Einleitung
Die jüngst durch eine Fernsehserie, eine "Spiegel"-Reihe und durch Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" wieder ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückte Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach aus den früheren deutschen Reichsgebieten jenseits von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland sowie aus den Siedlungsgebieten in Mittelost-, Ost- und Südosteuropa war zweifellos ein historisch gravierender Vorgang, von dem viele Millionen Reichs- und Volksdeutsche betroffen waren. Meist wird von zwölf bis vierzehn Millionen Vertriebenen ausgegangen, von denen bei Flucht und Vertreibung, auch als Folge von Vertreibungsverbrechen, ca. zwei Millionen - immerhin etwa ein Sechstel - ums Leben gekommen sind. Es sind Zahlen - auch wenn sie womöglich nach unten revidiert werden müssen -, hinter denen sich ungeheures Leid verbirgt.
Unter dem Begriff "Vertreibung" - dies ist bedeutsam im Hinblick auf die Verarbeitung des Phänomens - wird ein mehrschichtiger, regional unterschiedlicher, mehrere Phasen umfassender Prozess gefasst, zu dem u.a. im vorherrschenden Verständnis gehören: die Evakuierungen seit Herbst 1944, die allgemeine Flucht im Frühjahr 1945 mit Trecks oder über die See, die teilweise Rückkehr in die Wohngebiete, die Deportationen in die Sowjetunion, die Einrichtung von Internierungslagern und die Ausweisung. Die Maßnahmen gegen diesen Teil der Bevölkerung resultierten teils aus "wilden" oder gezielten Aktionen anderer nationaler Gruppen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, teils aus massiven Ausschreitungen der vorrückenden russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung, teils aus alliierten Beschlüssen, die nicht selten bereits geschaffene Tatsachen legalisierten oder zu weiteren Vertreibungsmaßnahmen führten.
Hier soll es um die "Aufarbeitung" und "Verarbeitung" des Geschehens gehen, und zwar sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Dies schließt die Frage ein, welche Rolle die Erinnerungen der Vertriebenen im kollektiven Gedächtnis gespielt haben und spielen. Die Erinnerung an die Vertreibung war bei den Betroffenen mit der Erinnerung an die alte Heimat verbunden, und die Bedeutung, die beide Komplexe für diesen Personenkreis hatten, war wiederum mit der Frage der Aufnahme der Vertriebenen im übrigen Deutschland, mit ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft verknüpft, ohne indes als eine bloße Funktion dieser gesellschaftlichen Prozesse aufgefasst werden zu können. Wie ging und geht die deutsche Gesellschaft mit den Vertriebenen und ihren Erfahrungen um?
Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne die Nachkriegsentwicklung in Deutschland - in den Westzonen, der Ostzone, später in der Bundesrepublik und in der DDR (und deren Verhältnis zueinander) - zu berücksichtigen. Zu fragen ist ferner, wie sich die Veränderungen in der Politik und dem politisch-gesellschaftlichen Klima auswirkten; auch die Frage der Wirkung wachsender zeitlicher Distanz ist zu stellen. Wir untersuchen den Übergang, die Transformation des kommunikativen Gedächtnisses der "Erlebnisgemeinschaft" in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft, zwischen denen gleichsam eine fließende Lücke, ein Floating Gap, zu herrschen pflegt.
Ich gehe in fünf Punkten im Wesentlichen chronologisch vor, wobei angesichts des Umfanges des Themas vieles nur angedeutet werden kann.
I.
In der frühen Nachkriegszeit, in der die unter dem Begriff "Vertreibung" zusammengefassten Ereignisreihen teilweise noch liefen, stand für die Deutschen in den verschiedenen Zonen die Bewältigung elementarster Probleme im Vordergrund, zu denen auch die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen gehörte. Angesichts der gravierenden Wohnungsnot und der Ernährungsschwierigkeiten stellte die Unterbringung dieser Gruppe die Alliierten und die deutschen Verwaltungen vor riesige Probleme, die z.T. auch zu Spannungen mit der einheimischen, häufig ausgebombten oder der evakuierten Bevölkerung führten. Die Vertriebenen waren keineswegs überwiegend willkommen.
