Die Autorin Elisabeth Hingerl ist Lehramtsstudentin an der Universität Würzburg. Im Rahmen einer Kooperation zwischen der Redaktion des Deutschland Archivs und dem Lehrstuhl für Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg wurde ihre studentische Hausarbeit ausgewählt und der Autorin die Möglichkeit gegeben, dazu einen Beitrag für das Deutschland Archiv zu verfassen.
Waisenhäuser, Sanatorien, Gefängnisse, Kasernen und Klöster – all dies sind Beispiele für "Totale Institutionen". Das sind nach der Definition des kanadischen Soziologen Erving Goffman Einrichtungen, in denen Personen über einen längeren Zeitraum hinweg leben und zum Teil auch arbeiten. Alltägliche Abläufe werden ihnen streng vorgegeben. Sie liegen meist fernab vom gesellschaftlichen Leben, und so entsteht ein in sich geschlossenes System.
"Totale Institutionen" – geschlossene Einrichtungen im Lichte der Soziologie
Goffmans Forschungsschwerpunkt lag in der Untersuchung sozialer Interaktion in alltäglichen Situationen. Mitte der 1950er-Jahre begab er sich zur Feldforschung in eine psychiatrische Klinik. Sein Ziel war es, zu erforschen, wodurch sich die sozialen Verhältnisse in einer solchen Einrichtung auszeichnen. Goffman fokussierte sich dabei auf die Sicht von Patient*innen. Um ein unverfälschtes Bild davon zu erlangen, wie sie den sozialen Umgang in der Anstalt wahrnehmen, verbrachte er den Alltag dort mit den eingewiesenen Personen. Die Ergebnisse seiner Arbeit präsentierte er in vier wissenschaftlichen Aufsätzen, in denen er die Merkmale "Totaler Institutionen" sowie die Situation der dortigen Patientinnen und Patienten darstellte.
Die Jugendwerkhöfe in der DDR
Im Heimerziehungssystem der DDR war die Unterscheidung zwischen "normalen" und schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen zentral. Formal schlug sich dies in der Verordnung über Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen vom 26. Juli 1951 nieder, in der erstmals von "Normalkinderheimen" und "Spezialkinderheimen" die Rede war. 1964 fand eine umfassende Umstrukturierung des Heimsystems statt. Dabei erfolgte eine Neugliederung der Spezialheime. Wurden JWH zuvor noch gesondert aufgeführt, waren sie ab sofort in das System der Spezialheime integriert. Sie nahmen schwer erziehbare und straffällige Jugendliche und Kinder auf, "[…] deren Umerziehung in ihrer bisherigen Erziehungsumgebung trotz optimal organisierter erzieherischer Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief."
Die Unterbringung in einen JWH stellte bereits eine Bestrafung dar. Hierzu gab es aber, im Falle fortbestehenden Ungehorsams, eine weitere Steigerung: die Überweisung in den einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau (GJWT). Er wurde 1964 eingerichtet und bestand bis kurz nach dem Mauerfall 1989. In diesem Zeitraum existierte er neben 49 regulären JWH.
Das für den GJWT gewählte Gebäude bot die besten Bedingungen für ein in sich geschlossenes System, da es zuvor als Untersuchungshaftanstalt und Strafvollzugseinrichtung genutzt wurde. Die "verschlossene[n] Tore, hohe[n] Mauern, Stacheldraht […]", die Goffman als kennzeichnend für "Totale Institutionen" nennt, waren bereits gegeben.
Bestrafung und Umerziehung
Die Entscheidung, dass verschärfte Umerziehungsmaßnahmen ergriffen werden sollten, wurde formal nach staatlichen Vorgaben getroffen. Demnach sollte es zu einer Einweisung in den GJWT kommen, wenn Jugendliche wiederholt versuchten, aus einem JWH zu fliehen oder sich gegenüber dem Personal der Jugendhilfe nicht hörig genug verhielten. Tatsächlich folgten die Verantwortlichen jedoch nicht immer diesen Punkten, sondern einer persönlichen, willkürlichen Linie. Die Notwendigkeit einer Überweisung wurde oft nach ihrem eigenen Ermessen und bereits bei leichten Vergehen beschlossen. Über diese Entscheidungsgewalt verfügten die Direktoren eines Stammjugendwerkhofs sowie in manchen Fällen die Volkspolizei. Sie wandten sich an das Ministerium für Volksbildung unter Margot Honecker (Ministerin von 1963-1989), dem der GJWH direkt unterstand, und konnten somit eine Verlegung nach Torgau erwirken. Bei dem Verfahren wurde die Justiz nie einbezogen. Auf diese Weise wurden im Zeitraum von 1964-1989 mehr als 4.000 14- bis 18-Jährige in den GJWT eingewiesen. Die festgelegte Dauer der Unterbringung lag bei bis zu sechs Monaten.
