Einleitung
Selten hat in der neueren Geschichte eine Person eine solche Machtfülle auf sich vereinigt wie Adolf Hitler. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg am 2. August 1934 gab es verfassungsrechtlich keine Institution mehr, die Hitlers Stellung hätte eingrenzen können. Im Unterschied zum faschistischen Italien, wo der Duce Benito Mussolini (1883–1945) immer mit dem Monarchen und der auf diesen bezogenen Armee und Verwaltung zu rechnen hatte, waren im Führerstaat alle institutionellen Ansatzpunkte für die Entwicklung organisierter Gegenkräfte ausgeschaltet.
Hitlers Macht
Auch innerhalb der NSDAP hatte Hitler nach der Ermordung des SA-Stabschefs Ernst Röhm keinen ernsthaften Widerpart mehr. Seit dieser Zeit galt für das NS-System, "daß es mit Hitler stand und fiel; mit seinen Entscheidungen, seinen ideologischen Fixierungen, seinem politischen Lebensstil und seinem Bedürfnis für die grandiose Alternative Sieg oder Katastrophe" (Karl-Dietrich Bracher).
Dieser "Führerabsolutismus" (Martin Broszat) gründete sich nicht allein auf Hitlers Machtwillen oder besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungs- und Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft. Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen Bezugspunkt der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung durch die "Führer"-Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch verstärken bzw. überhöhen können (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 21).
Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozeß der wechselseitigen Verstärkung von allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöser- und Retterfigur und von dem nunmehr staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. Zu den Voraussetzungen für die erfolgreiche Wirkung dieses "Führer"-Mythos gehörte neben der verbreiteten sozialen Erwartung eines nationalen Retters, der mit seinen außergewöhnlichen Qualitäten aus Not und Krise führen sollte, die politisch-propagandistische Verstärkung dieser Erwartung durch die Gefolgschaft. Sie diente als Sprachrohr für die außerordentlichen Kräfte des charismatischen Führers. Hinzu kamen die Inszenierungen des "Führer"-Kultes durch die Propagandaapparate des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (1897–1945). Diese nutzten vor allem die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolge des Regimes bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Belebung der Wirtschaft sowie später die nationalpolitischen Erfolge bei der Wiederherstellung deutscher Großmachtansprüche. Sie wurden allein Hitler gut geschrieben, um damit auch diejenigen in der Zustimmung zum "Führer" zu bestärken, die dem "politischen Niemand" nur wenig Fähigkeiten und politische Erfolge zugetraut hatten.
Daß die politisch-administrativ in der Tat völlig unerfahrene und unvorbereitete Führungsclique der NSDAP gerade die kritische Anfangsphase durchstehen konnte, lag an der Bereitschaft weiter Teile der traditionellen Machteliten in Bürokratie, Reichswehr und Wirtschaft, mit dem nationalsozialistischen Regime auch deshalb zusammenzuarbeiten und es zu stützen, weil sie sich selbst dadurch eigene Vorteile und die Erfüllung der unterschiedlichsten sozialen und materiellen Erwartungen versprachen. Hinzu kam ein unbestreitbares taktisches Geschick Hitlers, der sich in seiner neuen Rolle als Reichskanzler zunächst vorsichtig abwartend verhielt und sich den Anschein eines honorigen Staatsmannes gab, der nicht nur die Parteiuniform, sondern bei passender Gelegenheit auch den bürgerlichen Anzug trug.
In den ersten Wochen und Monaten seiner Regierungszeit gab er sich Mühe, die Amtsgeschäfte des Regierungschefs regelmäßig und normal zu versehen. Dabei wurde bald erkennbar, daß er trotz seiner fehlenden Regierungserfahrungen die Spielregeln des Regierungshandelns rasch erfaßte und damit zur Überraschung derer, die mit einem schnellen Abwirtschaften des "vulgären" Agitators gerechnet hatten, geschickt umgehen konnte. Dabei fanden die Veränderung des Regierungsstils weg von Parlament und Parteien und hin zu einem autoritären Handeln auch die Zustimmung der konservativen Machtgruppen: Denn Hitler schien den Verfassungswandel, der mit den Präsidialregierungen der früheren Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) und Franz von Papen (1879–1969) begonnen hatte, nur fortzusetzen. Er regierte anfangs vor allem mit der Notverordnungsvollmacht des Reichspräsidenten, und auch die Ausschaltung von Parlament und Kabinett durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 43 ff.) erregte in der Reichsbürokratie und in der Armee keinen Argwohn.
Sitzungen des Reichskabinetts fanden immer seltener statt. Daß damit auch die Möglichkeiten einer Kontrolle Hitlers durch die meist noch deutschnationalen Kabinettsmitglieder entfielen, nahmen diese hin. Abstimmungen hatte es im Kabinett Hitler von Anfang an nicht gegeben. Seit dem Ermächtigungsgesetz konnte Hitler als Reichskanzler unabhängig vom Reichspräsidenten Gesetze verkünden. Über Gesetzesvorlagen und Verordnungen aus den Ministerien wurde per Umlaufverfahren entschieden. Verzeichnete das Protokoll von 1933 noch 72 Sitzungen des Kabinetts, so trafen sich die Minister 1935 nur noch zwölfmal, seit 1938 trat das Kabinett überhaupt nicht mehr zusammen. Der prunkvolle Kabinettsaal in Hitlers neuer Reichskanzlei wurde nie benutzt. Die Regierung zerfiel in eine Vielzahl einzelner Ressorts. Sie standen einzig durch den neu ernannten Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879–1962) in Verbindung mit dem "Führer", sofern sie als Angehörige der nationalsozialistischen Führungsclique nicht ohnehin den unmittelbaren Zugang zu Hitler besaßen. Hitler wurde durch dieses Verfahren "Dreh- und Angelpunkt des Regierungsapparates" (Ian Kershaw), andererseits konnte er sich damit aber aus der alltäglichen Beratungs- und Koordinationstätigkeit heraushalten und dies dem Chef der Reichskanzlei oder anderen Führersekretären überlassen. Das verstärkte den Nimbus des über allen Zwistigkeiten stehenden "Führers" ganz erheblich.
Diese Politik des Teilens und Herrschens, die Machtbefugnisse zersplitterte, um sie dann bei einer obersten Schlichtungsinstanz wieder zu bündeln, ging nicht auf ein konkretes Aktionsprogramm von Hitler und seinen Unterführern zurück. Es basierte eher auf einem intuitiven Handeln, das vorsichtiges Abwarten mit der Fähigkeit zum raschen und geschickten Ausnutzen von günstigen Gelegenheiten und einem ausgeprägten Machtinstinkt verband. Dies ließ Hitler immer erst dann handeln, wenn er seine Autorität beeinträchtigt sah, oder wenn er seine Entscheidung als Konsequenz von Handlungszwängen darstellen konnte.
Ausgestattet mit der neuen Machtfülle verstärkte sich nach 1934 Hitlers Hang zu einem sprunghaften Lebens- und Arbeitsstil, der nun auch die politischen Entscheidungsprozeduren prägte. Bald hetzte er unaufhörlich zwischen Besprechungen und Kundgebungen, Aufmärschen, ersten Spatenstichen und Einweihungen hin und her. Das verstärkte nach außen das Bild vom rastlos tätigen und omnipräsenten "Führer". Die Mitglieder des Kabinetts oder der Regierungsbehörden mußten ihm oft nachreisen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Das stärkte den Einfluß der Führungsgruppen der NSDAP, der Gauleiter und Reichsleiter oder auch der Adjutanten und Sekretäre, die gerade in der Nähe waren. Es bot sich ihnen dadurch vermehrt die Chance, Entscheidungen an den zuständigen Ministerien vorbei durchzusetzen. Gelegentlich führten solche unkoordinierten Verfahren auch zu Entscheidungen, die im Widerspruch zur eigenen Gesetzgebung der Regierung Hitler standen. So hatte beispielsweise Robert Ley die "Verordnung des Führers über die Deutsche Arbeitsfront" Hitler am Rande einer Veranstaltung am 24. Oktober 1934 gleichsam zur Unterschrift untergeschoben und über das Deutsche Nachrichten-Büro schon veröffentlichen lassen, als das Reichswirtschaftsministerium feststellte, daß deren Inhalt eindeutig dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 widersprach.
Diese Panne konnte nur mühsam dadurch kaschiert werden, daß man die zur Durchführung der Verordnung notwendigen Ausführungsbestimmungen nie erließ und damit der Vorgang im Sande verlief. Denn der "Führer" durfte sich natürlich nicht irren. Trotz Hitlers erstaunlichen Gedächtnisses und seiner oft verblüffenden Detailkenntnisse ließen sich so die Fäden der Regierung nicht in der Hand halten. Dieser Regierungsstil förderte mit der Zeit viel mehr das unkoordinierte Eigenleben vieler einzelner Ressorts und führerunmittel- barer Sonderapparate.
Jeden Versuch einer förmlichen Festlegung des neuen Herrschaftssystems lehnte Hitler jedoch ab. Vielfach formulierte er Vorgaben so vage, daß sich mehrere Konzepte zur Umsetzung ergaben; oder er hielt die Dinge so lange in der Schwebe, bis sich eine der Machtgruppen oder ein Unterführer aus dem vielverzweigten Herrschaftssystem durchzusetzen schien. Diese Vorgehensweise läßt sich besonders für die Stabilisierungsphase des Regimes zwischen 1934 und 1936/37 beobachten, als nach der Machtdurchsetzung und nach dem Ende der parlamentarisch-rechtsstaatlichen Ordnung die Grundlegung einer neuen politisch-sozialen Ordnung zur Entscheidung stand. Vor allem in der Innen- und Sozialpolitik zeigte sich Hitler zunehmend unwillig, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Anders war dies in der Außenpolitik, die immer deutlicher seine Handschrift trug.
Führer-Mythos
Wann immer Zweifel an Hitlers Politik entstanden und in der Bevölkerung Klage über die immer wieder auftretenden Engpässe in der Versorgung mit Lebensmitteln geführt wurden oder Kritik am korrupten Verhalten von Ortsgruppenleitern oder anderen Funktionären der NSDAP aufkam, wurden diese Unmutsäußerungen durch die Wirkungsmacht des Hitler-Mythos oder durch die suggestive Überredungsgabe Hitlers aufgefangen. Das bewirkte weniger die vielzitierte Ausstrahlungskraft Hitlers als die kollektiv-psychologisch bei vielen schon vorbereitete bzw. vorhandene Anpassungsbereitschaft und Selbsttäuschung. Sie sahen in Reichskanzler Adolf Hitler den Retter und sozialen Wohltäter, den sie nach Jahren der politischen und sozialen Struktur- und Identitätskrise erwartet hatten, und machten die vermeintlich radikaleren und unfähigen Unterführer für die Unzuträglichkeiten und Zumutungen im Herrschaftsalltag verantwortlich. "Wenn das der Führer wüßte", war ein geflügeltes Wort, das diese Ablenkung und Selbsttäuschung zum Ausdruck brachte.
Der Mythos des Retters und Führers war ideologisch und massenpsychologisch tief verwurzelt. Er berührte sich mit älteren Mythen und Denkweisen aus der Lebenswelt von Monarchie, Militär und Jugendbewegung. Daher neigten traditionelle Führungsgruppen, bürgerliche Schichten und auch Unterschichten zur Fehleinschätzung der politischen und sozialen Wirklichkeit des Führerstaates; sie nahmen vorzugsweise nur das wahr, was sich mit ihren Einstellungen in Übereinstimmung bringen ließ. In fast allen Schichten der Gesellschaft finden sich Beispiele für eine Bewußtseinsspaltung, die mit dem Führer-Mythos verbunden war. So hat Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch (1880–1939), der in ehrverletzender Form von der NS-Führungsclique 1938 aus seinem Amt als Oberbefehlshaber des Heeres verdrängt wurde, ein Jahr später noch immer von dem Erlösungswerk gesprochen, das der "Führer" bewältigen müsse.
Die Frau eines ehemaligen Kommunisten aus Oberbayern bekannte 1935 allen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes gegen Kommunisten zum Trotz: "Alle Tage muß mein Dirndel für den Führer ein Vater Unser beten, weil er uns das tägliche Brot wiedergegeben hat." Der Hitler-Nimbus steigerte sich noch, als das nationalsozialistische Regime nach den Erfolgen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die tatsächlich nur durch die forcierte Aufrüstung möglich wurden, sich seit 1936 auch außenpolitischer Erfolge rühmen konnte, die den verbreiteten Erwartungen auf Wiederherstellung einer deutschen Großmachtposition entsprachen.
Goebbels und sein Propagandaapparat verstärkten den "Führer"-Nimbus und schreckten in der Verehrung des Diktators von keiner heroischen Überhöhung und rhetorischen Entlehnung mehr zurück, um die Identität der Deutschen mit Hitler zu postulieren: "Dieses ganze Volk hängt ihm nicht nur mit Verehrung, sondern mit tiefer, herzlicher Liebe an, weil es das Gefühl hat, daß es zu ihm gehört, Fleisch aus seinem Fleische und Geist aus seinem Geiste ist. [...] Wie wir eng um ihn versammelt stehen, so sagt es zu dieser Stunde der letzte Mann im entferntesten Dorf: Was er war, das ist er, und was er ist, das soll er bleiben, unser Hitler."