Manches spricht dabei für die von Hans Georg Lehmann aufgestellte These, dass aufgrund einer vergleichsweise rigorosen Politik der Sowjets und der SED in den ersten Nachkriegsjahren die "Aufnahme und Lebensbedingungen der Vertriebenen in der Sowjetzone" im Vergleich mit den Westzonen wohl "noch am besten" abschnitten.
Zunächst hatten die Vertriebenen Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Früh entstanden Zusammenschlüsse, die vor allem als Suchdienste arbeiteten, doch verboten die Alliierten 1946 Koalitionen von Vertriebenen - ein Verbot, das schrittweise gelockert und 1948 in den Westzonen aufgehoben wurde.
Verboten waren durch die Alliierten zunächst auch parlamentarische Interessenvertretungen, doch versuchten die großen Volksparteien, sich auch um die Anliegen der Vertriebenen zu kümmern; zweifellos trug dies zur politischen Integration bei. Gleichwohl wurde 1950 in Schleswig-Holstein eine Vertriebenenpartei gegründet - der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) -, der bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein immerhin 23,5 Prozent der Stimmen erhielt.
Bei den Wahlen zu den Landtagen und zum Bundestag waren die Vertriebenen während der fünfziger Jahre - nicht nur wegen der Existenz des BHE - eine umworbene Gruppe. Alle Parteien - mit Ausnahme der KPD - forderten von einem Friedensvertrag die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937. Auch Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, vertrat nachdrücklich diese Forderung, obgleich er sich klar darüber war, dass die Gebiete jenseits von Oder und Neiße für die Deutschen verloren waren und er mit dieser Forderung auf den Widerstand der Hohen Kommissare stoßen musste.
Kennzeichnend für die fünfziger Jahre waren auf der einen Seite beachtliche Bemühungen um die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen, die offensichtlich selbst davon ausgingen, dass mit einer Rückkehr in die verlorenen Gebiete auf absehbare Zeit nicht zu rechnen war; auf der anderen Seite gab es die Unterstützung der Rechte der Vertriebenen und ihrer Forderungen, die eine Verurteilung des Unrechts der Vertreibung selbstverständlich einschloss. Man mag in dieser doppelten Politik einen Mangel an Konsequenz sehen, gleichwohl kann man fragen, ob sie nicht doch zur Integration der Vertriebenen und zur Paralysierung des Heimatvertriebenenproblems beitrug.
Allerdings war dieser Politik doch auch die Förderung von Illusionen bei den Heimatvertriebenen immanent. Diese hatten bemerkenswerterweise in einer Charta, die 1950 in Stuttgart verkündet wurde und Forderungen nach sozialer und wirtschaftlicher Gleichstellung sowie politischer Vertretung der Vertriebenen enthielt, ausdrücklich auf Rache und Vergeltung verzichtet und versprochen, "jedes Beginnen mit allen Kräften zu unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können"
Anders als die Bundesrepublik Deutschland erkannte die DDR 1950 im Görlitzer Vertrag die Oder-Neiße-Grenze an. In der SBZ/DDR war der Begriff "Vertriebene" frühzeitig durch den der "Übersiedler" substituiert worden, später wurde auch dieser tabuisiert und das Problem der Vertriebenen offiziell ignoriert. Wilhelm Pieck, der erste Präsident der DDR, erklärte im Oktober 1950 in seiner geteilten Heimatstadt Guben: "Wir haben unsere engere Heimat verloren, aber wir haben die große Heimat des Friedens, die Heimat eines demokratischen friedliebenden Deutschlands gewonnen."
II.