In der Regel standen dort maximal 60 Jugendliche etwa 40 Aufseher*innen gegenüber. Dass die Zahl des Personals die der Insass*innen unterliegt, ist typisch für "Totale Institutionen". Besonders am GJWT war jedoch, dass einige Angestellte und auch der Direktor der Einrichtung keinerlei pädagogische Qualifikation für die Betreuung junger Menschen besaßen.
Goffman unterscheidet abhängig von der Funktion, die die "Totale Institution" für die Eingewiesenen erfüllen soll, zwischen verschiedenen Typen. Die Ziele des GJWT entsprechen demnach zwei Kategorien. Einerseits gehörte der GJWT zur Gruppe der Gefängnisse. Die Überweisung mit der Funktion der Bestrafung für wiederholte Regelverstöße machte ihn zu einer Institution des Strafvollzugs. Hinzu kommt die Kategorisierung in den Bereich jener "Totalen Institutionen", die eine Unterbringung in der Einrichtung damit rechtfertigen, dass dadurch ein bestimmtes Ziel besser verfolgt werden kann. Im Falle des GJWT war dies die Umerziehung der Jugendlichen. So heißt es in der Arbeitsordnung des Jugendwerkhofes Torgau: "Der Aufenthalt im geschlossenen Jugendwerkhof hat zum Ziel, die Erziehungsbereitschaft der Jugendlichen zu sichern und Grundlagen zu einer Motivationsveränderung für ihr Verhalten zu schaffen." Aus Sicht des DDR-Regimes war es hier leichter, die Überzeugungen der eingewiesenen Personen zu beeinflussen, sodass sie zukünftig einer sozialistischen Erziehung offener gegenüberstünden.
Isolation, Überwachung, Demütigung und Folter
Das Leben der eingewiesenen Jugendlichen war geprägt von "[…] Disziplinierung, Unterdrückung, Verweigerung angemessener psychologischer Betreuung, letztlich einem schweren Verstoß gegen die Menschenrechte." Dies zeigt sich etwa im Aufnahmeverfahren und im Bestrafungssystem.
Oft wurden die Betroffenen über die genauen Ursachen ihrer Unterbringung in den GJWT nicht aufgeklärt. Die Taktik, den Insass*innen solche Angaben vorzuenthalten, hat nach Goffman die Funktion, von Anfang an ein Ungleichgewicht zum Personal herzustellen. So wird es den Verantwortlichen erleichtert, ihre Dominanz zu betonen und die Gegenseite zu kontrollieren. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass die Lenkung der eingewiesenen Personen in der "Totalen Institution" vereinfacht wird, wenn sie direkt bei der Einweisung zur Unterordnung gezwungen werden. Ein solcher "Einweisungsschock" war auch im GJWT üblich. Bereits vor der Abfahrt nach Torgau wurden die Jugendlichen genau untersucht und durften, abgesehen von ihrer Kleidung, keine persönliche Habe mitnehmen. Im GJWT angekommen, wurden sie zunächst gezwungen, sich komplett zu entkleiden wonach sie einer weiteren Untersuchung unterzogen wurden. Es folgten eine Rasur des Kopfhaars und eine Desinfektion, dann erhielten sie uniforme, von der Institution gestellte Kleidung. Danach kamen die Neuankömmlinge in eine Isolationszelle, wo sie bei einer Ersteinweisung drei, bei einer Wiedereinweisung bis zu zwölf Tage verbringen mussten. 1968 wurden neun Prozent der Entlassenen erneut in den GJWT eingewiesen. Schließlich wurden die Jugendlichen von der Leitung in Empfang genommen und über die Abläufe sowie Regelungen der Einrichtung aufgeklärt. Zu nahezu jedem dieser Schritte bestehen Parallelen zu Goffmans Beschreibungen über die Aufnahmeverfahren "Totaler Institutionen". Ihm zufolge erwirkt der Schock der Prozedur, dass sich die eingewiesenen Personen nicht mehr mit dem eigenen Selbstbild und ihrem gesellschaftlichen Ich identifizieren können. Es kommt zu einer Entfremdung zwischen dem Selbst und der Außenwelt.
