsangebote konzipiert sein müssen, damit sich aus der Sicht der Lernenden solche Lernchancen ergeben, die als sinnhaft empfunden werden.
1. Lern- und Bildungsprozesse sind immer situiert in biografischen Kontexten, und dies gilt auch für schulische Bildungsangebote. Inwieweit sich Lernende mit einem Lerngegenstand auseinandersetzen, hängt in einem entscheidenden Maße davon ab, inwiefern eine Relevanz des Gegenstandes definiert wird. Diese Relevanzzuschreibung ist umgekehrt aber Ausdruck biografischer Erfahrungen. Mit anderen Worten: Nur wenn eine biografisch empfundene Bedeutung des Lerngegenstandes hergestellt wird, ist ein Lern- und gegebenenfalls Bildungsprozess zu konstatieren. Ewald Terhard spricht in diesem Zusammenhang von der "Biographisierung des Bildungsproblems"
2. Aus diesen Gründen ist die Subjektperspektive auf Lernprozesse von besonderer Bedeutung, genauer, wie sie gesellschaftliche Anforderungen, die an die Lernenden herangetragen werden deuten. Es geht also nicht darum, Bildung allein an den jeweiligen Interessen auszurichten, sondern darum, wie Schülerinnen und Schüler gesellschaftliche Anforderungen deuten und wie sie sich dazu verhalten. Die Frage ist also vielmehr, wie sich Lernende in der Geschichtskultur zu den widersprüchlichen historischen Orientierungen verhalten, wie sie historischen Sinn bilden.
3. Lernen ist immer auf einen fachlichen Fokus gerichtet, ist also fachgebundenes bzw. domänenspezifisches Lernen. Diese These ist hier nicht weiter zu begründen, weil nur historisches Lernen im Zentrum steht.
Exemplarisch können die didaktischen Grundüberlegungen an der autobiografischen Skizze von Meinert A. Meyer verdeutlicht und dann auf das historische Lernen zugespitzt werden. Meyer berichtet im Zusammenhang mit Überlegungen zu "gutem Unterricht", dass für die Konzeption von Bildungsprozessen die Sicht der Lernenden von entscheidender Bedeutung ist. Er verdeutlicht dies an seiner Biografie. Erzogen wurde Meinert Meyer, Jahrgang 1941, zu großen Teilen von seiner Großmutter, Jahrgang 1877, die versuchte, ihren Enkeln ihre (kaiserzeitlichen und religiösen) Prinzipien, Verhalten und Moralvorstellungen weiterzugeben. Allerdings geht Meyer davon aus, dass er das Meiste davon nicht übernommen hat, weil seine Großmutter in einer völlig anderen Welt – dem späten 19. Jahrhundert – sozialisiert wurde und ihre Prinzipien und Moralvorstellungen für seine Zeit und für ihn nicht mehr adäquat erschienen. Zugespitzt wird dies, wenn er sich überlegt, welche Form von Bildung sein Enkelkind braucht, das möglicherweise Kinder großziehen wird, die im 22. Jahrhundert leben werden – wir also nicht antizipieren können, was diese Menschen an Bildung brauchen werden. Das daraus entspringende didaktische Problem lässt sich auch als Kontingenzerfahrung
Eine der zentralen Kategorien der Bildungsgangforschung ist die der Bildung. Diese wird nicht statisch als Ansammlung von Wissen oder als besondere intellektuelle Fähigkeit definiert, weil Wissen veraltet, aber die Fähigkeit, neuartige Aufgaben zu bewältigen, vermutlich auch in Zukunft von Bedeutung sein wird. Im Sinne eines historischen Lernens können dies neuartige Situationen sein, für die neue Formen historischer Orientierung entwickelt werden müssen. Zudem können auch neuartige Sinnbildungsangebote in der Geschichtskultur an die Lernenden herangetragen werden, die zu reflektieren sind. Deshalb steht die Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses, des sich Bildens, im Zentrum. Bildung ist – im Sinne von Rainer Kokemohr, Hans-Christoph Koller und anderen Bildungstheoretikern – der Prozess der Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses.