Der Propagandaminister enthüllte mit seinen Hymnen auf Hitler, die im krassen Gegensatz zu dessen tatsächlicher Persönlichkeitsstruktur standen, eine tiefere Schicht des Nationalsozialismus, nämlich seinen Charakter als politische Religion. Das bedeutete die Indienstnahme von religiösen Formen, der Liturgie, der Heiligenverehrung und der Heilsverkündung für die Zwecke einer weltlichen politischen Bewegung. Durch den Appell an das Jenseitige und an die Erlösungsbedürfnisse ihrer Anhängerschaft wollte sie eine intensivere, nicht mehr hinterfragbare Sicherung ihres Machtanspruches erreichen. Sichtbar wurden solche Formen des pseudoreligiösen Kultes in den Masseninszenierungen des Regimes mit ihren nächtlichen Kundgebungen und Totenehrungen. Spektakulärer Höhepunkt war etwa die Inszenierung eines bezeichnenderweise sogenannten "Lichtdoms", wobei durch die zusammenfließenden Strahlen von Flakscheinwerfern der Eindruck eines riesigen kuppelähnlichen Raumes entstand.
Wie diese pseudoreligiöse Verehrung auf Hitler zurückwirkte, ist schwer zu bestimmen. Vermutlich verstand er bis zur Mitte der dreißiger Jahre den Kult um seine Person als Inszenierung und Mittel zur Integration von Partei und Volk. Danach mehren sich die Anzeichen dafür, daß er selbst daran glaubte und zum Opfer seines eigenen Mythos wurde. Denn immer häufiger sprach er seither von seiner historischen Mission, zu der er von der "Vorsehung" berufen sei. "Ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt", äußerte er im März 1935 zum ersten, aber nicht zum letzten Mal voller Selbstgefälligkeit. Diese Überzeugung, von der Vorsehung auserwählt zu sein, gab seinen ideologischen Vorstellungen und dem eigenen politischen Selbstverständnis eine zusätzliche Bestätigung und erklärte die zunehmende Entschlossenheit, seine ideologischen Visionen zu vollstrecken und dabei alle Schranken des politischen Kalküls zu überspringen.
Regierung und Verwaltung
Daß Hitler seine dogmatischen Herrschaftsziele in die Tat umsetzen konnte, lag jedoch nicht nur in seinem "missionarischen Vollstreckungswillen" (Joachim Fest) begründet. Es war auch und vor allem auf die Machtstrukturen des Regimes sowie auf die ideologischen und politischen Dispositionen von Hitlers Helfern zurückzuführen, die zur Verwirklichung der mitunter nur sehr vage formulierten Weltanschauungsformeln bereit waren, sei es aus Gründen der eigenen Machtbehauptung oder sei es aus einem ideologischen Eifer, den sie mit Hitler teilten.
Die Konsequenz und Energie, mit denen das nationalsozialistische Regime seine Macht ausbaute sowie die wirtschaftlichen, rüstungspolitischen und militärischen Vorbereitungen für seine Eroberungspläne vorantrieb und umsetzte, stehen auf den ersten Blick in einem scheinbaren Widerspruch zu den unübersichtlichen Herrschaftsstrukturen. Auch nach der neuerlichen Konzentration der Macht im August 1934 erreichte das Regime bis zu seinem Ende 1945 zu keiner Zeit eine feste und überschaubare Ordnung von Regierung und Verwaltung. Vielmehr befanden sich die verschiedenen Machtgruppen, die 1933 Hitlers Machtübernahme erst ermöglicht hatten und die fortan zu den Trägern des Regimes gehörten, in einem Zustand ständiger Rivalitäten und Kompetenz- bzw. Machtverlagerungen.
Zunächst schienen die Repräsentanten der traditionellen Machteliten, neben der Staatsbürokratie die Reichswehr und die Großwirtschaft, gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung allein schon aus Gründen ihrer administrativen Qualifikation und politischen Erfahrung das größere Gewicht zu besitzen. Dies verschob sich seit 1934 und dann verstärkt seit 1937/38 eindeutig zugunsten der nationalsozialistischen Parteiführer und ihrer Apparate. Sie waren in dem Machtbündnis von Anfang an das dynamischere Element, getrieben von Aufstiegswillen, Machthunger, einer mentalen Abneigung gegen Bürokratie und Justiz mit ihren strengen Normen und Verwaltungsvorschriften sowie von ideologischem Eifer.
Aber auch innerhalb des nationalsozialistischen Machtkomplexes gab es keine politisch organisatorische Geschlossenheit. Kennzeichnend war ein permanenter Machtkampf zwischen der politischen Organisation und der Parteiarmee von SA und SS sowie zwischen den Unterführern der einzelnen Sonder- oder Nebenorganisationen. Die Ursachen für diese ständigen Rivalitäten und Kompetenzkonflikte lagen in den unterschiedlichen Erfolgen der einzelnen Unterführer bei der Verschmelzung ihrer Apparate mit staatlichen Einrichtungen, aber auch in der unterschiedlichen Anerkennung, die sie bei Hitler erfuhren. Alle Versuche, das Verhältnis zwischen dem Staat und seiner Verwaltung einerseits und der Partei mit ihren Untergliederungen andererseits dauerhaft zu klären, scheiterten. Dies wurde durch Formeln überdeckt, die zwar die Unterordnung des Staates unter die Partei ("Die Partei befiehlt dem Staat") proklamierten, tatsächlich aber nur die Unterminierung und Vereinnahmung der staatlichen Verwaltung bedeuteten. Der Dualismus zwischen Partei und Staat, dessen Konfliktlinien noch viel komplizierter verliefen als es diese Formel andeutet, gehörte zum Strukturmerkmal des Regimes. Vor allem sicherte dieses amorphe Gebilde des "Führerstaates" die unangefochtene Autorität Hitlers, der den einzigen Bezugspunkt in dieser polykratischen Ordnung darstellte. Auf seinen vermeintlichen oder tatsächlichen "Führerwillen" konnten sich alle Machtträger berufen, seine Entscheidung war ausschlaggebend in den vielen Rivalitäten. Wer den unmittelbaren Zugang und die Gunst Hitlers besaß, der galt im Machtkomplex mehr als eine noch so große Behörde.
Bündnispartner
Zusammengehalten wurde das permanent von inneren Machtkämpfen bestimmte Regime nicht nur durch die Autorität Hitlers, sondern auch durch eine zumindest teilweise Übereinstimmung der einzelnen Machtträger in ihren Herrschaftszielen. Gewollt war ein starker autoritärer Staat, um politischen Einfluß und sozialen Status gegen die Kräfte von Parlamentarismus und Demokratie zu sichern. Das Gewaltmonopol der Reichswehr sollte nicht nur behauptet, sondern auch durch die Wiederaufrüstung zu einem Instrument der Revisions- und Eroberungspolitik ausgebaut werden. Die Mitsprache der organisierten Arbeiterbewegung sollte ausgeschaltet und die Unternehmer wieder zu "Herren in ihrem Hause" gemacht werden. Auch die Nationalsozialisten schienen ähnliche Ziele zu verfolgen oder verbargen hinter solch konservativ-autoritären Rezepten ihre teilweise viel weitergehenden Ziele. Ihre Methoden waren zwar ungleich radikaler, aber darüber wurde zunächst großzügig hinweggesehen. Der Ausschaltung und Verfolgung der politischen Linken und des liberal-demokratischen Verfassungssystems hatten die konservativen Bündnispartner zugestimmt und auch die Zerstörung des Rechtsstaates hingenommen. Auch die Ausgrenzung der rassenpolitisch stigmatisierten Minderheit vollzog sich zunächst mit Zustimmung oder Duldung der konservativen Regierungspartner.
Innerhalb dieses Machtkartells fand eine ständige Bewegung und Verschiebung der Machtverhältnisse statt: Die SS triumphierte 1934 über die SA, die staatliche Bürokratie verlor immer mehr Einfluß an neue nationalsozialistische Sonderbehörden, die vom Straßenbau bis zur Lenkung der Wirtschaft die alleinige Entscheidungsbefugnis beanspruchten und die Ministerien und Verwaltungen zu bloß ausführenden Organen degradierten. Schließlich sahen sich Justiz und Polizei in ihrer institutionellen Eigenständigkeit von der SS eingeschränkt und unterminiert, woran sie selbst durch eine allzu große ideologische Zustimmungs- und Anpassungsbereitschaft kräftig mitgewirkt hatten. Adolf Hitler war nicht der neutrale Schiedsrichter oder gemäßigte Vermittler zwischen den Machtgruppen, sondern die radikalen Impulse gingen von ihm aus oder wurden von ihm gebilligt. Er war, was viele Zeitgenossen nicht begreifen wollten, das radikale Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung. Sie richtete nach dem Abschluß der "Machtergreifung" zunächst ihre Energien darauf, die einzelnen Sektoren von Staat und Gesellschaft durch neue Zwangsverbände zu kontrollieren und zu organisieren. Diese sollten nach der Zerstörung oder der Gleichschaltung der alten Interessenverbände den totalitären Herrschaftsansprüchen des Nationalsozialismus unterworfen werden.
So wuchs beispielsweise die von dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley (1890–1945) gegründete Deutsche Arbeitsfront (DAF) durch die Übernahme der Mitglieder der zerschlagenen demokratischen Gewerkschaften und die Zwangsmitgliedschaft der Arbeitnehmer in der neuen NS-Organisation rasch zu einer Massenorganisation an (1939 insgesamt 25,3 Millionen) und verfügte über Zehntausende von haupt- und ehrenamtlichen Funktionären (1939: 44500). Entsprechend versuchte Ley, die Kompetenzen der DAF auszuweiten. Mußte sich die DAF anfänglich auf die bloße sozialpolitische Betreuungs- und Propagandaarbeit beschränken, so riß Ley allmählich neue Betätigungsfelder an sich, vor allem im Bereich der Berufserziehung, des Wohnungs- und Siedlungswesens, im Freizeitbereich und Sozialversicherungswesen. Dies geschah immer in dem Bemühen, aus Gründen der Selbstbehauptung und Attraktivität der DAF quasi-gewerkschaftliche Funktionen zu verschaffen. Damit wollte die DAF die traditionelle Praxis der Arbeiterbewegung übernehmen.
In ihrem Organisations- und Expansionsdrang war die DAF anfangs noch auf den Widerstand der Privatwirtschaft und des Reichswirtschaftsministeriums bzw. des Arbeitsministeriums gestoßen, die ihre Macht darauf stützen konnten, daß sie beide zunächst unentbehrlich waren. Die Industrie und das Wirtschaftsministerium für die Rüstungspolitik des Regimes, der deutschnationale Reichsarbeitsminister Franz Seldte (1882–1947) als Gegengewicht gegen den mächtigen DAF-Führer Robert Ley. "Selbstverständlich wäre Ley besser als Seldte", notierte Goebbels 1943 als Antwort Hitlers auf seine Kritik an dem schläfrigen Reichsarbeitsminister, "aber der Führer vertritt [...] den Standpunkt, Seldte könne er jederzeit auswechseln, während das bei Ley dann nicht mehr der Fall sei". Darum blieb Seldte im Amt und bildete ein wenn auch schwaches Gegengewicht gegen Ley, der, gestützt auf das große Gewicht und die vollen Kassen seiner Massenorganisation, über eine eigene Hausmacht und über den direkten Zugang zu Hitler verfügte.
Verklammerung von Partei und Staat
Erfolgreich in ihrer Machteroberung waren einige Gau- und Reichsleiter, die zu ihren Partei- auch entsprechende Staatsämter erreichen konnten: Goebbels als Gauleiter von Berlin und Reichspropagandaleiter der NSDAP erhielt im März 1933 das ersehnte Ministeramt (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 42). Schließlich konnte er als Präsident der Reichskulturkammer im gesamten kulturpolitischen Bereich auch über die gleichgeschalteten Standesverbände von den Schriftstellern und Theaterleuten bis hin zu den Inhabern von Zeitungskiosken verfügen. Eine ähnliche Machtfülle durch Parallelämter eroberte Walter Darré (1895–1953): Seit 1931 Leiter des (Partei-)Amtes für Agrarpolitik, wurde er 1933 nach dem Rücktritt Alfred Hugenbergs Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und 1934 als Reichsbauernführer schließlich der Leiter des Reichsnährstandes, der Organisation aller Bauern und Agrarproduzenten zur Lenkung des Agrar- und Ernährungsbereichs.
Noch umfangreicher und weiter verzweigt wurde schließlich die Macht- und Ämterfülle von Hermann Göring, der sich bald rühmen konnte, der zweite Mann im Reich Adolf Hitlers zu sein: Seit 1932 Reichstagspräsident, wurde er 1933 kommissarischer preußischer Innenminister und schließlich auch preußischer Ministerpräsident sowie auf Reichsebene Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Hitler. 1934 wurde er ferner Reichtsluftfahrtminister sowie Reichsforst- und Reichsjägermeister. 1935 wurde Göring offiziell zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt und 1936 zunächst Rohstoff- und Devisenkommissar sowie dann Beauftragter für den Vierjahresplan. Dies brachte ihm de facto die Rolle eines Diktators für die gesamte Wirtschafts- und Arbeitseinsatzpolitik ein, vorbei an dem klassischen Wirtschaftsressort, das weiter bestand.
Über die Vereinnahmung der Polizeipräsidien in den Ländern verlief der Aufstieg des Reichsführers SS Heinrich Himmler (1900–1945) bis hin zum Reichsinnenminister (1943) und zur militärischen Funktion des Befehlshabers des Ersatzheeres (1944).