Das Prozedere enthielt Situationen der Demütigung und Unterdrückung noch bevor sich die Jugendlichen etwas zu Schulden kommen ließen. Ähnlich hart und wenig nachvollziehbar setzte sich ihr Aufenthalt im GJWT fort. Strafmaßnahmen sind laut Goffman fester Bestandteil eines Systems von Privilegien beziehungsweise dem Entzug dieser Sonderrechte in "Totalen Institutionen". Der Soziologe führt auf, dass sie für die Betroffenen ungewohnt streng sind und meist in die Strukturen der Anstalt integriert sind, sodass gewohnte Abläufe nicht verändert werden müssen. Im GJWT konnte das betreuende Personal in seiner Handlungsmacht darüber bestimmen, wie die Tagesordnung durchgeführt werden sollte. "Normale Handlungen erhielten dadurch oft den Charakter einer Bestrafung." Dazu gehörten beispielsweise das Sporttreiben bis zur völligen Erschöpfung, Essenszwang oder auch Nahrungsentzug. Hierbei spielten auch Kollektivstrafen eine wichtige Rolle. Verhielten sich einzelne Jugendliche nicht den Vorgaben entsprechend, musste die gesamte Einheit mit einer Bestrafung rechnen. Ein weiteres Beispiel für den demütigenden Strafenkatalog im GJWT war das Putzen mithilfe eines stiellosen Schrubbers. Goffman bezeichnet dies als "physische Entwürdigung", die, wie schon der Aufnahmeprozess, zu einem Identitätsverlust führen soll.
Neben den im Tagesablauf eingebauten Strafen griffen die Aufsichtspersonen zu weiteren Maßnahmen. Die Jugendlichen wurden zeitweilig aus der Gruppe ausgeschlossen, körperlich misshandelt, und die Unterbringung im GJWT konnte auf unbestimmte Zeit verlängert werden. Auch zuvor erteilte Privilegien konnten wieder entzogen werden. Dabei handelte es sich um sogenannte Freizeitvergünstigungen, die Möglichkeit, den Samstag- und Sonntagnachmittag unabhängig vom vorgeschriebenen Tagesablauf zu gestalten. Diese "Freizeit" sollte jedoch sinnvoll, zum Beispiel mit Lesen oder Schreiben, gefüllt werden. Für "Totale Institutionen" ist es typisch, dass es darin Räumlichkeiten gibt, die ausdrücklich als Ort der Bestrafung bekannt sind. In Torgau existierten zu diesem Zweck Arrestzellen. Bei Regelüberschreitungen wurden die Jugendlichen über Nacht, oder auch über mehrere Tage hinweg, darin eingesperrt. Dies galt als Höchstmaß, die Anwendung der Strafe war aber keine Ausnahme. Die Mädchen und Jungen mussten diese Arrestzeit unter ungenügenden hygienischen Bedingungen zubringen und waren der körperlichen Gewalt ihrer Erziehungspersonen ausgesetzt.
Schlafen, Spielen und Arbeiten an einem Ort
Kennzeichnend für den Alltag in einer "Totalen Institution" ist, dass ein starker Fokus auf das Kollektiv gelegt wird. Durch Gruppenzwang bleibt den Betroffenen jegliche Form der Individualität verwehrt. Auch im GJWT verlief der Tag weitestgehend kollektiv. Aufgeteilt nach Geschlecht, bekamen alle Jugendlichen gruppenintern die gleichen Aufgaben. Sie sollten so erzogen werden, dass sie selbst den Drang entwickelten, sich dem gesamten System unterzuordnen. Ziel war die Verinnerlichung einer sozialistischen Grundeinstellung. Ein Alltag im Sinne des Kollektivs bedeutete jedoch keine Entstehung einer Gemeinschaft. Die Jungen und Mädchen wurden nicht nur von der Außenwelt isoliert. Es war auch verboten, zu den anderen Eingewiesenen, vor allem zum anderen Geschlecht, Kontakt aufzunehmen.
Wie in anderen "Totalen Institutionen" war auch im GJWT ein fest vorgeschriebener Tagesablauf und ein umfassendes Regelwerk wichtig. Den Jugendlichen wurde bisweilen im Fünf-Minuten-Takt vorgeschrieben, wann welche Tätigkeit stattzufinden hatte. Nach dem Konzept "Totaler Institutionen" verlieren dabei die drei Lebensbereiche Schlafen, Spielen und Arbeiten ihre örtlichen Grenzen und geschehen in ein und derselben Umgebung. Für die Betroffenen in Torgau beschränkte sich diese Umgebung auf das Gelände des GJWT. Die Räumlichkeiten im Gebäude wurden so angepasst, dass sich das Leben der Jugendlichen während der gesamten Aufenthaltsdauer innerhalb der Mauern des GJWT abspielte. Dementsprechend waren dort nicht nur gemeinschaftliche Schlafsäle und Aufenthaltsräume errichtet worden, sondern auch Klassenzimmer sowie Werkstätten.