Berichte über die furchtbaren Geschehnisse bei Flucht und Vertreibung wurden früh von den Betroffenen erzählt; sie litten vielfach unter den traumatischen Erlebnissen. Auch im Kontext von Berichten über die Kriegsgeschehnisse tauchte der Aspekt auf, fand auch seinen Niederschlag in der Literatur. Das große Thema der Nachkriegsliteratur war der Krieg mit seinen Folgen.
Selbstverständlich wurde das Geschehen der Vertreibung als schreiendes Unrecht aufgefasst. Meist wurde es eher isoliert betrachtet, doch konnte die publizistische Schulddiskussion an Flucht und Vertreibung nicht vorübergehen. So publizierten Walter Dirks und Eugen Kogon schon 1947 in den Frankfurter Heften einen bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel "Verhängnis und Hoffnung im Osten. Das Deutsch-Polnische Problem", in dem sie eher vorsichtig versuchten, das Geschehen, das sie selbst nur zurückhaltend andeuteten, einzuordnen.
Doch fügten die Autoren hinzu, dass diejenigen Deutschen, die nun ihrerseits Opfer wurden, keineswegs die besonders Schuldigen waren: "Die armen Opfer in Schlesien und Ostpreußen leiden stellvertretend für die wahren Schuldigen, und es ist ein Zufall, dass nicht wir es sind, du und ich, die stellvertretend leiden und sterben müssen."
In der frühen Nachkriegszeit waren bei vielen Menschen die Leid-Erfahrungen noch zu unmittelbar, als dass sie mental in der Lage gewesen wären, eine konkrete Schulddiskussion zu führen und auch die Leiden der anderen mitzusehen. Zwar war die Mehrzahl erschüttert über das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, doch stand daneben das konkrete eigene Erleben, der Verlust von Heimat und Eigentum, der Tod zahlreicher nahe stehender Menschen. Existenziell hatte man den Krieg und die Kriegsfolgen durchlitten, der Krieg war nicht nur Hitlers Krieg gewesen.
III.
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat - so urteilte Hellmuth Auerbach 1985 retrospektiv
Die Kommission bestand aus angesehenen "führenden" Historikern. Geleitet wurde sie von Theodor Schieder; ihr gehörten außerdem an Peter Rassow, Rudolf Laun und Hans Rothfels sowie Adolf Distelkamp vom Bundesarchiv, nach einiger Zeit kam als weiteres Mitglied Werner Conze hinzu. Mitglieder des wissenschaftlichen Arbeitskreises waren u.a. Hans Booms, der spätere Direktor des Bundesarchivs; Martin Broszat, der spätere Direktor des Institutes für Zeitgeschichte, und Hans Ulrich Wehler, seit Ende der sechziger Jahre einer der führenden deutschen Sozialhistoriker. Unterstützt wurde die Kommission vom Statistischen Bundesamt, dem Johann-Gottfried-Herder-Institut in Marburg, der Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung in Göttingen und vom Münchener Institut für Zeitgeschichte. Alles in allem ein für die damalige Zeit sehr großes wissenschaftliches Unternehmen, welches das besondere Interesse an dem Forschungsgegenstand erkennen lässt.
Für die Historiker trat das ursprüngliche politische Motiv bald in den Hintergrund, woraus Gegensätze zum Auftraggeber erwuchsen. Leitend für die Herausgeber war - wie sie in der Einleitung betonten - "die Sorge, Geschehnisse von der furchtbaren Größe der Massenaustreibung könnten in Vergessenheit fallen, die abschreckenden und aufrüttelnden Erfahrungen aus dieser europäischen Katastrophe könnten für die Staatsmänner und Politiker verloren gehen"
Darüber hinaus seien sie dem "politischen Grundsatz" des Verzichts auf Rache und Gewalt verpflichtet, wie er in der Charta der Heimatvertriebenen niedergelegt sei: Die Herausgeber "wollen mit der von ihnen betreuten Veröffentlichung nicht dem Willen Vorschub leisten, der diesem Verzicht entgegensteht, nicht Empfindungen auslösen, die selbstquälerisch im eigenen Leid wühlen". Es folgt der bedeutsame Satz: "Dazu sind sie (die Herausgeber) sich zu sehr des deutschen Anteils an den Verhängnissen der letzten beiden Jahrzehnte bewusst."