Das System der Verklammerung von Partei- und Staatsämtern setzte sich bis auf die Ebene der NS-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister hinunter fort. Daß die Eroberung von Staatsämtern nicht unbedingt eine Machtsteigerung innerhalb des Regimes bedeuten mußte, zeigte die Rolle der insgesamt dreißig Gauleiter. Fast alle von ihnen – eine Ausnahme war der radikale Antisemit und Gauleiter in Franken Julius Streicher – durften sich zwar mit staatlichen Ämtern schmücken, wobei einige bald feststellen mußten, daß die Parteifunktion wichtiger als der Ministertitel war. Nur zwei von ihnen – Goebbels und Bernhard Rust (1883–1945) – errangen aber Ministerämter. Nur einige erreichten zusätzlich das Amt eines preußischen Oberpräsidenten bzw. eines bayerischen Landesministers, was ihnen immerhin auf regionaler Ebene eine starke Position sicherte. Umgekehrt hielten sich die Einflußmöglichkeiten derer, die zusätzlich zu Reichsstatthaltern, das heißt zu den unmittelbaren Repräsentanten der Reichsgewalt in den gleichgeschalteten Ländern ernannt worden waren, eher in Grenzen. Das änderte sich erst mit den territorialen Eroberungen des Reiches seit 1938, mit denen sich ein neues zukunftsreiches Betätigungsfeld eröffnete.
Gesellschaftliche Kontrolle und Macht verschaffte sich die NSDAP zudem über ihre zahlreichen Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Ein ganzes Netzwerk mit einer teilweise ungeregelten Kompetenz legte sich über die Gesellschaft und sicherte den zahlreichen Unterführern immer größeren Einfluß. Baldur von Schirach (1907–1974) beispielsweise, der sich als Führer der HJ (Hitlerjugend) in der Phase der Machtübernahme behauptet hatte und zum Reichsjugendführer ernannt worden war, beanspruchte nun die Kontrolle über den gesamten Erziehungsbereich. Dies rief den Widerstand des ebenfalls nationalsozialistischen Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust sowie den des Wirtschaftsministeriums, das die Interessen der gewerblichen Wirtschaft im Lehrlings- und Ausbildungsbereich vertrat, hervor. 1936 hatte es Schirach dann doch erreicht, die HJ zur Staatsjugend zu machen und damit eine Bresche in den staatlichen Erziehungsanspruch des Schulministeriums zu schlagen.
QuellentextJugend im NS-Staat
Wenn Hitler über Erziehung spricht, fällt zunächst auf, daß er dazu Begriffe benutzt wie "hineinhämmern", "hineinbrennen" oder "heranzüchten". Auch vom "gegebenen Menschenmaterial" ist die Rede. Die Entwicklung der Persönlichkeit des einzelnen als Maxime jeder aufklärerischen Pädagogik wird hier in aller Deutlichkeit abgelehnt. Hitlers Ideal ist vielmehr der widerspruchslos Gehorchende. Ohne Umschweife erklärt er, was ein Jugendlicher können muß: "Er soll lernen, zu schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht schweigend zu ertragen." Was Hitler unter "Erziehung" versteht, skizziert er in einem in sich geschlossenen Abschnitt von "Mein Kampf", dem Abschnitt "Erziehungsgrundsätze des völkischen Staates". Die entscheidende Passage lautet: "Der Völkische Staat hat [...] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie [...] einzustellen [...] auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung."
Das "Heranzüchten kerngesunder Körper" war für Hitler bei den Jungen Erziehung zum Soldaten. Die Mädchen sollten zu Frauen erzogen werden, die "wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen". "Charakter und Willensbildung" bezog sich in Hitlers "völkischer Erziehung" nicht auf das Individuum, sondern auf das zentral geführte "völkische Ganze". Dies stellt das Gegenteil einer emanzipatorischen Pädagogik dar, die das individuelle Selbstbewußtsein und das individuelle Verantwortungsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler stärken will. Die wissenschaftliche Schulung stand dabei an letzter Stelle. Die Volksschüler, die 90 Prozent der Gesamtschülerzahl darstellten, bekamen selbst Grundwissen nur in grob verkürzter Form vermittelt. Die Verachtung der "Bildung" bei Hitler und der NS-Erziehung fand erst da ihre Grenzen, wo die notwendigen Eliten des NS-Staates auf fundiertes Fachwissen nicht verzichten konnten. [...]
Von besonderer Bedeutung ist dabei Hitlers Aussage, daß die Jugendlichen ihr ganzes Leben nicht mehr frei würden, und sein Zusatz, sie seien jedoch glücklich dabei. Die Erzeugung dieses Glücksgefühls, das mit einer völligen Entmündigung der Jugendlichen einherging, war in der Tat ein Schlüssel für den Erfolg bei der Heranzüchtung von Soldaten, die freudig in den Tod gehen sollten.
Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild, Frankfurt am Main 1996, S. 20 f.
Konkurrenz um Kompetenzen
Neben den Konkurrenzansprüchen durch die Ämter der NSDAP und Massenorganisationen mit Hoheitsanspruch und Zwangscharakter gab es andere Formen und Techniken der Erosion des an Rechtsnormen gebundenen Staatsapparates vor allem in Gestalt der führerunmittelbaren Sonderverwaltungen, die bald in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung und Daseinsvorsorge geschaffen wurden. Sie hatten ihren Anfang in der scheinbar harmlosen Einrichtung des führerunmittelbaren Amtes des "Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen" genommen, mit dem Fritz Todt (1891–1942) in Konkurrenz zum Reichsverkehrsministerium den populären Straßen- und Autobahnbau forcieren sollte. Bald gab es einen "Führer des Reichsarbeitsdienstes". Er war zwar formal als Staatssekretär dem Reichsinnenminister unterstellt, tatsächlich fungierte er aber als selbständiger Leiter einer Pflichtorganisation des Arbeitseinsatzes sowie einer vormilitärischen Ausbildung. Letztere Funktion war typisch für die Verquickung von Staat und Partei, aber auch für die Konkurrenz von Parteieinrichtungen zur Wehrmacht.
Sehr rasch entstand von der Organisation der Jugend über die Lenkung der Wirtschaft bis zur Verfügung über die staatliche Polizei durch die Parteiorganisation SS ein dichtes und unübersichtliches Netz von Sonderbevollmächtigten, Reichskommissaren, Generalbevollmächtigten und Beauftragten des Führers, das sich ohne genaue Kompetenzabgrenzung in Konkurrenz zu bestehenden Verwaltungsorganen ausbreitete. Stets waren es Sonderaufgaben, die bald eine organisatorische Eigendynamik rechtfertigten und immer mehr Kompetenzen an sich banden.
Als die Bauverwaltung der Reichshauptstadt Berlin Hitlers Vorstellungen über den Ausbau seiner Kapitale nicht energisch genug vorantrieb, schuf er für seinen Privatarchitekten Albert Speer (1905–1981) das Amt des "Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt", das Speer fast diktatorische Vollmachten im Bereich der kommunalen Bau- und Verkehrspolitik verlieh. Auf die Widerstände von Reichsbank, Wirtschaftsministerium und Privatwirtschaft gegen eine aller ökonomischen Vernunft zuwider laufende Aufrüstungspolitik reagierte Hitler 1936 mit einer Forcierung der Autarkiepolitik. Sie sollte die rüstungswirtschaftlich wichtigen Bereiche der deutschen Wirtschaft von den Spielregeln der Marktwirtschaft teilweise abkoppeln und von ausländischen Zulieferungen unabhängig machen. Hitler beauftragte Hermann Göring mit der Durchführung des Vierjahresplanes, einer Art Kommandowirtschaft zur Steuerung von so wichtigen Bereichen wie der Rohstoff-, Arbeitskräfte- und Devisenbeschaffung, der Eisenerzförderung sowie der Produktion von synthetischen Ersatzstoffen. Göring machte aus dem Auftrag quasi ein Überministerium, das quer zu allen anderen Institutionen weite Teile der Wirtschaft steuern konnte und diese kriegsfähig machen sollte. Eine schwierige Aufgabe, so Hitlers Konzept, bedürfe vor allem des richtigen Mannes an der richtigen Stelle, der mit umfassenden Sondervollmachten, eher durch seinen Machtwillen und -ehrgeiz als durch Sachkompetenz ausgezeichnet, sich in einem Konkurrenzkampf mit der staatlichen Verwaltung durchsetzen mußte und zugleich auch im Wettlauf um die Gunst des "Führers" zu überzeugen hatte.
Wie weit die Zersetzung der staatlichen Verwaltungskompetenzen schon fortgeschritten war und welche Radikalisierungen eine solche Entgrenzung von Staat und Partei mit sich bringen konnte, zeigte die Ernennung Himmlers zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" am 7. Oktober 1939. Damit wurde dem Reichsführer SS die Zuständigkeit für die brutale Germanisierungs- und Umsetzungspolitik in Osteuropa mit allen Vollmachten bis hin zur gewaltsamen Deportation von Juden und Polen sowie zur Umsiedlung Volksdeutscher übertragen. Die Einrichtung dieser Behörde, die von Himmler selbstherrlich ausgebaut wurde, gründete sich auf einen geheimen Führererlaß, der nur den "obersten Reichsbehörden" bekannt war, nicht aber der allgemeinen Verwaltung. Daß dies einen Bruch mit jeder Rechtsbindung von Verwaltung bedeutete, bestätigte zwar das Reichsverwaltungsgericht, doch an dem Verwaltungschaos und vor allem an der Vernichtungspolitik per Führererlaß änderte das nichts.
Daran war deutlich geworden, wie sich die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsziele durch die Einrichtung konkurrierender und führerunmittelbarer Ämter beschleunigen ließ, ohne die Existenz klassischer Ressorts aufzuheben. Sie verloren "nur" ihre zentrale Zuständigkeit, arbeiteten aber weiter und erweckten ein Bild scheinbarer Normalität, obwohl der auf Sondervollmachten beruhende NS-Staat, der sich nicht an die Regeln des Verwaltungsrechtes gebunden fühlte, mit seinem Schlingenwerk sie schon längst eingeschnürt und entmündigt hatte. Was die Männer in diesen neuen, sekundären Parteibürokratien zu ihrem Handeln antrieb, war der Wunsch nach Beschäftigung und Aufstieg, nach materieller Sicherung und sozialer Anerkennung bzw. Einfluß, gepaart mit Anpassungsbereitschaft und einem Bedürfnis nach Organisation und Technokratie. Nicht wenige von ihnen verstanden sich aber auch als Vertreter der völkisch-nationalsozialistischen Ideologie, die sie in die Praxis umsetzen wollten.
Soziale Kontrolle durch die NSDAP
Durch den gewaltigen Zustrom von Mitgliedern und ihre organisatorische Expansion war die NS-Bewegung im Alltag der deutschen Gesellschaft fast überall präsent. Die Mitgliederzahl hatte sich allein zwischen Januar und März 1933 verdreifacht, und insgesamt stieg sie bis 1935 von fast 850000 auf mindestens zweieinhalb Millionen an, um sich dann bis zum Kriegsbeginn auf über fünf Millionen zu erhöhen. Ähnliche dramatische Steigerungen erlebte die SA, die von 450000 Mitgliedern Anfang 1933 auf beinahe drei Millionen zum Zeitpunkt der Röhm-Affäre anstieg, um dann nach ihrem politischen Bedeutungsverlust bis 1938 wieder auf 1,2 Millionen zu schrumpfen. Auch andere Parteigliederungen und angeschlossene Verbände expandierten gewaltig, oft durch verdeckte oder offene Formen des Zwanges herbeigeführt. Damit vermochte die NSDAP ihrem neuen Ziel der sozialen Kontrolle und Indoktrinierung gerecht zu werden, nachdem sie mit der erfolgreichen Machtübernahme 1933/34 ihre ursprüngliche Aufgabe erreicht hatte.
Zwar war die NSDAP damit in viele Teilherrschaften zerfallen, aber ihre Möglichkeiten der Kontrolle und der Mobilisierung reichten fast bis in jeden Winkel des Reiches. Zudem bot sie für Hunderttausende, von deren Engagement sie getragen war, Arbeit und Brot und vor allem ein Maß an sozialer Anerkennung und Macht, wovon viele vorher nur geträumt hatten. 1937 war die Zahl der Politischen Leiter schon auf 700000 angestiegen, ohne die Funktionäre der Nebenorganisationen mitzurechnen. Im Krieg lag die Zahl des Führungskorps bei zwei Millionen. Die Tendenz zur Ausweitung des Dienstleistungssektors erhielt mit dem NS-Regime einen gewaltigen Schub und mit ihr die materielle Besserstellung der Bediensteten, vor allem im Bereich der Parteibürokratie, die mit vergleichsweise hohen Gehältern und einem dreizehnten Monatsgehalt lockte.
Die Kreis- und Ortsgruppen mit ihren Block- und Zellenwarten konnten, und das gab vielen von ihnen eine besondere Form der Befriedigung, bis in das Leben des einzelnen Mitmenschen hineinwirken. Die NSDAP hatte beispielsweise politische Leumundszeugnisse für Beamte auszustellen, die befördert werden wollten. Für Anwärter des öffentlichen Dienstes sowie für Personen, die soziale Unterstützung und Ausbildungshilfen beantragten, war ebenfalls das Votum der Ortsgruppe entscheidend. Auch Gewerbegründungen und Empfehlungen für die Stellung als "UK" (unabkömmlich), die vom Kriegsdienst befreite, bedurften der Befürwortung der Partei. Der Blockleiter hatte nicht nur die Mitgliedsbeiträge für die Partei und die "NSV" (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) einzusammeln, sondern trieb mit seinen Helfern bis hin zu den HJ-Pimpfen auch die Spenden für das Winterhilfswerk, das nationalsozialistische Unterstützungswerk für Bedürftige, und die Beiträge für die Eintopfsonntage ein, die die Solidarität mit den ärmeren "Volksgenossen" durch Verzicht auf üppigere Mahlzeiten demonstrieren sollten. Zu Beginn des Krieges wurde den Orts- und Kreisgruppenleitern schließlich die Verteilung der Lebensmittel- und Kleiderkarten im Rahmen der Zwangsbewirtschaftung übertragen. Diese Aufgaben boten nicht wenigen kleinen Parteigenossen die Chance zur symbolischen Statuserhöhung und auch zur Schikane durch die Autorität der Parteiuniform.