Diese Überlegungen lassen sich auch auf historische Bildung übertragen, wobei zwei Aspekte von besonderer Bedeutung sind:
1. Schülerinnen und Schüler bilden ihren eigenen historischen Sinn in der Auseinandersetzung mit historischen Bildungsangeboten – genau so, wie Meinert Meyer die Moralvorstellungen seiner Großmutter nicht einfach übernommen hat, sondern auf seine Art und Weise, in seiner Gegenwart verarbeitet hat. Die – veraltete – Vorstellung, dass Lehren ein "Lernenmachen" ist, ist empirisch gut widerlegt. Bezogen auf den Geschichtsunterricht lässt sich zeigen, dass historisches Lernen im Spannungsverhältnis von kulturellen Zugehörigkeiten der Schülerinnen und Schüler, den durch die Lehrer umgesetzten und vermittelten Bildungsangeboten und -anforderungen der Schule und der individuellen Verarbeitung stattfindet.
2. Welche Kompetenzen und historische Orientierungen brauchen unsere Schülerinnen und Schüler, um sich in ihrem Leben, in der unvorhersehbaren Zukunft zurecht finden zu können? Kann dies eine "richtige" Deutung der DDR sein – welcher Couleur auch immer? Dies kann mit Recht bezweifelt werden, nicht nur, weil fraglich ist, ob sie diese Deutung so übernehmen, sondern auch, weil wir nicht sagen können, "wie es eigentlich gewesen" ist (Leopold von Ranke) und welche eindeutigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Deshalb ist es hilfreich, das Konzept des historischen Denkens und der historischen Kompetenzen in den Blick zu nehmen.
4. Dimensionen historischen Denkens und Lernens
Unter der Berücksichtigung der obigen Überlegungen stellt sich die Frage, wie historisches Lernen konzipiert werden kann. Zunächst ist an der grundlegenden Definition von Jörn Rüsen festzuhalten, dass das oberste Lernziel ist, dass die Schülerinnen und Schüler "Sinn über Zeiterfahrung bilden (…) können, um sich erfahrungsgestützt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können."
Es geht also nicht vorrangig darum, dass die Lernenden bestimmte historische Inhalte kennen, sondern dass sie zunehmend reflektiert und selbstständig historisch erzählen können. Allerdings ist dieser Lernbegriff weiter auszudifferenzieren, weil damit noch nicht die drei Dimensionen des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft
• Die erste Dimension historischen Lernens in der Schule sollte eine Einführung und zugleich die Reflexion von außerschulischer Geschichtskultur sein.
• Dafür ist es wichtig, dass die Lernenden ihre historische Identität reflektieren – dies ist die zweite Dimension historischen Lernens. Zwei Argumente sind hier anzuführen: Die Reflexion historischer Identität ist nötig, weil die Heranwachsenden erstens in der Geschichtskultur unterschiedliche Identitäten angeboten bekommen und sie sich dazu verhalten müssen, und zweitens, weil Lernen ein subjektiver Prozess ist, in dem es um die Aushandlung von Bedeutung geht. Die jeweiligen Deutungen der DDR-Geschichte sind zugleich Ausdruck einer historischen Identität und einer politischen Perspektive. In einer pluralen Gesellschaft sind solche Identitäten nicht mehr vorzugeben, sondern auszuhandeln und die gegenseitige Anerkennung der historischen Orientierung anzustreben.
• Die dritte Dimension historischen Lernens sind die Kompetenzen historischen Denkens, die zur De-Konstruktion historischer Narrationen und damit Sinnbildungsangeboten und zur Re-Konstruktion eigener Narrationen. Dafür ist es nötig, auf gesellschaftlichen Konventionen im historischen Denken zurückzugreifen, um kommunikationsfähig zu sein. Wer über diese Konventionen verfügt, der hat ein mittleres Kompetenzniveau erreicht; wer diese Konventionen zugleich auf ihre Konstruktionslogik hin reflektiert, geht darüber hinaus; wer über diese Konventionen noch nicht verfügt, dessen Kompetenzniveau hat ein mittleres Niveau noch nicht erreicht.
