Wiedervereinigt auf dem Rücken von Migranten und Migrantinnen?
Tilman Wickert
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Infolge der Wiedervereinigung sei die migrantische Bevölkerung in Deutschland systematisch ausgegrenzt worden, ist die These einiger Autorinnen und Autoren. Besonders der „Asylkompromiss“ von 1993 gilt ihnen als Ausdruck einer neo-nationalistischen Ausgrenzungspolitik. Tatsächlich jedoch war die Ausländerpolitik der Nachwendejahre keineswegs ausgrenzend und nationalistisch, sondern integrativ geprägt, ist die Gegenthese Tilman Wickerts. Ein Diskussionsbeitrag.
Wurde die deutsche Einheit auf dem Rücken von Migrantinnen und Migranten ausgetragen? Seit einigen Jahren wird diese Deutung verbreitet – vorrangig von einigen Journalisten, migrantischen Speakern, Aktivisten und Theatermachern. Doch was sich bislang auf einige wenige Feuilletons und Theaterbühnen beschränkte, wird mittlerweile auch von Akteuren der historisch-politischen Bildungsarbeit aufgegriffen. So sind jüngst eine Reihe von zeitzeugenbasierten Web-, Ausstellungs- und Publikationsprojekten verwirklicht worden, die migrantische oder „postmigrantische“ Perspektiven auf Mauerfall, Wiedervereinigung und die als Transformationszeit bezeichneten Jahre von 1990 bis 1995 sichtbar machen wollen. Die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen – meist Personen mit Zuwanderungsgeschichte oder „People of Color“ – berichten von Gewalt und Ausgrenzungserfahrungen, die sie als zeittypisch für die Nachwendejahre erlebten, wenngleich viele von ihnen auf die Existenz rassistischer Gewalt auch vor der Zäsur von 1989/90 in beiden deutschen Gesellschaften verweisen.
Unstrittig ist, dass viele Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte in Deutschland in den Nachwendejahren Erfahrungen mit rechter Gewalt machten, wie etwa die Anschläge in Mölln 1992 und die Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 zeigten. Die Aufnahme solcher Erfahrungen in die Erinnerungskultur ist uneingeschränkt zu begrüßen, ja überfällig. Entschieden widersprochen werden sollte jedoch, wenn daraus umstandslos das Narrativ abgleitet wird, wonach die Wiedervereinigung eine nationalistisch motivierte Ausgrenzung und Entrechtung der migrantischen Bevölkerung durch die Gesellschaft und Politik bewirkt hätte. In den (post)migrantischen Perspektiven auf die Wiedervereinigung, wie sie auch medial angeboten werden, ist genau dies jedoch oft der Tenor. So wird nicht nur die rechte Gewalt der Nachwendezeit häufig pauschal in einen Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gesetzt (obwohl es dieses Phänomen schon vor 1990 in beiden deutschen Staaten und Europa in steigender Intensität gab). Auch jenseits davon erscheinen dort die Jahre nach 1990 fast durchweg als integrationspolitisch dunkles Zeitalter, in dem die Einheit „auf dem Rücken“ der Migranten „ausgetragen“ worden sei. Ihre systematische Ausgrenzung, so die Annahme, sollte die Annäherung der Deutschen in Ost und West ermöglichen. Eine Zeit des integrationspolitischen Rückschrittes seien die Nachwendejahre gewesen, behaupten Safter Cinar und Ayse Demir vom „Türkischen Bund Berlin-Brandenburg“ und beklagen die vermeintliche „Degradierung“ türkeistämmiger Migranten nach 1989/90zu „Drittklassebürgern“. Der Zeithistoriker Patrice Poutrus meint in diesem Zusammenhang gar, im Zuge der Wiedervereinigung sei die ethnische Abstammung zum zentralen Zugehörigkeitskriterium der deutschen Nation gemacht und die vormals vermeintlich existente kosmopolitisch-westliche Identität der bundesdeutschen Gesellschaft zerstört worden.