Aufstieg der SS
Die Entwicklung der kleinen Schutzstaffel (SS) von einer ursprünglichen Unterabteilung der SA zur mächtigsten Gliederung des Nationalsozialismus und zum alles beherrschenden "SS-Staat" war weder vorhersehbar noch bloßer Zufall. Im Aufstieg der SS fanden die Herrschaftsformen und -ziele des Nationalsozialismus ihren deutlichsten organisatorischen Niederschlag. Die SS war sowohl die reinste Verkörperung der nationalsozialistischen Konzeption einer Weltanschauungsorganisation als auch das vollkommene Instrument der Führergewalt.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als sollte der Reichsführer SS Heinrich Himmler mit seiner kleinen Elitegruppe von 56000 "Parteisoldaten" bei der Verteilung von Ämtern und Machtpositionen im Frühjahr 1933 leer ausgehen. Himmler wurde am 9. März 1933 lediglich kommissarischer Polizeipräsident von München und erhielt von dort dann Zugriff auf die politische Polizei in Bayern. Die wichtigste Position bei der Polizei in der Reichshauptstadt und in Preußen hatte schon Göring okkupiert. Zur Machtrivalität der beiden kam ein konzeptioneller Gegensatz. Während Göring mit dem Geheimen Staatspolizeiamt eine organisatorisch von der übrigen Polizei getrennte, aber innerhalb der staatlichen Verwaltung verbleibende politische Polizeieinheit aufbauen wollte, strebte Himmler von Anfang an eine aus dem allgemeinen Polizeiapparat herausgelöste und jeder politisch-administrativen Kontrolle entzogene politische Polizeitruppe an, bei der die gesamte politische Überwachung konzentriert und die Verfolgungsmaßnahmen institutionalisiert werden sollten.
Das entsprach Entstehung und Selbstverständnis der SS, die als "Stabswache" zwischen 1923 und 1925 begründet bzw. als Schutzstaffel umorganisiert worden war. 1929 war sie dann von dem zierlich und schüchtern wirkenden Heinrich Himmler, einem gelernten Diplomlandwirt und Tierzüchter als Reichsführer SS übernommen und zu einer ordensähnlichen Organisation ausgebaut worden. Der Aufbau des elitären, führerunmittelbaren Ordens, dessen Personalauswahl nicht nach den Kriterien von Besitz, Bildung oder Herkunft, sondern von Rasse und Weltanschauung erfolgte, entsprang Himmlers rassenbiologischen Vorstellungen sowie seinem Bedürfnis nach einer möglichst engen Bindung an seine neue Vaterfigur Hitler. Zugleich betrieb der Auslesefanatiker und Bürokrat die Errichtung einer Parteipolizei, die er mit dem Aufbau des Sicherheitsdienstes (SD) 1931 als Nachrichten- und Überwachungsorgan der Partei unter Reinhard Heydrich (1904–1942) vorbereitete.
Schon früh hatte Himmler mit der Ausdifferenzierung der SS begonnen. Am 17. März 1933 wurde die "Leibstandarte-SS Adolf Hitler" unter Sepp Dietrich (1892–1966) gebildet, bald darauf die "Politischen Bereitschaften", die im Herbst 1934 nach der Niederschlagung der SA zur "SS-Verfügungstruppe" umgebildet wurden und den Kern der späteren "Waffen-SS" bildeten. Eine weitere Säule des SS-Imperiums war mit den Wachmannschaften der Konzentrationslager, den SS-Totenkopfverbänden, entstanden, die ihren Ausgang im Konzentrationslager Dachau genommen hatten. Am 30. Juni 1934 hatte die SS die Alleinzuständigkeit für sämtliche Konzentrationslager erhalten, die bis dahin noch vielfach unter SA-Kontrolle gestanden hatten. Mit der Ernennung von Theodor Eicke (1892–1943), bisher Lagerkommandant von Dachau, zum "Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachverbände", war die Voraussetzung für die Vereinheitlichung und Systematisierung des außerstaatlichen Terrorsystems geschaffen.
Damit übertraf Himmler den entscheidenden Etappenerfolg, den er bei der Kontrolle über die politische Polizei in den Ländern bereits bis zum Frühjahr 1934 in den nichtpreußischen Ländern errungen hatte. Am 20. April 1934 ernannte Göring Himmler auch zum Inspekteur der Preußischen Geheimen Staatspolizei und machte den Reichsführer SS, den er als Verbündeten im inneren Machtkampf suchte, damit zum Herren über die gesamte politische Polizei des Reiches. Wie bei der Übernahme der Polizeigewalt in den übrigen Ländern folgte auch im April 1934 der seinem Chef intellektuell überlegene Heydrich als neuer Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes nach. Er betrieb als Organisator des Terrors die schrittweise Verschmelzung von Gegnerermittlung durch den parteieigenen Sicherheitsdienst mit der Gegnerbekämpfung durch die staatliche Politische Partei. Das Gestapogesetz von 1936 entzog deren Tätigkeit nicht nur jeder richterlichen Nachprüfung, sondern schrieb auch ihre Herauslösung aus der allgemeinen Verwaltung fest.
SS-Staat
Mit diesen einzelnen Schritten war der SS-Staat vorgezeichnet, es fehlte noch Himmlers Zugriff auf die allgemeine Polizei, das heißt auf Schutzpolizei, Gendarmerie und Kriminalpolizei. Das vollzog sich mit der Ernennung von Himmler zum "Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern" am 17. Juni 1936. Damit wurde einerseits in Abkehr der vormaligen Länderzuständigkeiten die Zentralisierung der Polizei auf Reichsebene abgeschlossen, andererseits die Polizei endgültig durch die SS vereinnahmt. In der eigentümlichen Amtsbezeichnung Himmlers kam sowohl diese Vereinnahmung zum Ausdruck als auch die weitere Ausdehnung der Kompetenzen von Himmler und seiner SS gegenüber der staatlichen Verwaltung (und bald auch der Wehrmacht). Denn als Staatssekretär im Reichsinnenministerium unterstand Himmler zwar "persönlich und unmittelbar" dem Innenminister, als Reichsführer SS unterstand er jedoch nur dem "Führer". Diese führerunmittelbare Stellung wog allemal schwerer als die Unterstellung als Polizeichef und Staatssekretär unter einen Minister, der zwar auch alter Nationalsozialist war, jedoch über keine Hausmacht verfügte. Himmler war zu diesem Zeitpunkt schon stark genug, daß er nicht mehr ein eigenes staatliches Büro als "Chef der deutschen Polizei im Innenministerium" unterhalten mußte. Vielmehr besorgte diese Aufgabe ein Amt innerhalb der SS-Zentrale. Damit wurde die Polizei aus dem Verwaltungsstaat herausgelöst.
Diesem entscheidenden Schritt ließ Himmler rasch eine organisatorische Umstrukturierung des gesamten SS-Komplexes folgen, die eine Vielzahl neuer, sich ständig umorganisierender Ämter schuf, die sich "wie eine riesige Krake mit ihren institutionellen Fangarmen in alle Bereiche von Staat, Gesellschaft und Partei hineinfraß" (Bernd Jürgen Wendt). Die Polizei wurde in zwei Hauptämter eingeteilt: die Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie) unter SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Kurt Daluege, und die Sicherheitspolizei (Politische Polizei, Kriminalpolizei und Grenzpolizei) unter SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der in Personalunion auch weiterhin Chef des Sicherheitsdienstes (SD) blieb.
Der Prozeß der Verschmelzung von staatlichen Ämtern und Parteiapparaten kam zum Abschluß, als am 27. September 1939 die zentralen Ämter der Sicherheitspolizei und des parteieigenen SD zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengefaßt wurden. Zur stärkeren Integration der verschiedenen Ämter, die mittlerweile entstanden waren, wurde bereits im November 1937 in jedem Wehrkreis, der zugleich einem SS-Oberabschnitt entsprach, ein "Höherer SS- und Polizeiführer" (HSSPF) eingesetzt, der im Mobilmachungsfall die gesamte SS-Polizeimacht in Konkurrenz zur Wehrmacht koordinieren und führen sollte. Mit dem Beginn der kriegerischen Eroberungspolitik sollten die HSSPF eine erweiterte Kompetenz bei der Etablierung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft und insbesondere bei den "rassischen Säuberungen" im Osten übernehmen.
Als "weltanschaulicher Stoßtrupp und Schutzstaffel der Ideen des Führers", wie Heydrich bereits 1935 die Konzeption der SS beschrieben hatte, sollte sie eine Einrichtung sein, die "den politischen Zustand des deutschen Volkskörpers sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime feststellt und mit jedem Mittel beseitigt". Diese Gegnerbekämpfung müsse mit technisch-polizeilichen und mit geistigen Mitteln "an allen Fronten" geführt werden. Denn, so formulierte Himmler die ideologische Angst des Nationalsozialismus, die nächsten Jahrzehnte würden "den Vernichtungskampf der [...] untermenschlichen Gegner und der gesamten Welt gegen Deutschland" bringen.
Der Geschäftsverteilungsplan der Sicherheitspolizei stellt ein bürokratisches Dokument der globalen ideologischen Feindschaft des Nationalsozialismus dar. In den einzelnen Ämtern sollten "Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, Reaktion, Opposition, Legitimismus, Liberalismus", ferner der "politische Katholizismus, der politische Protestantismus, Sekten, sonstige Kirchen und Freimaurerei" überwacht und bekämpft werden. Für "Judenangelegenheiten" war beispielsweise das Referat IV B 4 "Politische Kirchen, Sekten und Juden" zuständig, Referatsleiter war SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906–1962). Gruppe IV C bearbeitete Schutzhaftangelegenheiten, Gruppe IV D ausländische Arbeiter, staatsfeindliche Ausländer und Emigranten. Eng verbunden mit der Gegnerbekämpfung war Amt VII "Weltanschauliche Forschung und Auswertung", gewissermaßen das wissenschaftliche Pendant, das aus dem SD übernommen wurde.
Die lückenlose Diagnose war in diesem totalitären Kontrollkonzept Voraussetzung dafür, daß die nach Meinung der NS-Ideologen eigentliche Aufgabe der SS, das deutsche Volk zu schützen und durch Auslesepolitik zu "heilen", erfüllt würde. Das war auch Aufgabe von Heydrichs SD, der seit 1937 regelmäßig Berichte über Lage und Stimmung der Bevölkerung erstellen ließ, um das Regime durch eine Art von "geheimem Meinungsforschungsinstitut" dauerhaft zu sichern. Alles, was an Organisations- und Kommunikationstechniken aufzubieten war, nutzte die SS. Die SS war die widersprüchlichste und merkwürdigste Synthese des Uralten und der Moderne. Als eine Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie bediente sie sich für damalige Verhältnisse moderner Methoden. Das stand freilich in einem eigentümlichen Gegensatz zu den archaischen Leitbildern von Blut und Boden und der antimodernen Ordensmystik der SS, die sich in verfallenen Burgen die Weihestätten für ihren Ahnen- und Totenkult errichtete. Heinrich Himmler verkörperte in seiner Person die Gegensätze, Widersprüche und damit Abgründe, die sich in einem Menschen auftun können. Der penible Bürokrat und Herr über einen gewaltigen Verfolgungs- und Vernichtungsapparat konnte seinen SS-Männern in Vernichtungs- und Konzentrationslagern rücksichtslose Härte predigen und sich gleichzeitig um den Frieden des Waldes oder die Reinheit der Nahrungsmittel sorgen. Darum lehnte er die Jagd ab und ängstigte sich vor den tödlichen Wirkungen der modernen Zivilisation.
Was jedoch den wegen ihrer Uniformen so genannten schwarzen Orden der SS gesellschaftsfähig machte, waren nicht solche mystischen Elemente, sondern der Anspruch, eine neue Elite zu bilden. Nicht nur, daß Himmler freigiebig die Würde eines SS-Ehrenführers an Minister, Ministerialbeamte und Wirtschaftsführer vergab (um die Reputation der SS zu steigern und den eigenen Einfluß bis in das Auswärtige Amt auszudehnen) oder daß er elitäre Reitervereine in seine Reiter-SS übernahm. Es gab überdies einen auffälligen Zustrom namhafter Vertreter der Aristokratie bereits vor 1933, der sich danach verstärkte. 18,7 Prozent der SS-Obergruppenführer, 9,8 Prozent der SS-Gruppenführer, 14,3 Prozent der SS-Brigadeführer waren Adelige, die von der SS und ihrem ausgeklügelten System der Hierarchie und elitären Rituale die Wiederherstellung von traditionellen Wert- und Sozialmustern erwarteten. Dazu kamen die Söhne des Bürgertums, verabschiedete Reichswehroffiziere, arbeitslose Akademiker, in der Regel mit juristischer Qualifikation, Freiberufler ohne Existenzgrundlage, die im Polizeidienst oder im Reichssicherheitshauptamt auf eine schnelle Karriere hofften.