Alle drei Dimensionen sind für historisches Lernen von Bedeutung, eine Reduktion auf die historischen Kompetenzen an Themen, die weder Identitätsrelevant noch geschichtskulturell bedeutsam sind, dürfte wenig erfolgversprechend sein. Ebenso reicht eine Orientierung allein an der Geschichtskultur nicht aus, weil eine Theorie fehlt, wie historisches Denken differenziert und gestuft werden kann. Und schließlich: So lange "Geschichte" in seiner Orientierungs- und Identitätsfunktion nicht ernstgenommen wird bzw. diese nicht explizit herausgestellt wird, sondern die Sinnbildungen implizit den Schülerinnen und Schülern untergeschoben werden, so lange wird "Geschichte" vielfach als irrelevant empfunden. An dieser Stelle ist anzumerken, dass in kulturell heterogenen Gesellschaften auf ganz unterschiedliche Geschichten Bezug genommen wird. Die Schülerinnen und Schüler schreiben ganz unterschiedlichen historischen Themen und Deutungen eine Bedeutung zu.
In diesem Zusammenhang ist auf die Auswertung der Abiturarbeiten aus Nordrhein-Westfalen hinzuweisen. "Was können Abiturienten", lautet der Titel und ein Ergebnis der Studie ist, dass historische Sinnbildungen im eigentlichen Sinne nicht vorkommen bzw. genauer: von den Schülerinnen und Schülern nicht explizit gemacht werden.
5. Subjektorientierte historische Bildung: Befähigung, sich in der kontroversen Geschichtskultur zurechtzufinden
Historisches Lernen ist unter den Bedingungen einer heterogenen Gesellschaft als fachspezifisches Lernen zu definieren, in dem die Befähigung zum Umgang mit kontroversen Deutungsangeboten geschult werden soll, sodass von einem "reflektierten und (selbst-)reflexivem Geschichtsbewusstsein" gesprochen werden kann.
Dies ist aber nicht unumstritten. So fordert Josef Kraus jüngst öffentlichkeitswirksam in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter dem Titel "Der historische Analphabetismus greift um sich", dass ein "fassbares historisches, ja kanonisches Wissen" nötig sei.
Unter Berücksichtigung der Bildungsgangforschung ist dies noch einmal zuzuspitzen: Wenn Bildung in einer biografischen Perspektive gesehen wird, dann wird die Vermittlung eines Kanons noch problematischer, denn die Lernenden bilden ihren je spezifischen historischen Sinn – und der ist nicht unbedingt identisch mit dem intendierten Sinn. In einer kulturell heterogenen Gesellschaft werden auch die Sinnbildungen, die Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit ihrem Geschichtsunterricht bilden, noch unterschiedlicher
Vor allem hilft ein wie auch immer geartetes Gerüst historischen Wissens allein nicht, sich in dem eingangs beschriebenen Diskurs zu orientieren. Welche Deutung zur DDR-Geschichte sollte den Jugendlichen nahegebracht werden, wenn es die eine Deutung in der Gesellschaft gar nicht gibt und sich die Jugendlichen zu den unterschiedlichen Deutungen verhalten müssen? Nicht die einzelnen Daten und die damit präferierte Deutung sind das Entscheidende, sondern die Fähigkeiten, Fertigkeiten und die Bereitschaft – mit anderen Worten: die Kompetenz –, sich an der Geschichtskultur reflektiert und eigenständig beteiligen zu können. Wichtig ist dafür eine multiperspektivische Auseinandersetzung damit, wie Geschichten – nicht nur zur DDR – jeweils konstruiert werden. Dafür kann die Auseinandersetzung mit Zeitzeugen ein sehr lohnendes und spannendes Erlebnis und Ausgangspunkt eines Bildungsprozesses sein.