Am weitesten hat diese Deutung das Web-Projekt „Erinnern stören“ vorangetrieben. Das Projekt, das aus der migrationspolitischen Bildungsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden ist, hat den Versuch unternommen, Mauerfall, Wiedervereinigung und Nachwendejahre aus jüdischer und migrantischer Perspektive zu beleuchten. „Der Rassismus“ diente dabei, laut den Projektleitern, als „innerer Motor“ der Wiedervereinigung, der migrantische und jüdische Personen aus der „nationalen Gemeinschaft aussortiert“ habe. Den Prozess der inneren Einheit interpretieren sie als systematische Marginalisierung und Entrechtung von Migranten, deren Stimmen im „gewaltvollen Transformationsprozess“ zum „Schweigen gebracht“ worden seien. Vor allem im 1991 geänderten Ausländergesetz und im 1993 vom Bundestag beschlossenen „Asylkompromiss“ sehen die Autoren die Höhepunkte einer nationalistischen Ausgrenzungspolitik. Der Asylkompromiss wird als Eingeständnis der Politik gegenüber rechter Gewalt und als informeller „Gründungsakt der Berliner Republik“ gedeutet. Ebenso anschaulich wie verschwörungstheoretisch aufgeladen hat Massimo Perinelli, Leiter des Projektes „Erinnern stören“, diese Deutungen zusammengefasst: „Die kapitalistische Abwicklung der ostdeutschen Infrastruktur wurde mit dem heraufbeschworenen Bild einer homogenen Nation kompensiert. Die diskursive Integration der neuen Bundesbürger wurde auf dem Rücken der Migrantinnen und Migranten ermöglicht. Die Toten von Mölln, Solingen und Lübeck waren Teil eines umfassenden Versuchs, die migrantische Bevölkerung zu entrechten, was sich nicht nur in der Änderung der Verfassung und der massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl zeigte“.
Doch wie plausibel sind solche Deutungen? War Rassismus ein „Motor der Wiedervereinigung“? Wurde sie auf dem Rücken von Migranten und Migrantinnen ausgetragen? Hatte die Politik mittels des Ausländerrechts eine umfassende Entrechtung oder Degradierung von Migranten und ihren Nachkommen vorangetrieben?
Bei nüchterner Betrachtung des Migrationsgeschehens und der bundesdeutschen Ausländer- und Migrationspolitik der Jahre 1990 bis 1995 sind diese Deutungen kaum aufrecht zu erhalten.
Rekordeinwanderung 1990 – 1995
Zunächst ein Blick auf die Zahlen: Nach außen hin hermetisch „abgeschottet“ hatte sich das wiedervereinigte Deutschland in der Transformationszeit ohnehin nicht. Vielmehr stieg die Zahl der ausländischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Deutschland nach der Wiedervereinigung bis zum Jahr 1995 stärker als in irgendeinem Fünfjahreszeitraum zuvor - von 5,3 auf 7,2 Millionen. Vor allem dem gestiegenen Migrationsdruck aus Osteuropa öffnete sich das gerade neuvereinigte Deutschland – trotz bereits steigender Asylbewerberzahlen – teilweise bemerkenswert vorbehaltlos. Dies bezeugen etwa die rechtlich verankerten Einwanderungsgarantien für die etwa 4 Millionen deutschstämmigen Aussiedler, die 1990 noch in den Staaten der Sowjetunion und Osteuropas lebten. Ebenso die Regelungen für die circa 1,5 Millionen jüdischen Bürger der UdSSR, die sich nach einem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz im Februar 1991 dauerhaft und mit ihren Familienangehörigen in Deutschland niederlassen durften.
Darüber hinaus öffneten Regierungsabkommen über kontingentierte Einwanderung von Werkvertragsarbeitnehmern, welche die Bundesrepublik zeitgleich mit Polen oder Ungarn schloss, den deutschen Arbeitsmarkt für osteuropäische Zuwanderung, was vor allem als Wirtschafts- und Aufbauhilfe für das transformationskrisengeschüttelte Osteuropa diente. Allein mit Blick auf die Regelungen für die Spätaussiedler und die jüdischstämmigen Bürger aus der einstigen Sowjetunion ist schleierhaft, wie der Bundesrepublik für die Nachwendejahre eine fremdenfeindliche Abschottungspolitik nachgesagt werden kann.