Sie waren fast alle Männer der Altersgruppen, die sich geprägt vom Kriegserlebnis der Jahre 1914 bis 1918 und dem materiellen Elend der Nachkriegszeit als "verlorene Frontgeneration" bezeichneten. Darunter waren Intellektuelle, von denen einige von der Gefühls- und Ideenwelt der deutschen Jugendbewegung beeinflußt waren und die nun vorwiegend über den SD in das RSHA kamen. Sie waren nicht nur juristisch ausgebildete Technokraten der Macht, sondern zu einem großen Teil auch Ideologen, die in Abgrenzung zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft und scharfer Gegnerschaft zu sozialistischen Gesellschaftsentwürfen eine neue Weltanschauungselite gründen wollten und ihr Ziel in der Bekämpfung aller "Fremdvölkischen" bzw. in der Neuordnung Europas nach "biologisch-völkischen" Kriterien sahen.
Instrumentalisierung von Recht und Justiz
Der Ausschaltung und Vernichtung des inneren Feindes hatten nach der nationalsozialistischen Gewaltideologie auch Recht und Justiz zu dienen. Die Instrumentalisierung der Justiz zu politischen Zwecken ist zwar autoritären Verfassungssystemen nicht fremd, doch unterschieden sich davon Aushöhlung und Politisierung der Justiz im Dritten Reich fundamental vor allem durch Ausmaß und Methoden, die zu einer tendenziell unbegrenzten Ausweitung von Willkür und Rechtlosigkeit führten.
Durchlöchert und zerstört wurde die Rechtsordnung auf mehreren Wegen: Durch die Verletzung wichtiger Rechtsprinzipien und -garantien sowie durch zahlreiche rassenideologisch bestimmte gesetzliche Einzelregelungen wie etwa
die Einführung des sogenannten Arierparagraphen in verschiedene Gesetze;
die Entwicklung des Strafvollzugs und insbesondere der Schutzhaft, die präventiv und als willkürliche Freiheitsberaubung angeordnet werden konnte und zum Inbegriff der politischen Gegnerbekämpfung unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde;
die Gleichschaltung der Justiz und die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Richter;
ferner die umfassende Änderung der Gerichtsverfassung.
Bei der Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit gingen autoritäre Ordnungswünsche und Anpassungsbereitschaft auf Seiten der konservativen Justiz, die die langwierigen Rechtssprechungsverfahren der Weimarer Republik abschaffen wollte, mit Täuschungsmanövern und Gewalt durch die nationalsozialistischen Machthaber Hand in Hand. Auch wenn die Nationalsozialisten zunächst hinter der Fassade des scheinbar Vertrauten und mit propagandistischen Leerformeln agierten, überraschten doch das Tempo und die Zielstrebigkeit, mit denen der Rechtsstaat schon in den Jahren 1933/34 außer Kraft gesetzt wurde (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 36 ff.). Weil sie nicht aus der Strafpraxis verdrängt werden wollte, willigte die konservative Justiz ein, daß nach dem Brand des Reichstags einer der fundamentalsten Rechtsgrundsätze "nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz) aufgehoben und mit einer "Lex van der Lubbe" (nach dem als Brandstifter verurteilten Holländer Marinus van der Lubbe) auch rückwirkend für Brandstiftung die Todesstrafe verhängt werden konnte. Bald wurden Vorgänge für strafbar erklärt, nur weil sie gegen das "gesunde Volksempfinden" verstießen, auch wenn es dafür keine Strafbestimmungen gab.
Auch die Einrichtung von Sondergerichten war eine Vorgabe des Justizministeriums, um der wachsenden nationalsozialistischen Kritik am Justizwesen zu begegnen. Die Sondergerichte wurden bei allen Oberlandesgerichten eingerichtet, gegen ihre Urteile gab es keine weiteren Rechtsmittel mehr. Hier führte eine erhebliche Verkürzung der Verfahren bis hin zu regelrechten Schnellverfahren zu einschneidenden Minderungen der Rechte der Angeklagten.
Recht und Justiz dienten dem Regime nicht nur zur Ausschaltung der politischen Gegner und zur Herrschaftssicherung, sondern wurden auch zu Instrumenten der Rassenpolitik und Judenverfolgung. Das begann mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933. Es verfügte nicht nur die Entlassung von Beamten, die Mitglieder demokratischer Parteien waren, sondern grenzte auch Juden (vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges) aus. Damit hatte zum ersten Mal ein rassenideologisches Element – mit Zustimmung auch der deutschnationalen Regierungspartner – Einzug in ein Reichsgesetz gefunden. Es folgten Verschärfungen der Strafbestimmungen wie etwa gegen "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" sowie die Verfügung, Menschen mit erblichen Krankheiten unfruchtbar zu machen.
Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien
Auch für die Strafgesetzgebung galt, was in anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft zu beobachten war. Die Nationalsozialisten besaßen keine eigene Rechtstheorie, wohl aber eine grundsätzliche und dumpfe Feindschaft gegen alle Prinzipien des Rechtsstaates. Sie wurden von ihnen als "liberalistisch" denunziert und mit den sehr vagen ideologischen Formeln vom "gesunden Volksempfinden" oder "Recht ist, was dem Volke nützt" kontrastiert bzw. aufgehoben. Damit ließ sich kein verläßliches Rechtsgebäude begründen, sondern es entstand eine verworrene Situation, die die Rechtsunsicherheit beförderte.
Es gab ein Nebeneinander einer politisierten Strafgesetzgebung, die rechtsstaatliche Normen außer Kraft setzte und einer autoritären Rechtspraxis gegen Andersdenkende. Es gab aber andererseits auch Bereiche, in denen herkömmliche Grundsätze des bürgerlichen Rechtes weiter die alltägliche Arbeit der Gerichte bestimmten. Vor allem im Zivilrecht herrschte weiterhin der Schein von Normalität und Kontinuität. In Strafverfahren praktizierten die Gerichte, vor allem wenn die Beschuldigten Angehörige der politischen Linken oder Juden waren, eine harte Rechtssprechung, die den politischen Erwartungen des Regimes und auch den eigenen politisch-ideologischen Vorurteilen entsprach. Das galt besonders für die zahlreichen Hochverratsverfahren, die in den dreißiger Jahren an Oberlandesgerichten und am Volksgerichtshof gegen Angehörige der KPD und der SPD stattfanden. In der Regel wurden die gesetzlichen Bestimmungen von den Gerichten sehr weit ausgelegt und damit Delikte wie das Abhören von Radio Moskau oder die Weitergabe antinationalsozialistischer Schriften als Vorbereitung zum Hochverrat bewertet. Rund 16000 Todesurteile sind auf diese Art und Weise bis Ende 1944 von der Justiz verhängt worden.
Auch waren die Gerichte bereit, der Gestapo in ihren Verfolgungs- und Verhörpraktiken gegen angebliche "Staatsfeinde" größte Freiheiten einzuräumen. Sie dienten damit schon vor der Verkündung des Gestapogesetzes vom 10. Februar 1936, mit dem staatspolizeiliche Aktivitäten der gerichtlichen Nachprüfung entzogen wurden, der Willkür und nicht etwa dem Rechtsschutz. Daß diese Anpassungsbereitschaft auch von autoritären bzw. sozial-reaktionären Vorurteilen und Einstellungen der Gerichte mitbestimmt wurde, zeigt die Tatsache, daß diese Praxis vor allem gegenüber Mitgliedern und Sympathisanten der Linksparteien, generell auch gegenüber Angehörigen von Unterschichten, Randgruppen und religiösen Minderheiten sowie Freikirchen üblich war. Sie war weniger ausgeprägt gegenüber bürgerlich-konservativen Angeklagten, zu denen die Richter eine größere soziale Nähe und Verbundenheit empfanden.
Unsicherheit in der Rechtslage und eine von Vorurteilen bestimmte Anpassungsbereitschaft prägten vielfach auch das Verhalten von Gerichten in der Frage des sogenannten "Rasserechts", wann immer es um Eheprobleme zwischen Juden und Nichtjuden oder nur um das Wohn- und Arbeitsrecht von Juden ging. Noch vor dem berüchtigten Nürnberger "Blutschutzgesetz" (Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre) von 1935 (siehe auch Seite 15) gab es Fälle, in denen Gerichte die Gesetzgeber an "rassepolitischem Eifer" (Ralph Angermund) überbieten wollten. Es verwundert daher nicht, daß die Nürnberger Gesetze dann auch von den Gerichten in einer sehr weiten Auslegungspraxis angewandt wurden.
Zerfall individuellen Rechtsschutzes
Mit dem Gestapogesetz von 1936, das staatspolizeiliche Aktionen grundsätzlich der richterlichen Nachprüfung entzog, war der größte Schritt zum permanenten Ausnahmezustand getan. Als der Gestapo per Gesetz zugestanden wurde, was sie vorher schon längst praktiziert hatte, zerfiel der Rechtsschutz des Individuums vollständig. Nun konnte die Gestapo selbst entscheiden, welcher Tatbestand als politisch galt und wer als gefährlicher Staatsfeind zu verfolgen war. Die Justiz mußte trotz ihrer Anpassungsbereitschaft nun verstärkt den Druck und immer neue Eingriffe durch Himmlers Polizei hinnehmen. Oft wurden Urteile der Justiz dadurch "korrigiert", daß man die "Staatsfeinde" noch im Gerichtssaal verhaftete oder nach der Justizhaft in ein KZ verschleppte. Roland Freisler (1893–1945), Staatssekretär im Justizministerium, rügte die Oberlandesgerichtspräsidenten immer häufiger ob der milden Strafpraxis. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofes drohte für den Fall weiteren "Versagens" mit einer "Polizeijustiz", die an die Stelle der bisherigen Justiz treten könnte. Wollte sich die Justiz nicht ständig dieser Vorhaltung und damit der Gefahr einer weiteren Ausschaltung aussetzen, blieb ihr, nachdem sie einmal selbst den Weg der Aushöhlung und Politisierung von Recht und Justiz eingeschlagen hatte, nur die weitere Anpassung und Kapitulation.
Mit Beginn des Krieges im September 1939 sollte sich dieser Weg in die Willkür und die Umwertung aller bisherigen Werte der Rechtssprechung noch beschleunigen. Neue Straftatbestände von der sogenannten "Volksschädlingsverordnung", die die Plünderung und "Ausnutzung der Kriegsumstände" unter schwerste Strafe stellte, bis zur Kriegswirtschaftsverordnung, die das Horten von Lebensmitteln und die Schwarzschlachtung seitens der Bauern ahnden sollte, wurden zum "Schutz der Wirtschaft" eingeführt; ferner wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte erheblich erweitert. Damit konnten Straftatbestände wie Diebstähle aus Metallsammlungen oder das Horten von Lebensmitteln sowie der Umgang mit Kriegsgefangenen mit hohen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen, teilweise sogar auch mit Todesstrafe geahndet werden.
Entrechtung und Verfolgung der Juden
Die Durchsetzung der rassenpolitischen Ziele folgte demselben Muster wie die übrige Radikalisierung der Politik und des Rechts. Sie war eingebunden in den polykratischen Entscheidungsprozeß und verlief nach den üblichen Techniken der Propagandaaktionen der Partei von unten und den staatlich-gesetzlichen Sanktionierungen des Terrors von oben. Das zeigen alle drei gegen die deutschen Juden gerichteten einschneidenden Verfolgungs- und Ausgrenzungsakte: die Entlassung jüdischer Beamter im April 1933, die Ausgrenzung der Juden zu einer Gruppe minderen Rechtes durch die Nürnberger Gesetze 1935 und schließlich die Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft 1938.
Zugleich deuten diese Daten an, daß der Prozeß der Radikalisierung rassistischer Politik sich stufenförmig vollzog und daß er mit der völligen Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger und den Pogromen vom November 1938 noch nicht an sein Ende gekommen war. Denn einerseits war die Radikalisierung der Rassenpolitik im "Denkansatz des Rassismus angelegt" (Hans Walter Schmuhl). Sie zielte darum über die Ausgrenzung hinaus als letztes Mittel auf die Vernichtung der als "rassisch minderwertig" und als "innerer Feind des Volkskörpers" stigmatisierten Minderheiten. Andererseits lag es in der polykratischen Struktur des NS-Regimes begründet, daß im ständigen und ungeregelten Wettbewerb einzelner Machtgruppen sich innerhalb des Regimes Herrschaftsträger fanden, die im Namen der rassistischen Ideologie jeweils Vorkämpfer einer neuen Aktion waren. Dabei stand die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Zentrum der nationalsozialistischen Genozidpolitik; sie war aber nicht das einzige Element. Es war begleitet von einer Ausgrenzung und Vernichtungspolitik gegen psychisch Kranke, gegen geistig und körperliche Behinderte, gegen "Asoziale" und Homosexuelle sowie gegen Sinti und Roma, die alle als "Gemeinschaftsfremde" stigmatisiert wurden.
Antisemitismus als Staatsdoktrin
Am 30. Januar 1933 kam mit Hitler zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein Regierungschef an die Macht, bei dem der Rassenantisemitismus zum Kern seiner Weltanschauung gehörte. Wie sich bald zeigen sollte, wurde damit der Antisemitismus zur offiziellen Staatsdoktrin. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" von 1933, das das Gegenteil von dem bezweckte, was es vortäuschte, wurden alle Beamten jüdischer Herkunft – vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs – aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Bald wurde dieser "Arierparagraph" auf berufsständische Vereinigungen, unter anderem Rechtsanwälte, Kassenärzte, Zahnärzte, Steuerberater und andere gesellschaftliche Organisationen übertragen. Damit war aber nur das Tor für weitere gesetzliche Bestimmungen geöffnet. Das "Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen" vom 25. April 1933 begrenzte die Neuzulassung jüdischer Schüler und Studenten auf 1,5 Prozent.