Basis des Unternehmens war eine systematische Befragungs- und Sammelaktion unter den Vertriebenen, durch die eine große Fülle dokumentarischen Materials zusammengetragen wurde: zum überwiegenden Teil Erlebnisberichte, dann Befragungsprotokolle, private Briefe, Tagebücher, auch amtliche Schriftstücke. Die Sichtung, Beurteilung und Verarbeitung des Materials sowie die Zusammenstellung für die Edition warf vielfältige methodische Probleme auf, die insbesondere Martin Broszat und Theodor Schieder in methodologischen Beiträgen zu klären versuchten.
Die nüchterne, sorgfältige Analyse der Dokumente führte - ähnliche Probleme gab es auch bei anderen Opfergruppen der jüngsten Geschichte - zu erheblichen Spannungen zwischen den Vertriebenen und Vertriebenenfunktionären auf der einen Seite sowie den Historikern und Archivaren auf der anderen Seite. Hans Rothfels stellte zu den massiven Angriffen von Organen und Organisationen der Vertriebenen - zu denen der Vorwurf gehörte, die Dokumentation sei "in wesentlichen Punkten nach dem Geschmack der Vertreiber ausgefallen" - u.a. fest: "Bei aller Bereitschaft des Historikers, von 'Zeitzeugenberichten' zu lernen, kann ein Zensurrecht der Beteiligten nicht wohl anerkannt werden."
Gemessen an diesem umfangreichen Dokumentationswerk war der übrige wissenschaftliche Ertrag in den fünfziger und sechziger Jahren eher sekundär. Eine Reihe bemerkenswerter, auch für den Historiker aufschlussreicher Tagebücher und Berichte erschien, auch wurden chronikartige Zusammenstellungen des Kriegsgeschehens mehr publizistischen als wissenschaftlichen Charakters veröffentlicht, die das Kriegsgeschehen mit seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung im Osten zum Thema hatten.
Erwähnenswert ist, dass in der deutschen Zeithistorie fast gleichzeitig mit der Vertreibung bereits die nationalsozialistische Polenpolitik in den Blick kam, was zweifellos zwingend war, denn die NS-Politik plante ihrerseits gewaltige Umsiedlungsaktionen und führte sie mit brutalen Mitteln durch. Schon 1961 erschien Martin Broszats Arbeit über die "Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945",
IV.
In den sechziger Jahren schritt die Integration der Heimatvertriebenen - ungeachtet hier und da insbesondere im ländlichen Raum noch vorhandener Spannungen - weiter voran; sie partizipierten in ihrer großen Mehrheit an der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Zwar hatten sie keine eigene parlamentarische Interessenvertretung mehr, doch kandidierten führende Vertriebenenfunktionäre auf sicheren Listenplätzen der CDU, der CSU und auch der SPD (so Wenzel Jacksch, Präsident der Vertriebenen 1964-1966, oder Herbert Hupka, der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, der 1969 für die SPD in den Bundestag einzog und 1972 zur CDU übertrat), wobei insbesondere sozialpolitische Fragen die Brücke zur SPD bildeten.
In den sechziger Jahren rückte die NS-Zeit und in diesem Kontext die verbrecherische Politik gegenüber Polen und den Völkern der Sowjetunion, vor allem auch der Holocaust, in das Zentrum der politisch-kulturellen Diskussion. Es war die Zeit der großen NS-Prozesse, der Verjährungsdebatten des Bundestages und der in Literatur und Theater zunehmend intensiv behandelten NS-Zeit - erinnert sei an Peter Weiss' "Ermittlung", an Rolf Hochhuths "Stellvertreter". Auch die Zeithistorie beschäftigte sich inzwischen mit beträchtlichem Aufwand und bedeutsamen Ergebnissen mit der NS-Politik und ihren Verbrechen.