So wie die Politik das Land gegen Einwanderung nicht abschottete, schwenkte auch die Bevölkerung des wiedervereinigten Deutschland nach 1990 nachweislich nicht „nach rechts“. Die großen Lichterkettendemonstrationen, mit denen die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihren Abscheu über die Brandanschläge von Mölln 1992 artikulierte, veranschaulichten vielmehr die gesellschaftliche Isolation von völkisch-rassistischen Gesinnungen und ihrer neonazistischen Träger. Tatsächlich lehnten selbst auf dem Höhepunkt der „Asyl-Debatte“ 1993 nicht mehr als 15 Prozent der Deutschen die Aufnahme von Asylbewerbern grundsätzlich ab und gerade einmal fünf Prozent plädierten für die Rückführung von ausländischen Arbeitnehmern in deren Heimatländer.
Hingegen befürworteten zeitgleich 60 bis 70 Prozent der Deutschen – je nach Umfrage – eine liberalere Einbürgerungspraxis für länger in Deutschland lebende Ausländer und Ausländerinnen sowie eine großzügige Handhabung der doppelten Staatsangehörigkeit etwa bei türkeistämmigen Zuwanderern. Auch ein Anstieg fremdenfeindlicher oder rassistischer Meinungsbilder ist für die Nachwendejahre im Langzeittrend nicht zu verzeichnen. Vielmehr stagnierten beziehungsweise sanken fremdenfeindlich-rassistische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung zwischen 1990 und 1994, wie die „ALLBUS-Gastarbeiterstudie“ – die in der empirischen Sozialforschung als erstrangiges Standardinstrument zur Erfassung von Einstellungen gegenüber Ausländern gilt – nachgewiesen hat.
Einbürgerung statt Ausgrenzung - Die liberale Ausländerpolitik der Transformationszeit
Diesem Geist entsprechend fand gegenüber in Deutschland lebenden Ausländern und Ausländerinnen nach 1990 auch keine Politik der Ausgrenzung statt. Vielmehr begann ein bemerkenswerter Öffnungsprozess, der sich in den ausländerrechtlichen Reformen der Jahre 1990 bis 1993 ablesen lässt. Vor allem das neue Ausländerrecht von 1991 – ein Resultat jahrelangen Ringens der Parteien CDU/CSU, FDP und SPD – stand sichtlich im Zeichen der Integration der in Deutschland lebenden Ausländer und Ausländerinnen.
Hatte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann in der Debatte um ein neues Ausländergesetz Ende der 1980er Jahre noch Bestimmungen zur Wahrung und Erhaltung ethnischer Homogenität gefordert, enthielt das Ausländergesetz seines Nachfolgers Wolfgang Schäuble solche Bestimmungen gerade nicht. Stattdessen gewährte es bis dahin nicht gekannte Rechtssicherheiten und gab den im Land lebenden Ausländern Garantien für Familiennachzüge, Wiederkehroptionen und Aufenthaltsverfestigungen.
Vor allem aber öffnete das Gesetz Millionen von Ausländern die Tür zur deutschen Staatsbürgerschaft, die ihnen bis dahin durch das rigide Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 (RuStAG) weitgehend verschlossen war. Eine Option auf die deutsche Staatsbürgerschaft besaß ab 1991 nun, wer mindestens 15 Jahre in Deutschland ansässig war, seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, nicht straffällig geworden und seine bisherige Staatsbürgerschaft aufzugeben bereit war. Auch einen Sprachtest oder einen Nachweis der Integration verlangte das Ausländergesetz von 1991 nicht. Von der Novellierung des Ausländergesetzes profitierten vor allem die ehemaligen „Gastarbeiter“, die vor 1973 nach Deutschland gekommen waren und daher 1991 den geforderten Mindestaufenthalt mehrheitlich vorweisen konnten. Darüber hinaus durften auch jüngere Ausländer und Ausländerinnen, die zwischen 16 und 23 Jahre alt waren, sich einbürgern lassen, sofern sie seit 8 Jahren straffrei im Bundesgebebiet gelebt und 6 Jahre dort eine (allgemeinbildende) Schule besucht hatten.