Für die gebildeten deutschen Juden, die sich zunächst nicht hatten vorstellen können, daß in einem kulturell und industriell hochentwickelten Land wie Deutschland ihre bürgerlichen Rechte und ihre wirtschaftliche Existenz von einer Regierung zerstört werden könnten, lösten die Vorgänge im April 1933 ein erstes tiefes Erschrecken aus, dem dann die Einigung der verschiedenen politischen Richtungen innerhalb des deutschen Judentums unter einem Dachverband und die Errichtung verschiedener jüdischer Selbsthilfeorganisationen im sozialen und kulturellen Bereich folgte.
Auch wenn das Jahr 1934 durch die innenpolitische Krise im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre und auch durch außenpolitische Rücksichtnahmen eine gewisse Atempause brachte, hörte die rassistische Agitation nicht auf. Parallel zu der Ausgrenzung und Verfolgung der deutschen Juden begann die staatliche Zwangspolitik gegen geistig Behinderte, die im Naziorgan als "Erbkranke" entwürdigt und zwangssterilisiert wurden. Betroffen waren Personen, die an angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und anderen Erbkrankheiten litten. Unter dem Beifall nicht weniger Fachleute wollte das Regime damit eine Hebung der "Volksgesundheit unserer Rasse" und einen Rückgang der Pflegekosten in den Behindertenanstalten erreichen.
Das Jahr 1935 brachte einen weiteren Schub in der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik, und zwar wieder in der charakteristischen Doppelstrategie von Provokation und Aktion durch einzelne Parteigliederungen einerseits und durch eine gesetzgeberische Scheinlegalisierung andererseits. Seit Mitte 1934 hatte der rassenpolitische Fanatiker Julius Streicher überall im Reich Schaukästen aufstellen lassen, in denen sein antisemitisches Hetzblatt "Der Stürmer" ausgehängt wurde. Im Frühjahr 1935 steigerte er seine Aktivitäten und forderte, die Juden unter "Fremdenherrschaft" zu stellen, das heißt ihnen ihre Grundrechte zu entziehen. Zum gleichen Zeitpunkt 1935 kam es zu judenfeindlichen Aktionen, die an die Boykotte gegen jüdische Geschäfte im April 1933 erinnerten. Zusätzlich wurde die Forderung laut, die Eheschließung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Personen zu untersagen.
Verbot von "Mischehen"
Wie groß die Wirkung der antisemitischen Kampagne bereits war, zeigte sich daran, daß Standesbeamte sich weigerten, solche "Mischehen" zu trauen. Auch der Versuch von Betroffenen, im Falle der Weigerung der Standesbeamten diese durch gerichtliche Anordnung zu einer entsprechenden Amtshandlung, die gesetzlich vorgeschrieben war, anzuhalten, scheiterte in nicht wenigen Fällen.
Ein weiteres Signal für die kommende Entwicklung war das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, mit dem Juden vom Wehrdienst ausgeschlossen wurden. Die antisemitische Kampagne verstärkte sich, als die Ankündigung eines besonderen Staatsangehörigkeitsgesetzes für Juden von Innenminister Wilhelm Frick (1877–1946) nicht umgehend umgesetzt wurde. Der Grund für die Verzögerung lag nicht darin, daß sich die Ministerialbürokratie grundsätzlich gegen ein solches Gesetz sperrte. Er lag vielmehr in einem internen Streit um das freilich nicht unwichtige Detail, ob die Geltung dieses Gesetzes auf "Volljuden", das heißt auf Ehepartner mit zwei jüdischen Eltern beschränkt oder auf "Mischehen", das heißt auf Ehepartner mit einem jüdischen Eltern- oder Großelternteil ausgedehnt werden sollte. In dieser Situation forderte Hitler die Vorlage eines Gesetzes, mit dem die staatsbürgerliche Diskriminierung der Juden verfügt und die Ehe zwischen "Ariern" und "Nichtariern" untersagt werden sollte. Von den vier Entwürfen, die am Rande eines Reichsparteitages mit großer Eile erstellt wurden, entschied sich Hitler für das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" in einer aus seiner Sicht abgemilderten Fassung. Es verbot Eheschließungen und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen "deutschen und artverwandten Blutes". Das Gesetz sah für die sogenannte "Rassenmischehe" eine Zuchthausstrafe vor, bei außerehelichem Geschlechtsverkehr sollte der beteiligte Mann je nach den Umständen ebenfalls mit einer Gefängnis- oder mit einer Zuchthausstrafe verfolgt werden. Ferner wurde deutschen Juden die Beschäftigung von weiblichen deutschen Hausangestellten untersagt. Das hastig entworfene "Reichsbürgergesetz" gewährte nur "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" die "vollen politischen Rechte" eines "Reichsbürgers" und würdigte die deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse herab, deren Status nicht genau definiert wurde.
Die Nürnberger Gesetze machten die Rechtsentwicklung und jüdische Emanzipation seit der Aufklärung und seit dem 19. Jahrhundert rückgängig und bildeten die Grundlage für weitere Diskriminierungen und Verfolgungen. Die entscheidende Frage, wer nun "Jude" war, wurde von beiden Gesetzen nicht beantwortet, sondern weiteren Ausführungsbestimmungen überlassen. Dies schuf neuerliche Unsicherheiten für die Betroffenen, den Parteiaktivisten hingegen bot es die Chance weiterer judenfeindlicher Aktionen und Verschärfungen des Gesetzes. Nach wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Ministerialbürokratie und den Parteidienststellen sowie dem nationalsozialistischen Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner enthielt die "Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 14. November 1935 folgende Definition: "Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt [...]. Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling, a) der beim Erlaß des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird, b) der beim Erlaß des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet, c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt." Diejenigen, die von diesen Bestimmungen betroffen waren, galten nur noch als "Staatsangehörige" mit minderem Recht, während alle anderen "von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern" abstammenden sogenannten "jüdischen Mischlinge" das "vorläufige Reichsbürgerrecht" erhielten.
Sicherlich bedeutete dieser Kompromiß, daß ein großer Teil der zuletzt genannten Personen zunächst vor weiteren judenfeindlichen Ausgrenzungen bewahrt blieb und ihnen nahezu volle staatsbürgerliche Rechte eingeräumt wurden. So konnten diese Menschen, die zwei jüdische Großeltern besaßen, zunächst noch das Recht auf die freie Schulwahl und den Universitätsbesuch erhalten und waren überdies wehrpflichtig. Gleichwohl hatte das von rassistischen Kriterien bestimmte Denken und Handeln endgültig Justiz und Verwaltung durchdrungen. Bereits der Streit um die erste Ausführungsbestimmung hatte angekündigt, daß weitere Radikalisierungen auf dem Verordnungsweg jederzeit möglich waren. Auch Äußerungen Hitlers im internen Führungskreis, in denen er eine Ghettoisierung und Vertreibung der Juden androhte, ließen ahnen, daß mit den Nürnberger Gesetzen keineswegs eine wirkliche Rechtssicherheit für die deutschen Juden erreicht war. Ihre weitere Ausgrenzung und Isolierung begann mit der sich ständig verschärfenden Praxis bei der Gewährung einer Eheerlaubnis für die nach dem Gesetz als "Mischlinge ersten Grades" bezeichneten Personen und setzte sich mit immer neuen Verordnungen fort. Ihnen wurden bisherige Sonderregelungen wie etwa die Zulassung zum Studium entzogen, bis sie schließlich 1943 zu Zwangsarbeit verpflichtet wurden, die sich kaum noch von einer KZ-Haft unterschied.
Besonders hart traf es bereits seit dem September 1935 die als sogenannte "Volljuden" und "Dreivierteljuden" bezeichneten Personen, die nun endgültig einen minderen Rechtsstatus hatten. Auch diejenigen jüdischen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die 1933 als Träger militärischer Auszeichnungen noch im Amt bleiben konnten, wurden nun entlassen. All das führte zu einer zunehmenden Isolierung der jüdischen Bürger im täglichen Leben, die sich allein schon dadurch ausgestoßen fühlen mußten, daß bereits jeder berufliche oder geschäftliche Kontakt mit ihnen in den Verdacht des Verbotenen geriet und nicht selten übereifrigen Denunzianten Anlaß für eine Strafanzeige bot. Verschärft wurde die Situation der Ausgrenzung und Willkür noch durch Richter, die die rassenantisemitischen Zielsetzungen der Gesetze und Verordnungen teilten und überdies durch eine rigide Auslegung selbst harmlose Gesten zwischenmenschlicher Herzlichkeit erbarmungslos ahndeten. Umgekehrt bezeugen Einzelfälle, daß auch die harten Strafandrohungen des "Blutschutzgesetzes" viele Menschen nicht von Beziehungen zu jüdischen Bürgern abhielten.
Die Nürnberger Gesetze gehörten wie die früheren antijüdischen Maßnahmen auch in den Zusammenhang der übrigen NS-Rassepolitik. So war es kein Zufall, daß am 18. Oktober 1935 das "Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes" erlassen wurde, das ein Eheverbot für erbkranke Menschen vorsah und die Vorlage "eines Ehetauglichkeitszeugnisses" verlangte.
Berufsverbote
Während in der Folgezeit durch mehrere Verordnungen zum "Reichsbürgergesetz" Juden von der Ausübung freier, akademischer Berufe – zuletzt denen des Arztes und des Rechtsanwalts – ausgeschlossen wurden, schien in Handwerk und Gewerbe, in Handel und Banken sowie im Immobilienbesitz noch eine Überlebenschance gegeben. Das sollte sich 1938 ändern, als den deutschen Juden auch ihre materielle Existenzgrundlage genommen wurde. Hatte es 1933 vom Warenhaus und der Privatbank bis hin zum Einzelhandelsgeschäft noch etwa 100000 jüdische Betriebe der verschiedensten Größenordnungen gegeben, so waren es als Folge der unaufhörlichen antisemitischen Kampagnen und Schikanen im April 1938 nur noch 39532. Viele von ihnen befanden sich überdies in einem deutlichen wirtschaftlichen Niedergang. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit von jüdischen Arbeitern und Angestellten, und auch viele der ehemaligen Freiberufler sahen sich bald am Rande des Existenzminimums. Trotz der zunehmenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung ging den nationalsozialistischen Aktivisten die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft noch zu langsam. Mit dem zunehmend radikaleren Vorgehen des Regimes im Frühjahr 1938 erhielt auch die antijüdische Verfolgungspolitik einen neuen Schub, zumal die österreichischen Juden im Gefolge der nationalsozialistischen Machtübernahme eine Verfolgungswelle erleiden mußten, die an Radikalität alles bisherige übertraf.
Ende April 1938 wurden alle Juden gezwungen, ihre Vermögen zu deklarieren, im Mai wurden sie von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen, im Juli wurde eine Kennkarte für Juden eingeführt und im August wurden sie zur Führung zusätzlicher Vornamen, Sarah bzw. Israel, gezwungen, die sie als Juden stigmatisieren sollten. Zusätzlich wurden ihre Reisepässe mit einem roten "J" abgestempelt. Schließlich wurde Mitte November 1938 jüdischen Kindern der Besuch staatlicher Schulen endgültig untersagt.
Damit war auf dem Verordnungsweg nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft die Diskriminierung von Juden drastisch ausgeweitet worden, ihre Lebensbedingungen hatten sich extrem verschlechtert. Doch hatte das Regime sich in eine widersprüchliche Situation manövriert: Einerseits stieß die Verletzung des Eigentumsprinzips im In- und Ausland auf Kritik, andererseits wurde durch die bisherige Ausplünderung eine Auswanderung, wie sie die Ministerialbürokratie und der Sicherheitsdienst (SD) betrieben, erschwert. Es bedurfte daher noch eines äußeren, eher zufälligen scheinbaren Anlasses, um eine Konstellation herbeizuführen, die den Machthabern die Chance bot, ihre Verfolgungspolitik mit größerer Brutalität und Geschwindigkeit voranzutreiben. Und wiederum sollte diese als Reaktion auf den angeblich "gesunden Volkswillen" ausgegeben werden.
Pogrom von 1938
Am 7. November 1938 verübte der siebzehnjährige deutsch-polnische Jude Herzel Grynszpan ein Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris. Es war ein Akt ohnmächtiger Rache, zu dem sich Grynszpan hinreißen ließ, nachdem er von dem bitteren Schicksal seiner Eltern erfahren hatte. Sie waren zusammen mit 17000 anderen Leidensgenossen von der Gestapo auf Verlangen des Auswärtigen Amtes zur deutsch-polnischen Grenze gebracht worden, wo sie sich, von den polnischen Behörden zurückgewiesen, unter erbärmlichen Bedingungen im Niemandsland aufhalten mußten. Das Attentat, dem Ernst vom Rath am Nachmittag des 9. November erlag, war der spektakuläre Vorwand für eine Welle von Pogromen, die schon am 8. November vereinzelt begannen, dann aber am Abend des 9. November mit aller Wucht über die deutschen Städte und Dörfer hereinbrachen. Die Weisungen waren von München ausgegangen, wo die NS-Führung gerade mit alten Kämpfern der NSDAP des Hitler-Putsches am 9. November 1923 gedachte.