Die Bedeutung der Vertreibung wurde 1984/85 noch einmal diskutiert im Kontext der Debatte über den 8. Mai 1945, den ein Teil der Öffentlichkeit als Tag der Befreiung, ein anderer vorrangig als Symbol der Niederlage deuten wollte. In diesem Kontext wiesen die Vertriebenen auf ihr Schicksal hin, das aus ihrer Sicht bei der Interpretation des Datums zu berücksichtigen war und dessen Kennzeichnung als Befreiung nicht zuließ. Schließlich würdigte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 das Schicksal der Vertriebenen mit den versöhnenden Worten: "Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen war noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz."
V.
Seit den siebziger Jahren wurde die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft zu einem Thema der sozialgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Vertriebenenfrage wurde zu einem Teilaspekt der Geschichte der Gesellschaft der Bundesrepublik. Zu diesem Themenkomplex wurden eine Reihe von Studien vorgelegt, so z.B. von Marion Frantzioch und Helga Grebing mit ihrem Team.
Andreas Hillgruber konstatierte 1986, dass die "Katastrophe des deutschen Ostens" zu den Forschungsfeldern gehöre, auf denen es einen Stillstand gebe oder die Forschung gar nicht in Gang gekommen sei.
1984 veröffentlichte der angesehene Althistoriker Alfred Heuß ein Buch mit dem Titel "Versagen und Verhängnis" und dem bezeichnenden Untertitel "Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses", in dem er über den Verfall geschichtlichen Bewusstseins in Deutschland Klage führte.
Der historische Bildungsstand in Deutschland sei derart heruntergekommen, dass sich kaum jemand klar mache, was mit der Vertreibung der Deutschen wirklich geschah: "die Dezimierung der Substanz des deutschen Volkes, bei der es nicht nur um eine Unsumme grausamer Einzelschicksale geht, sondern um einen nicht regenerierbaren Verlust, um ein Phänomen also, das man in Analogie zu Genozid mit der Bezeichnung 'Phylozyd' (Stammestötung) belegen müsste, denn es gibt von nun an keine Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutsche usw. mehr. Ihre Sprache bzw. Dialekte, wichtige Bestandteile des deutschen Sprachkörpers, haben aufgehört zu existieren und müssen in 'historisch' gewordenen Wörterbüchern (sofern es welche gibt) nachgeschlagen werden." Das Wissen aber um die Kultur des Ostens gehöre "zum Wissen von uns selbst", und ebenso sollte dazu auch die Erkenntnis gehören, dass sich hierin Hitlers Verbrechensprinzipien gegen die Deutschen selbst kehrten".
Dass die Vertreibung von der Zeithistorie völlig ignoriert wurde, ist indes nicht ganz zutreffend. Wie bereits gesagt, wurde die große Dokumentation erneut aufgelegt. Auch brachte z.B. Wolfgang Benz 1985 ein Taschenbuch mit dem Titel "Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen" heraus, in dem die Vorgeschichte - u.a. auch der Generalplan Ost - dargestellt, die politischen Hintergründe beleuchtet, einige Erlebnisberichte abgedruckt und die Auseinandersetzung mit dem Thema bis in die Gegenwart thematisiert wurde.
1986 veröffentlichte Andreas Hillgruber einen schmalen Band "Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums", das einer der Auslöser von Jürgen Habermas' Attacke auf "revisionistische" Historiker war, durch die der sog. "Historikerstreit" initiiert wurde.
Hillgrubers Thesen wurden im Historikerstreit von der Mehrzahl der Historiker und Publizisten abgelehnt.