Diese Regelung war vor allem an die Kinder langjährig ansässiger Gastarbeiter adressiert, die mit den Staatsbürgerschaften ihrer Eltern geboren worden waren. Auch die Verwaltungskosten für den Einbürgerungsakt, bis dahin horrende 5.000 D-Mark, die vom Antragsteller gezahlt werden mussten, wurden auf niedrigschwellige 100 D-Mark abgesenkt. Im Rahmen des „Asylkompromisses“ von 1992/93 wurde diese Regelung, die bis dahin als Ermessensanspruch galt, in einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung umgewandelt. Diese weitreichenden Reformen lösten einen regelrechten Einbürgerungsboom vor allem bei Ausländern und Ausländerinnen aus den ehemaligen Gastarbeiter-Anwerbestaaten aus, die nicht der Europäischen Gemeinschaft angehörten.
So stieg etwa die Zahl der Einbürgerung von türkeistämmigen Ausländern zwischen 1990 und 1995 von circa 2.000 auf rund 30.000 Fälle pro Jahr an. Auch die Einbürgerung von Menschen aus Jugoslawien oder Marokko stieg in diesem Zeitraum stark an. Bis zum Jahr 2000, als die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts der rot-grünen Bundesregierung Schäubles Ausländergesetz ablöste, hatte die Novellierung des Ausländergesetzes bereits Hunderttausenden den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit ermöglicht. Offenkundig diente das geänderte Ausländergesetz der Integration und keineswegs der Ausgrenzung von Zuwanderern.
Der „Asylkompromiss“ – Die Europäisierung der Asylgesetzgebung
Dass die Liberalisierung des Einbürgerungsrechtsausgerechnet im Rahmen des vielgeschmähten Asylkompromisses vollendet wurde, ist nur oberflächlich betrachtet eine merkwürdige Kapriole der deutschen Migrationspolitik. Denn weder war der sogenannte Asylkompromiss eine Kapitulation von SPD und FDP vor der rechtsextremen Gewalt noch Ausdruck des angeblichen Wunsches der sozialdemokratischen Parteibasis nach ethnischer Homogenität des Nationalstaates. Tatsächlich war er ein „weitreichender Migrationskompromiss“ (Klaus Bade), der neben den Bestimmungen zur Asylrechtsverschärfung auch entgegengesetzte Aspekte umfasste.
So wurde neben dem Rechtsanspruch auf Einbürgerung auch ein gesonderter Schutzstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge geschaffen, die bis dahin durch aussichtslose Asylverfahren geschleust wurden. Allein diese Gegensätzlichkeit der einzelnen Bestimmungen erhellt, dass der Asylkompromiss kaum der Höhe- oder Ausgangspunkt einer vermeintlich völkisch-nationalistischen Umgründung der Bundesrepublik gewesen ist.
Überdies hingen die Asylrechtseinschränkungen des Asylkompromisses ohnehin nicht mit der Deutschen Einheit, dafür aber stark mit dem europäischen Einigungsprozess zusammen. Dieser hatte nach 1990 rasant an Fahrt aufgenommen und forcierte die Europäisierung der Asyl-und Migrationspolitik, was wiederum den Befürwortern einer restriktiven Asylpolitik in die Hände spielte, die nun ihren Gegnern mit dem Druckmittel der europäischen Einigung begegnen konnten. Nachdem die EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der Verhandlungen von Schengen und Maastricht eine gemeinsame europäische Asylpolitik angestrebt hatten, geriet vor allem das vergleichsweise liberale bundesdeutsche Asylrecht in die Kritik. Die Regierungen Frankreichs und des ohnehin Schengen-skeptischen Großbritanniens befürchteten, die nationale Hoheit über die Asylpolitik zu verlieren beziehungsweise ihre restriktive Asylgesetzgebung im Zuge eines Harmonisierungsprozesses stark an die liberalen Asylgesetze Deutschlands und Dänemarks anpassen zu müssen.