Auf Hitlers Veranlassung hatte Goebbels die Stimmung im Saal durch eine wüste antisemitische Hetzrede angeheizt und mit Hinweis auf die bereits am Vorabend initiierten Pogromaktionen weitere Ausbrüche des "Volkszorns" angekündigt. Die Bemerkung von Goebbels, daß die Partei entsprechende Aktionen zwar nicht organisieren, aber dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde, wurde von den anwesenden Gauleitern verstanden. Sie gaben telefonisch Befehle an ihre Unterführer, die sie an die SA weiterleiteten. In den SA-Trupps erwachte nach Jahren der Zurückdrängung sofort wieder die alte Bürgerkriegsmentalität. Als angeblich spontanen Akt des Volkszornes, an den allerdings niemand glauben wollte, legten sie Brände in jüdischen Synagogen, zerstörten jüdische Geschäfte, demütigten, verhöhnten und mißhandelten jüdische Bürger.
Die Bilanz des Pogroms, das am 10. November offiziell für beendet erklärt wurde, war erschreckend: Mehrere Hundert Synagogen waren abgebrannt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte zerstört sowie zahllose Wohnungen verwüstet. Zwischen 90 und 100 Juden waren erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt worden. Hinzu kamen Millionenschäden an zerstörten Geschäftseinrichtungen und Schaufensterscheiben. Das alles wurde im Volksmund bald mit dem Begriff "Reichskristallnacht" verharmlost. Daß dahinter der organisierte Wille zur Verfolgung und Radikalisierung stand, bewiesen die folgenden Tage. Zunächst wurden im ganzen deutschen Reich etwa 30000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Zwar blieb die Aktion auf wenige Wochen beschränkt, doch bedeutete sie eine Katastrophe für die bürgerliche Existenz und das Bewußtsein vieler Juden.
Die Reaktion der Bevölkerung auf die Pogromnacht und das bürokratische Nachspiel war unterschiedlich. Nur eine Minderheit in der Bevölkerung beteiligte sich an den Plünderungen und Brandschatzungen. Die Mehrheit verharrte schweigend, zeigte sich eingeschüchtert und angewidert von den pöbelhaften Gewaltaktionen oder blickte einfach weg. Nur einige Mutige zeigten Mitgefühl und Hilfe für die gepeinigten und drangsalierten jüdischen Mitbürger.
Kritik löste vor allen Dingen die sinnlose Zerstörung materieller Werte in Millionenhöhe aus. Dies hinderte aber umgekehrt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bürgern nicht daran, im Anschluß an die Kampagne sich an dem Beutezug zu beteiligen und sich sogenannte "arisierte Ware" anzueignen. Ein häufiges Argument der vorsichtigen Kritik war überdies die Sorge um das deutsche Ansehen bzw. um die eigene Situation in einem Regime, das zu solchen Gewalt- und Zerstörungsaktionen fähig war. Die massive antisemitische Propaganda hatte es offenbar nicht vermocht, die Allgemeinheit zur Unterstützung der angeblich "spontanen" Aktionen aufzuhetzen. Das war sicherlich mit der tiefen Abneigung der Mehrzahl der Menschen gegen Gewaltaktionen und körperliche Mißhandlungen zu erklären, aber auch mit einem Auseinanderdriften der Wert- und Verhaltensweisen von Partei und Bevölkerung, die sich bislang zumindest nach der NS-Propaganda im Zeichen der "nationalen Volksgemeinschaft" in Übereinstimmung befanden.
Nun aber schied sich der nationalsozialistische Radikalismus, vor allem der radikale rassenbiologische Antisemitismus, von den in der Bevölkerung verbreiteten traditionellen sozialen Einstellungen und Verhaltensformen. Das galt auch für die traditionelle Judenfeindschaft, die sich aus religiösen Motiven und sozialen Vorurteilen speiste, aber auch immer an bürgerlichen Moralvorstellungen festhielt und darum vor deren offener Verletzung zurückschreckte. Es war der Zeitpunkt, in dem sich die radikalen Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verselbständigen begannen. Das bedeutete für den Bereich der Rassen- und Judenpolitik, daß sich die weiteren Schritte auf dem Wege zur Realisierung der Rassendoktrin noch stärker hinter dem Nebel einer bürokratischen Tarnsprache und der scheinbaren Begründung mit Notwendigkeiten der Kriegführung vollziehen würden. Das konnte zwar dem kritischen Blick der Zeitgenossen nicht verborgen bleiben, doch die meisten beruhigten sich damit, daß sie nicht wissen müßten, was sie nicht wissen wollten.
Verdrängung aus der Wirtschaft
Die definitive Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, die schon seit dem Frühjahr 1938 vorbereitet worden war, wurde auf einer Konferenz am 12. November 1938 im Reichsluftfahrtministerium in Berlin vollzogen, zu dem Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan alle beteiligten Dienststellen eingeladen hatte. Der Verlauf der Sitzung war von Ausbrüchen ideologischer Verblendung und brutalen Haßgefühlen geprägt. Die Demagogen beriefen sich auf den angeblichen "Volkswillen", zu deren Vollstrecker sie sich machten.
Den deutschen Juden wurde die sofortige Reparatur der von NSDAP und SA-Trupps angerichteten Verwüstungen und – als Vergeltung für das Pariser Attentat – die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Dies war eine gewaltige Summe für eine Bevölkerungsgruppe, die zu diesem Zeitpunkt nur noch rund 250000 Mitglieder zählte (von etwa 500000 im Jahre 1933). Den durch die Terrorwelle angerichteten Schaden wollten zwar aus Gründen ihrer Glaubwürdigkeit die Versicherungsgesellschaften tragen, doch bestand Göring auf der Beschlagnahme der an die Juden zu zahlenden Versicherungsleistungen zu Gunsten des Reiches. Schließlich sollte die vollständige "Arisierung" nach dem Willen Görings "Schlag auf Schlag" erfolgen. Gemeint war damit die Enteignung jüdischer Gewerbebetriebe und Einzelhandelsgeschäfte, die von staatlichen Treuhändern unter Wert geschätzt und dann zu normalem Verkehrswert an "Arier" weiterverkauft wurden.
Begleitet wurde diese wirtschaftliche Ausplünderung durch einen verschärften Druck zur Auswanderung und durch eine Vielzahl von anderen diskriminierenden Maßnahmen. Juden wurde der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Theatern untersagt, und ihnen wurde die Benutzung bestimmter Eisenbahnabteile vorgeschrieben.
Die Juden wurden damit des letzten gesetzlichen Schutzes und auch des menschlichen Rechtes auf Existenz beraubt. Der Rassenantisemitismus hatte sich in einer staatlich exekutierten Verfolgungsaktion durchgesetzt und damit war, entsprechend des nationalsozialistischen Prinzips einer permanenten Radikalisierung der Herrschaftsziele und -praxis, der Weg zur letzten Etappe von der Verfolgung zur physischen Vernichtung frei. Das "Schwarze Korps", das interne Presseorgan der SS, sprach dieses Ziel drei Wochen nach dem Novemberpogrom in einer ihrer Ausgaben unverhohlen aus: "Mit Feuer und Schwert muß man das nun auf sich beschränkte Parasitenvolk auslöschen. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung." Den möglichen Zeitpunkt und den Zusammenhang dieser Vernichtung hatte Göring bereits am 12. November 1938 angegeben: "Wenn das deutsche Volk in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitische Konflikte kommt, so ist es selbstverständlich, daß wir auch in Deutschland in allererster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen."
QuellentextVerfolgung der deutschen Juden
Im Herbst 1938, zur Zeit des Novemberpogroms, befanden sich von ehemals rund 100000 jüdischen Betrieben noch 40000 in Händen ihrer rechtmäßigen Besitzer. Am stärksten hatten die "Arisierungen" im Einzelhandel zu Buche geschlagen, von 50000 Geschäfte waren noch 9000 übrig. Die Zahl der jüdischen Arbeitslosen war stetig angestiegen, Berufsverbote und erzwungene Verkäufe hatten zur Verarmung vieler geführt. Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 vernichtete die noch verbliebenen Existenzen. Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, ebenso das Anbieten von Waren und gewerblichen Leistungen auf Märkten und Festen, das Führen von Handwerksbetrieben untersagt. Die Betriebe wurden, in der Regel zu einem Bruchteil ihres Wertes, in die Hände von nichtjüdischen Besitzern überführt ("arisiert") oder aufgelöst. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete das in jedem Falle den Ruin, denn auch über den Erlös konnte er nicht verfügen, er wurde auf Sperrkonten eingezahlt und später zugunsten des Deutschen Reiches konfisziert. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten mußten die Juden zwangsweise verkaufen, die Ankäufe erfolgten zu Preisen, die weit unter dem Wert lagen; auch über Wertpapiere und Aktien durften Juden nicht mehr verfügen, sie mußten ins Zwangsdepot gegeben werden. Jüdischer Immobilienbesitz wurde gleichfalls zwangsarisiert. Jüdische Arbeitnehmer wurden gekündigt, die Selbständigen hatten fast ausnahmslos Berufsverbot. Von 3152 Ärzten hatten 709 noch die widerrufliche Erlaubnis, als "Krankenbehandler" ausschließlich jüdische Patienten zu versorgen.
Nach dem Novemberpogrom kam mit dem Verbot jüdischer Zeitungen und Organisationen das öffentliche Leben der Juden zum Erliegen. Ausgeraubt und verelendet, blieb ihnen die private Existenz unter zunehmend kläglichen Umständen, unter immer neuen Schikanen. Am 30. April begannen mit einem "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" die Vorbereitungen der Zusammenlegung jüdischer Familien in "Judenhäusern". Absicht war, und sie wurde rasch verwirklicht, das Zusammendrängen von Juden in Wohnungen, die die Überwachung (und später die Deportationen) erleichterten. "Ariern", so die Begründung, sei das Zusammenleben mit Juden im selben Haus nicht zuzumuten.
Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 brachte eine Ausgangsbeschränkung: Juden durften im Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab 20 Uhr ihre Behausung nicht mehr verlassen. Ab 20. September war ihnen der Besitz von Rundfunkempfängern verboten, das wurde als kriegsnotwendig erklärt, ebenso das Verbot, Telefone zu besitzen (19. Juli 1940), weil Juden ja als "Feinde des Reiches" galten.
Seit Anfang Dezember 1938 war ihnen Autofahren und der Besitz von Kraftfahrzeugen verboten, ab September 1939 wurden ihnen besondere Lebensmittelgeschäfte zum Einkauf zugewiesen, ab Juli 1940 durften Juden in Berlin nur noch zwischen 16 Uhr und 17 Uhr Lebensmittel einkaufen (die ihnen zugeteilten Rationen waren außerdem erheblich geringer als die der "Arier"). Immer neue Gemeinheiten dachten sich findige Bürokraten aus, etwa das Verbot, Haustiere zu halten oder Leihbüchereien zu benutzen.
Von Plänen zur "Lösung der Judenfrage" wurde gemunkelt; da gab es das alte Madagaskarprojekt, nach dem alle Juden aus Deutschland auf diese Insel deportiert werden sollten, und dann schien es, als verfolgte das NS-Regime den Plan, irgendwo in Ostpolen ein großes Judenreservat zu errichten. Dabei schienen die noch in Deutschland lebenden Juden ebenso billige wie unentbehrliche Arbeitskräfte. Sie waren nämlich zur Zwangsarbeit verpflichtet und ersetzten in der Rüstungsindustrie vielfach Facharbeiter, die zur Wehrmacht eingezogen waren.
Am 1. September 1941 erging die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden: Vom 15. September an mußte jeder Jude vom sechsten Lebensjahr an einen gelben Stern auf der Kleidung aufgenäht tragen. Damit war die öffentliche Demütigung und Brandmarkung vollkommen, die Überwachung der verfolgten Minderheit perfekt. Seit dem 1. Juli waren die Juden in Deutschland (durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz) unter Polizeirecht gestellt, das heißt, für sie gab es keine Rechtsinstanzen mehr. Aber zu diesem Zeitpunkt lebten nicht mehr viele Juden in Deutschland. Offiziell war das Deutsche Reich "judenfrei". Einige wenige hatten sich in die Illegalität geflüchtet, andere lebten im zweifelhaften Schutz, den "Mischehen" mit nichtjüdischen Partnern boten, jederzeit gewärtig, das Schicksal der Mehrheit der deutschen Juden zu teilen. [...]
Im Herbst 1941 begann mit der systematischen, bürokratisch geregelten und bis ins Detail programmierten Deportation der Juden aus Deutschland die letzte Phase nationalsozialistischer Judenpolitik. Sie war nunmehr zielstrebig und ausschließlich darauf gerichtet, die europäische Judenheit auszurotten.
Wolfgang Benz, "Die Juden im Dritten Reich", in: Wolfgang Benz, Werner Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord, Freiburg 1997, S. 385 ff.
Propaganda und politischer Kult
Propaganda war für das politische Selbstverständnis und die Herrschaftstechnik der Nationalsozialisten ein zentraler Begriff. Die Massenmobilisierung durch die Propaganda und die wachsende Zustimmung durch immer größere Teile der deutschen Gesellschaft wurden zur wichtigsten Voraussetzung für Hitlers Macht. Doch beruhte die Wirkung der Propaganda nicht auf deren vermeintlicher Originalität oder Raffinesse, sondern auf deren Intensität und Konsequenz im Einsatz aller technischen und inszenatorischen Instrumente, die sich den nationalsozialistischen Propagandisten anboten. Vor allem aber verstanden sie es, mit ihren Kundgebungen, Appellen, ihren Massenaufmärschen und Feierstunden die Bedürfnisse nach Identität und sozialer Gemeinschaft zu erfüllen. Auch gelang es ihnen, die Erwartungen auf soziale Sicherheit und nationale Größe, die in weiten Teilen einer zutiefst krisengeschüttelten Gesellschaft vorhanden waren, scheinbar zu befriedigen und mit ihren Propagandaformeln die Menschen zu mobilisieren. Hinzu kam, daß die Wirkung der Propaganda und ihre Versprechungen sich methodisch kaum von der Wirkung der Gesellschaftspolitik des Regimes trennen ließen. Die Nationalsozialisten beschränkten sich nämlich nicht auf bloße Appelle und Masseninszenierungen, sondern sie verbanden diese mit den sozialpolitisch greifbaren, wenn auch in der Realität sehr bescheidenen Erfolgen und materiellen Leistungen des Regimes zu einer realisierbaren Zukunftsperspektive.