Sicherlich spielten bei der zunehmenden Ausblendung der Vertreibung im kollektiven Bewusstsein politische Neuorientierungen in der deutschen politischen Öffentlichkeit eine gewisse Rolle. Die deutsche Öffentlichkeit wollte ganz überwiegend den Ausgleich mit Polen und den anderen osteuropäischen Völkern. 1972 bis 1976 hatte sich eine deutsch-polnische Kommission auf gemeinsame Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie geeinigt, welche die jüngste Geschichte durchaus nicht ausklammerten und sowohl die nationalsozialistische Besatzungspolitik charakterisierten als auch die "territorialen Veränderungen" und "Bevölkerungsverschiebungen" am Ende des Zweiten Weltkrieges benannten, die einzelnen Phasen unterschieden und auch die Integrationsleistung der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit würdigten - in Formulierungen, die beiden Seiten akzeptabel schienen, freilich bei den Vertriebenen auf Widerstand stießen.
Einige andere Momente spielten bei dem Zurücktreten der Erinnerung an die Vertreibung eine nicht unwichtige Rolle:
Nationale Kategorien verblassten im westdeutschen historisch-politischen Bewusstsein.
Es trat eine gewisse, westlich orientierte Territorialisierung des Geschichtsbewusstseins ein, dessen Raumbild den Osten nicht eigentlich mehr umfasste.
Die Erkenntnis von der Einzigartigkeit des Holocaust und der anderen NS-Verbrechen ließ anderes Unrecht, andere Verbrechen verblassen.
In Veröffentlichungen über die Vertreibung hatte eine gewisse Aufrechnungsmentalität eine Rolle gespielt, die zu Recht deutlich kritisiert wurde. Auf diese Weise galt das Thema generell als nationalistisch affiziert, was dazu beitrug, dass es von der jüngeren Generation der Historiker seit den sechziger Jahren kaum - allenfalls am Rande von Nationalismus-Forschungen - aufgegriffen wurde.
Dies könnte sich in der Gegenwart ändern.
VI.
Ist mit der Vereinigung, dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und dem deutsch-polnischen Vertrag vom 14. November 1990, der die deutsche Ost- und die polnische Westgrenze festschreibt und die erweiterte Bundesrepublik zum Nachbarn Polens macht, eine neue Konstellation im Hinblick auf das deutsche Geschichtsbewusstsein entstanden? Zwar begann sich das Geschichtsbewusstsein zu verändern, doch war zunächst im Hinblick auf die vorherrschende Tabuisierung von Flucht und Vertreibung keine grundlegende Umkehrung des Gesamttrends festzustellen. Allerdings mehrten sich bald Anzeichen dafür, diesen Komplex, der angesichts nicht mehr in Frage gestellter Grenzen an Brisanz verloren hatte, nicht weiter auszuklammern. Auch gab es seit 1989/90 neue Möglichkeiten für die historische Forschung, die Ereignisse auf der Basis neu zugänglicher Quellen aufzuarbeiten und mit den bisherigen Ergebnissen zu vergleichen. Und diese Forschung begann man zu einem Teil in kooperativen Formen zwischen deutschen und polnischen Historikern durchzuführen, womit eine neue Phase der Forschung begann.
Was das deutsche Geschichtsbewusstsein anbetrifft, so erschien jedoch noch 1995 im Deutschland Archiv ein Aufsatz mit dem Titel: "Verlieren wir das historische Ostdeutschland aus dem Geschichtsbild?"
In jüngster Zeit aber ist ein Wandel erkennbar. Zu nennen ist die Diskussion um ein "Zentrum gegen Vertreibung", das die Vertriebenenverbände in Berlin errichten möchten, das sich polnische Intellektuelle auch in Breslau vorstellen können und bei dem manches dafür spricht, die Vertreibung der Deutschen nicht nur mit der Vorgeschichte, sondern auch mit den Zwangsmigrationsprozessen im 20. Jahrhundert in Beziehung zu setzen. Bedeutsam sind in diesem Kontext auch die Veröffentlichung von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und die Resonanz hierauf in der Öffentlichkeit sowie die Serie des "Spiegels" sowie die Fernsehserie über die Vertreibung und die Vertriebenen.