Der Handlungsdruck, der dadurch auf das deutsche Asylrecht entstand, kam der regierenden CDU/CSU gelegen, die ohnehin seit den 1980er Jahren eine umfassende Asylrechtsreform angestrebt hatte, sich aber nicht gegen die Blockade von SPD und FDP in Bundestag und Bundesrat durchsetzen konnte. Doch da die Europäisierung der Asylpolitik nach dem Schengen-II-Abkommen im Juni 1990 bereits weiterfortgeschritten war, bot sich der CDU/CSU nun Gelegenheit, die Blockade von SPD und FDP in dieser Frage über die europapolitische Ebene aufzubrechen. So wirkten Bundeskanzleramt und Bundesinnenministerium, beide CDU-geführt, in den europäischen Verhandlungen darauf hin, das Konzept der Drittstaatenregelung zur Grundlage einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu machen. Konkret erlaubte dies den EG-Staaten, Asylsuchende umstandslos abzuschieben, sofern sie aus einem sicheren nicht-EG-Staat eingereist waren, der die Genfer Konventionen achtete und keine Gefahr für Leib und Leben der Antragssteller bedeutete.
Diese Drittstaatenregelung, so verlangte es die Innenministerkonferenz der EG-Mitgliedstaaten, sollte rasch in nationales Recht umgesetzt werden, um die Personenfreizügigkeit innerhalb der Schengen-Staaten zu gewährleisten.
Auf diesem Wege gelang es dem Bundesinnenministerium – dank der ohnehin asylpolitisch restriktiv eingestellten Mehrheit der EG-Innenminister und ohne Beeinträchtigung durch sozialdemokratische und freidemokratische Mitspieler wie auf nationaler Ebene –, asylpolitische Kurskorrekturen auf europäischer Ebene einzuleiten, um diese dann auf die Bundesebene übertragen zu können.
Die Verknüpfung der Asylrechtsfrage mit dem europäischen Integrationsprozess durch Bundeskanzleramt und Bundesinnenministerium machte die sozialdemokratisch-liberale Blockade in Bundestag und Bundesrat zu einer Fragestaatspolitischer Verantwortung. Derart unter Verantwortungsdruck gesetzt, gaben die Parteispitzen von FDP und SPD ihren Widerstand gegen eine Asylrechtsänderung im Laufe des Jahres 1992 auf.
Vor allem bei den Sozialdemokraten stieß diese Kurskorrektur auf heftigen Widerstand von großen Teilen der Parteibasis – was Poutrus These von der vermeintlich nationalistischen, an ethnischer Homogenität des Staatsvolkes interessierten SPD-Parteibasis als Triebkraft hinter der Zustimmung der SPD zum Asylkompromiss ohnehin fragwürdig erscheinen lässt. Hochgradig wirksam war das Ausspielen der europäischen Karte durch die regierende CDU/CSU allemal – nicht nur, weil SPD und FDP sich stets für eine gemeinsame europäische Asylpolitik ausgesprochen hatten. Auch der Blick auf die europapolitische Großwetterlage des Jahres 1992 macht deutlich, wie heikel eine Behinderung des europäischen Einigungsprozesses durch die bundesdeutsche Politik gewesen wäre. Denn was deutsche Alleingänge anbetraf, hatte die Bundesrepublik in den Jahren vor 1992 ihr Pulver bereits restlos verschossen und bei den europäischen Partnern erheblichen Unmut erzeugt. Italien und die Niederlande hatte die Bundesrepublik bei den 2+4-Verhandlungen 1990 rüde ins zweite Glied abgedrängt (Genscher: „You are out of the game“) und die britischen und amerikanischen Verbündeten im Irakkrieg nicht im von ihnen gewünschten Maße unterstützt.
Überdies hatte die wiedervereinigungsbedingte Aufwertung der D-Mark durch die Bundesbank die Währungen Großbritanniens und Italiens massiv unter Druck gesetzt und das europäische Währungssystem der festen Wechselkurse (EWS) in eine Zerreißprobe geführt. Vor allem letzteres drohte die französische Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht im September 1992 zum Desaster werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund verboten sich weitere deutsche Alleingänge schlicht. Entsprechend groß war das normative Gewicht des europäischen Argumentes, mit dem die SPD-Parteispitze bei der Parteibasis den Asylkompromiss beharrlich bewarb. Der niedersächsische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder brachte es präzise auf den Punkt:
„Wir wollen die europäische Einigung. In guten wie in schlechten Zeiten. Also brauchen wir ein europäisches Asylrecht, weil die weltweiten Fluchtbewegungen ein europäisches Problem sind... Dafür - und nur dafür wollen wir das Grundgesetz ergänzen...".