Sicherlich war der Nationalsozialismus mit seinen politischen Ritualen und Symbolen, die um die Begriffe von Nation und Volk, Größe und Macht kreisten, Teil einer gemeineuropäischen Entwicklung, die als "Nationalisierung der Massen" (George Mosse) bezeichnet wurde. Diese bediente sich der Formen einer politischen Liturgie und romantisch-frühzeitlicher Mythen, um das Volk scheinbar an der Politik teilhaben zu lassen. Nicht in der parlamentarischen Rede und im gelehrten Gespräch, sondern in einer symbolischen Kommunikation, durch Zeichen und Rituale, teilten die nationalen Bewegungen ihre Botschaften mit. Wenn das gesprochene Wort eingesetzt wurde, dann diente es weniger der rationalen Auslegung einer Ideologie, sondern war Teil eines Zeremoniells, das sich meist pseudoreligiöser Formen bediente.
Der Nationalsozialismus war eine besonders ausgeprägte Form des politischen Massenkultes, eine Reaktion auf die extreme Zerrissenheit und mentale Krise der deutschen Gesellschaft. Bereits in seiner Bewegungsphase entfalteten sich Elemente der Selbstinszenierung, die dann auf das Regime übertragen wurden. Aufmärsche, Fackelzüge, Fahnenappelle und Werbefahrten prägten unverwechselbar das Erscheinungsbild der Partei. Ihre Kundgebungen sollten in einer Mischung von gesprochenem Wort, das mehr einer Verkündigung glich, und Inszenierungselementen wie Fahnen, Fackeln, Uniformen und Massenchören ein "sinnliches Gesamterlebnis" (Peter Longerich) verkörpern.
Informationslenkung
Mit der Machteroberung am 30. Januar 1933 bot sich die Möglichkeit, neben dem Gewaltmonopol durch die Lenkung und Kontrolle der Massenmedien Presse, Rundfunk und Film auch das Monopol über Nachrichten und Informationen zu erobern. Damit war es der Bevölkerung nur noch schwer möglich, hinter die Scheinwelt der Propaganda und der Masseninszenierungen zu blicken und sich der Durchdringung des Alltags durch nationalsozialistische Symbole und Phrasen zu entziehen.
Den institutionellen Rahmen für die propagandistische Mobilisierung der Gesellschaft schufen Hitler und Goebbels mit der Neugründung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda im März 1933. Mit dem Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 wurden alle im Kulturbereich Tätigen Zwangsmitglieder in ihrer jeweiligen Berufskammer, von denen es unter dem Dach der Reichskulturkammer (deren Präsident ebenfalls Joseph Goebbels war) sieben gab: Presse, Schrifttum, Rundfunk, Theater, Musik, Bildende Kunst und Film. Die Lenkung der Medien erfolgte auf einer institutionellen und personellen Ebene durch die Gleichschaltung der Verbände und die verlegerische Vereinnahmung der Pressehäuser bzw. durch die Zusammenfassung der bereits verstaatlichen Rundfunkanstalten unter einem Dach. Neben den berufsständischen und ökonomisch-organisatorischen Kontrollen fungierte als dritte Säule ein System der direkten Presse- und Informationslenkung durch tägliche Pressekonferenzen und die Verbreitung von Nachrichtenmaterial des Deutschen Nachrichtenbüros, die mit einer Nachzensur verbunden waren.
Die Gefahren einer ermüdenden und abstumpfenden Propagandaroutine waren Goebbels durchaus bewußt. Deshalb genehmigte er in der reglementierten und zunehmend öder werdenden Presselandschaft aus Gründen der scheinpluralistischen Auswirkung noch einige "Farbtupfer", wie die bürgerlich-liberale "Frankfurter Zeitung" oder als Eigenkreation die Zeitung "Das Reich", die anspruchsvollen Journalismus präsentieren sollten. Zudem verband der Großdeutsche Rundfunk mit seinem Einheitsprogramm in einer geschickten Mischung Nachrichten und Kommentare mit populärer musikalischer Unterhaltung ("Wunschkonzerte").
Propaganda durch den Film
Im Film wurde eine allzu plumpe Politisierung vermieden, obwohl auch in diesem Medium die Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung, erleichtert durch die ökonomischen Probleme der Filmwirtschaft, rasch erfolgte. Nach der Säuberung von jüdischen, sozialkritischen bzw. linken Regisseuren und Schauspielern betrieb Goebbels, der eine besondere Vorliebe für den Film (und seine Stars) entwickelte eine gezielte und wirkungsvolle Filmpolitik. Dies geschah mit Hilfe der gleichgeschalteten Berufsverbände und der Reichsfilmkammer sowie einer gezielten finanziellen Förderung der Filmwirtschaft und der Einstellung eines linientreuen "Reichsfilmdramaturgen". Goebbels Filmpolitik wurde noch durch eine Monopolisierung der Filmproduktion unter seiner Leitung verstärkt. Die Popularität und Wirkungskraft der Filme lag darin, daß Unterhaltungsfilme und Filme mit etablierten nationalpolitischen Themen, die etwa den Mythos Preußens pflegten, den Vorrang vor politischen Filmen einnahmen. Hatten in der Anfangsphase noch Filme mit Themen aus der nationalsozialistischen Kampfzeit ("Hitlerjunge Quex", "SA-Mann Brand" und "Hans Westmar") die Leinwände zu beherrschen versucht, so verschwanden dezidierte Darstellungen von NS-Größen und NS-Symbolen aus der politischen und vor allem der unpolitischen Unterhaltungsfilmproduktion. Während des Krieges traten rassenpolitische Themen in den Vordergrund (so der antisemitische Spielfilm "Jud Süss" und die "Rothschilds" oder der Propagandafilm "Der ewige Jude").
Große Wirkung erzielten neben den Wochenschauen, die eine sorgfältige Kontrolle durch das Propagandaministerium erfuhren, vor allem Dokumentar- und Kulturfilme, die zum Repertoire aller Kinos gehörten. Herausragend in diesem Genre waren wegen ihres inszenatorischen und finanziellen Aufwandes, aber auch wegen ihrer unbestreitbaren Wirkung der Dokumentar- und Propagandafilm von Leni Riefenstahl über den Nürnberger Reichsparteitag 1934 ("Triumph des Willens") und die zweiteilige Olympiaproduktion von 1936 ("Fest der Völker" und "Fest der Schönheit"), die mit der Monumentalität der Bilder und der Heroisierung des filmischen Gegenstandes Ansätze einer eigenen nationalsozialistischen Filmästhetik entwickelten.
Mit der Lenkung und Instrumentalisierung von Rundfunk und Film knüpften die Nationalsozialisten an die Entwicklungstendenzen der modernen Massenkultur an und perfektionierten sie für ihre Zwecke. Sie waren damit ganz Teilhaber und Nutznießer der Moderne, so wenig sie zugleich darauf verzichten wollten, den traditionellen Kulturbetrieb, das heißt Literatur, Musik, Bildende Kunst und Theater zu durchdringen und ihren ambivalenten Herrschaftstechniken von Verlockung und Zwang unterzuordnen. Gleichwohl war die Autonomie der Kunst etwa im Bereich von Theater und Musik trotz aller personellen Säuberungen und Selbstanpassungen bzw. kulturpolitischen Eingriffe noch eher gewahrt als in den modernen Massenmedien.
Dem nationalsozialistischen Politikverständnis und Politikstil sehr viel eigentümlicher und immanent waren der Feierstil und der nationalsozialistische Festkalender, in denen sich Elemente einer eigenen, pseudo-religiösen Liturgie und einer "Sakralisierung der Führerherrschaft" (Hans Günther Hockerts) fanden. In den Ritualen und Symbolen des politischen Massenkultes, den der Nationalsozialismus in seiner Regimephase schrittweise ausbaute und perfektionierte, zeigte sich auch sein eklektischer Charakter.
Feierstil und Festkalender
Was immer eine emotionale Wirkung versprach, wurde von den verschiedenen Kult- und Feierformen aufgenommen und integriert: vom christlichen Kultus über die vaterländische Feier bis zu den rituellen Formen der Jugendbewegung, daneben aber auch Elemente des politischen Kultes des italienischen Faschismus. Beschränkte sich jedoch der italienische Faschismus auf die pathetische Selbstdarstellung des Staates, so suchte der NS-Kult bis in den Alltag der Menschen hinein zu wirken. Denn die Feiern fanden nicht nur auf nationaler Ebene bei Massenveranstaltungen in Nürnberg, München oder Berlin statt, sondern wurden auf regionaler und lokaler Ebene wiederholt und imitiert. Ein besonderer Rhythmus des nationalsozialistischen Feierjahres wurde verordnet. Nichts demonstriert den totalitären Anspruch des Regimes deutlicher als dieser Versuch, über Alltag und Feste der Bevölkerung zu verfügen und damit den traditionellen Festkalender, wie er vor allem von den Kirchen bestimmt war, zu unterlaufen und letztlich zu ersetzen.
Der nationalsozialistische Jahreslauf begann mit dem 30. Januar, an dem mit Aufmärschen an den "Tag der Machtergreifung" erinnert wurde. Es folgte Ende Februar der Parteifeiertag, mit dem an die Verkündigung des 25-Punkte-Programms der NSDAP erinnert werden sollte. Der "Heldengedenktag" im März übernahm Formen der Erinnerung an die Gefallenen der Kriege und deutete den Kriegstod – ähnlich wie im Denkmalskult – zum Heldentod um. In Anlehnung an die Tradition der Kaisergeburtstage wurde am 20. April "Führers-Geburtstag" mit Aufmärschen und Paraden sowie mit der Aufnahme der 14jährigen in die Hitlerjugend begangen. Der Maifeiertag, seit dem 1. Mai 1933 ein arbeitsfreier Tag, war ein Traditionselement der Arbeiterbewegung, das als Fest der Volksgemeinschaft umgedeutet und regelmäßig begangen wurde. Höhepunkt des Festjahres waren die mehrtägigen Reichsparteitage der NSDAP im September in Nürnberg, die mit der Monumentalität der Parteitagsarchitektur, der Magie der Fahnen und Fackeln, den Massenzeremonien, Todesverklärungen und Erlösungsritualen ein politisch-ideologisches Gesamtkunstwerk boten, in dessen Mittelpunkt immer der "Führer" stand. Der Parteitag war nicht Diskussionsforum, sondern grandiose Selbstdarstellung eines politischen Kultes, die Emotionen wecken und alle Sinne betäuben sollte.
Auf die monumentale Machtentfaltung von Partei, SA und SS, von Arbeitsdienst sowie HJ in Nürnberg, die durch eine Parade der Wehrmacht einen martialischen Charakter erhielt, folgte Anfang Oktober das Erntedankfest vom Bückeberg, mit dem der nationalsozialistische "Blut und Boden"-Kult gefeiert wurde. Den Jahreslauf schloß die Feier des 9. November in München ab, wo durch Ritus und Dekoration die Niederlage von 1923 (Hitlerputsch in München, vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 18 f.) in einem Akt symbolischer Revision in einen Triumph verwandelt werden sollte.
Über die Wirkung dieser Masseninszenierung haben wir widersprüchliche Berichte. Zwar konnte das im Führerkult gipfelnde Massenspektakel in Nürnberg bei den Beteiligten allemal eine Art Hochstimmung hervorrufen, die jedoch bald wieder durch Alltagsprobleme verdrängt wurde. Sie äußerten sich etwa in der Kritik an Versorgungsengpässen sowie vor allem in der Empörung über das protzige und herrische Auftreten sowie das korrupte Verhalten nicht weniger Politischer Leiter der NSDAP. Es stand im allzu krassen Gegensatz zu dem Anspruch einer neuen politischen Elite.
Während die Partei mit ihren Untergliederungen ihr Image gerade während der Kriegszeit durch die Ausweitung ihres Betreuungsanspruchs zu beheben versuchte, zeigten die Kampagnen gegen die "Miesmacher und Kritikaster", die seit 1934 immer wieder gestartet wurden, daß die NS-Propaganda hinter der schönen Fassade nicht ohne Überrumpelung und Zwang auskam. Da wurde die Bevölkerung zum Ankauf von Hakenkreuzabzeichen, zur Teilnahme an Kundgebungen oder zu Spenden für das Winterhilfswerk und zum Eintopfessen genötigt. Die Propaganda, und die als ihre Erfüllungsgehilfen fungierenden vielen kleinen Unterführer übten einen gewissen Zwang aus, unaufhörlich "öffentliche Bekenntnisse" zum nationalsozialistischen Staat abzulegen. Sie enthüllte damit ihren eigentlichen Zweck, die soziale Kontrolle zu festigen. Dennoch war die Propaganda in der Regel nur dann wirkungsvoll, wenn sie nicht durch Alltagserfahrungen widerlegt wurde, sondern diese verstärkte oder von diesen unberührt blieb, wie das für den Führermythos galt, der sich über das Alltägliche erhob und darum eine größere Stabilität besaß.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Ausbau des Führerstaates