Wird der Punkt "spielen" als Freizeitgestaltung interpretiert, so fand diese nicht im individuellen Rahmen, sondern in der Gemeinschaft statt. Was zu tun war, wurde durch die Erziehenden vorgeschrieben. Die Jugendlichen sollten beispielsweise für den Unterricht lernen, lesen, Sport betreiben und Haushaltsaufgaben erledigen.
Zum Bereich "arbeiten" können der Unterricht und die Produktion gezählt werden. Ein Lehrplan legte für den Berufsschulunterricht fest, dass den Jugendlichen eine "staatsbürgerliche Erziehung" zuteilwerden und ihnen außerdem schulische Grundkenntnisse vermittelt werden sollten. Es ging darüber hinaus auch darum, die Jugendlichen zu einer lernfreudigen Arbeitshaltung zu erziehen. In eine Mädchen- und zwei Jungengruppen aufgeteilt, erhielten sie jeweils einmal pro Woche Unterricht. Die Unterrichtsinhalte und -praxen sind ein deutliches Indiz für die ideologische Beeinflussung und den politischen Zweck des GJWT.
Die übrigen Werktage waren für die Arbeit bestimmt. Es bestanden Kooperationen mit zwei Volkseigenen Betrieben aus der Region, für die die Jugendlichen nach genauen Soll-Vorgaben verschiedene Aufgaben der Metallproduktion übernehmen mussten. Dabei mangelte es an fachgemäßen Einweisungen durch die betreuenden Personen. Da ein regelmäßiges Wechseln zwischen verschiedenen Tätigkeiten vorgesehen war, war es außerdem schwer eine, Arbeitsroutine zu erlangen. Zusätzlich waren die geforderten Mengenangaben zu hoch angesetzt und kaum erfüllbar. Die Zwangsarbeit fand in den hausinternen Werkstätten statt, welche aber unzureichend beziehungsweise nicht zeitgemäß eingerichtet waren. Dadurch wurde, anstatt für das Arbeitsleben zu motivieren, eher Gegenteiliges bewirkt.
Soziologische Erklärungsansätze bringen neue Perspektiven
Die Geschehnisse in Torgau und in weiteren Kinder- und Jugendheimen in der DDR wurden bereits umfassend aufgearbeitet. Dennoch sind noch nicht alle Aspekte hinreichend geklärt. Eine zusätzliche Betrachtung des GJWT im Lichte der Soziologie liefert Erklärungen dafür, mit welchen Hintergedanken die Einrichtung auf die beschriebene Art und Weise geführt wurde. Ein tieferes Verständnis für die Vorstellungen von Erziehung und Pädagogik, wie sie vom Regime der DDR erwünscht und praktiziert wurde, wird dadurch ermöglicht. Der GJWT war in erster Linie ein Werkzeug zur Disziplinierung im Sinne der Ideologie des Staatssozialismus. Er war damit ein Mittel der Herrschaftssicherung der SED, so wie die Mauer, die Stasi und die Massenorganisationen. Jugendliche sollten nicht erzogen, sondern umerzogen werden, um keine Gefahr mehr für das Regime darzustellen. Die Instrumente, dies umzusetzen, waren Unterdrückung, Demütigung und Gewalt. So ist es notwendig, den GJWT in den Kontext einer Diktatur einzuordnen, die das Erziehungssystem für das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft instrumentalisierte. Dass die Jugendlichen in eine "Totale Institution" eingewiesen wurden, war nicht Folge eines echten Vergehens, sondern lediglich der Inanspruchnahme ihres Rechts auf Meinungs- und Handlungsfreiheit. Umso grauenvoller erscheinen die Vorgänge im GJWT.
Zitierweise: Elisabeth Hingerl, " Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau – eine "Totale Institution", in: Deutschland Archiv, 18.10.2021, Link: Interner Link: www.bpb.de/342140.
Hier können Sie den Beitrag von Interner Link: Christian Onnen "Grenzsicherung nach dem Mauerbau: Die mediale Begleitung der „Aktion Festigung“ in Ost und West" lesen, der ebenfalls im Rahmen der Kooperation zwischen der Redaktion des Deutschland Archivs und dem Lehrstuhls für Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg erschienen ist.