Vor diesem Hintergrund lief die bundesdeutsche „Kompromissmaschine“ an und produzierte im Dezember 1992 den sogenannten Nikolaus-Kompromiss. In diesem stimmten FDP und SPD der Ergänzung des Grundgesetzes um die Drittstaatenregelung zu und rangen den Unionsparteien im Gegenzug die Einführung eines Rechtsanspruches auf Einbürgerung sowie eines gesonderten Schutzstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge ab.
Im Mai 1993 wurde der Kompromiss vom Bundestag endgültig abgesegnet. Wie immer man die Modifizierung des Asylrechts von 1993 rückblickend bewertet: Der Höhepunkt einer wiedervereinigungsbedingten völkisch-nationalen Rückbesinnung oder der Versuch, die migrantische Bevölkerung zu entrechten, war dies gewiss nicht. Vielmehr war dies ein (vorläufiger) Schlussstein eines Prozesses der Asylrechtsverschärfung, der jedoch bereits in den 1980er Jahren begonnen hatte. Weiter vorantreiben konnte die Bundesregierung diesen Prozess nach 1990 nicht aufgrund der Wiedervereinigung, sondern weil die EG durch den voranschreitenden europäischen Einigungsprozess „faktisch Einwanderungsgemeinschaft“ geworden war, die eine „integrierten Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ verlangte, wie das Bundesaußenministerium schon 1991, vor den Gewalttaten in Rostock, Mölln oder Solingen, erkannte.
Vorwürfe, dass die bundesdeutsche Politik und Gesellschaft zwecks Herstellung der „inneren Einheit“ die ausländische/migrantische Bevölkerung entrechtet, degradiert oder sonstwie „an den Rand gedrängt“ hätte, erweisen sich als nicht sonderlich stimmig – weder hinsichtlich des damaligen öffentlichen Meinungsbildes, noch in Bezug auf die Ausländer- und Migrationspolitik der Jahre 1990 bis 1995. Weder bei der Einwanderung noch bei der Einbürgerung setzte das vereinte Deutschland nach 1990 auf Abschottung oder Ausgrenzung. Stattdessen öffnete sich die Bundesrepublik vor allem der Einwanderung aus Osteuropa und dem postsowjetischen Raum, die nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ rasch zunahm. Die Einführung niedrigschwelliger Aufnahme- und Einwanderungsangebote für jüdischstämmige Sowjetbürger und osteuropäische Arbeitsmigranten sowie die Beibehaltung großzügiger Aufnahmeregelungen für deutschstämmige Aussiedlerermöglichten nach 1989/90 Millionen Menschen die Zuwanderung ins Bundesgebiet.
Auch in der Frage der Staatsbürgerschaft forcierte die Politik die Integration von Einwanderern und nicht ihre Ausgrenzung oder gar eine ethnische Homogenität des Staatsvolkes. So ermöglichten die Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts zwischen 1990 und 1993 Millionen von Zuwanderern und ihren Kindern den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft, der ihnen bis dahin durch ein stark abstammungsbezogenes ius sanguinis verwehrt war. Dies verbesserte die Lebensbedingungen vieler Migrantinnen und Migranten, denen nun die Wege zur vollständigen politischen Teilhabe, aber auch ins Berufsbeamtentum, geebnet wurden.
Darüber hinaus war die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts eine bedeutsame historische Zäsur in der Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland, die jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein scheint. So hatte sich das Land erstmals in seiner Geschichte schon 1991/93 – und nicht erst im Jahr 2000 – ein Staatsbürgerschaftsrecht zugelegt, das nicht mehr ausschließlich auf Abstammung basierte, sondern der Realität eines modernen Einwanderungslandes Rechnung trug. Migrationsbegrenzend intendiert war allein die hart umkämpfte Modifikation des Grundrechts auf Asyl im sogenannten Asylkompromiss von 1992/93. Dass dieser Parteienkompromiss nach jahrelangem Ringen zustande kam und FDP und SPD sich dem Willen der CDU/CSU beugten, war jedoch nicht allein eine Reaktion auf die steigenden Asylbewerberzahlen oder gar ein Kotau vor rechter Gewalt, sondern vor allem auf eine spezifische europapolitische Gemengelage zurückzuführen. Diese hatte sich erst nach 1990 herausgebildet und stellte der CDU/CSU ein neuartiges europapolitisches Druckmittel zur Verfügung, um die bundespolitische Pattsituation in der Asylfrage mittels der „europäischen Karte“ aufzubrechen.
Epilog
In den Narrativen von der Marginalisierung und Ausgrenzung von Migranten und Migrantinnen nach 1990 kommt all dies kaum vor. Die Jahre nach 1989 erscheinen dort als dunkles Zeitalter rassistischer Ausgrenzung durch Politik und Gesellschaft. Die umfassende Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechtes, der Rechtsanspruch auf Einbürgerung findet hingegen wenig Beachtung, ebenso wie die Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses auf das vereinte Deutschland und seine Migrationspolitik. Auch die bundesdeutsche Zivilgesellschaft und ihre integrative Kraft gegenüber Einwanderern bleiben in diesen Narrativen eigentümlich blass, geradezu unsichtbar.
Für die politisch-historische Bildungsarbeit sind solche undifferenzierten Deutungen wenig hilfreich, ja mitunter fatal. Denn wer als Sachunkundiger – etwa ein 16-jähriger Schüler mit Migrationshintergrund – mit solchen Deutungen konfrontiert wird, muss unweigerlich den Eindruck gewinnen, die wiedervereinigten Deutschen und ihre politische Klasse hätten sich nach 1990 in eine epistemische Gemeinschaft von völkischen Nationalisten verwandelt, die nach Erlangung der staatlichen Einheit zum großen Rundumschlag gegen die angeblich unerwünschten Migranten im Lande ausgeholt hätte.
Wer auch immer ein geschichtspolitisches Interesse daran haben mag, die „postmigrantische“ bundesdeutsche Gesellschaft mit diesen Narrativen zu versorgen: Politische BildnerInnen, GeschichtslehrerInnen und GedenkstättenmitarbeiterInnen sollten nicht gedankenlos an ihrer Verbreitung mitwirken und solche Narrative stärker kritisch hinterfragen. Denn es bleibt weiterhin eine Schlüsselaufgabe der historisch-politischen Bildung, Mauerfall, Wiedervereinigung und die Nachwendejahre in ihrem ganzen Facettenreichtum aufzubereiten und zu vermitteln. Aspekte des Einwanderungslandes Deutschland sollten dabei stärker als bisher berücksichtigt werden. Doch ebenso wenig darf dabei außer Acht gelassen werden, dass es auch Tendenzen gibt, die sich allzu oft des pauschalen Rassismusvorwurfes bedienen, um demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse der Wiedervereinigung und der Transformationszeit zu diskreditieren. Auf solche geschichtspolitischen Motive hinzuweisen, gehört ebenfalls zum Aufgabenbereich historisch-politischer Bildungsarbeit.
Zitierweise: Tilman Wickert, „Wiedervereinigt auf dem Rücken von Migranten und Migrantinnen?“, in: Deutschland Archiv, 25.8.2022, Link: www.bpb.de/512247. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend einige Links zu lehrreichen Video-Zeitreisen in die Jahre 1992 und 1993, die derzeit in den Mediatheken mehrerer öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten angeboten werden. Hier eine aktuelle Auswahl:
Tilman Wickert studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Potsdam und arbeitet als historisch-politischer Bildner für Berliner Museen und Gedenkstätten. Als Stipendiat der Bundesstiftung Aufarbeitung promoviert er über das Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen (AGSF) und die hochschulpolitische Kultur des Kalten Krieges.
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