Sinti und Roma waren im Nationalsozialismus als „Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“, „Asoziale“ oder „Arbeitsscheue“ stigmatisiert und verfolgt und sind schließlich Hunderttausendfach vernichtet worden. In ihrem Vorgehen hatte sich die Politik des Regimes über die Jahre immer weiter radikalisiert.
Neuere Forschungen deckten zuletzt auf, wie sehr regionale und kommunale Akteure im NS-Staat zur Radikalisierung beigetragen haben. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist es inzwischen weitgehend unbestritten, dass die „NS-Zigeunerverfolgung“ in einem Völkermord kulminierte und dass die Verfolgung in weit überwiegenden Teilen von rassistischen Vorurteilen motiviert gewesen ist.
Spätestens die „Erste Verordnung zum Blutschutzgesetz“ vom 14. November 1935 hatte antisemitische Eheverbote auch auf andere „fremdrassige Gruppen“ ausgeweitet, zu denen das Reichsinnenministerium die „Zigeuner“ zählte. Sie wurden damit in den Geltungsbereich der „Nürnberger Gesetze“ einbezogen. Bereits seit dem Kaiserreich hatten gesonderte gesetzliche Bestimmungen gegen „Zigeuner“ bestanden. Vor 1945 hatte es einen breiten Konsens darüber gegeben, dass die Verfolgung dieser Minderheit „kriminalpräventiv“ oder sogar militärisch geboten sei, dass ihre Aussonderung und letztlich Deportation im Interesse der „Volksgemeinschaft“ liege. Erklärungsbedürftig ist mithin die atemberaubende Selbstverständlichkeit, mit der nach Kriegsende nationalsozialistische Wertmaßstäbe und Verfolgungspraktiken fortgeschrieben wurden – bis sich das Denken allmählich änderte.
„In Wahrheit haben sich die Nationalsozialisten doch ganz offenkundig von allem Anfang an von ‚rassischen‘ Vorstellungen leiten lassen und haben es bloß aus irgendeinem Grunde [...] für zweckmäßig gehalten, ihre Verfolgungsmaßnahmen ‚sicherheitspolizeilich‘ zu tarnen“.
Dieser Satz steht in einem langen Brief, den der Volkswirt Franz Böhm am 2. Dezember 1957 an den Sprachwissenschaftler Siegmund A. Wolf schrieb. Er demaskierte darin knapp ein Jahrzehnt nach Kriegsende die Verfolgungsstrategie der Nationalsozialisten gegenüber der Minderheit der Sinti und Roma – ein für diese Zeit seltener Gedanke. Und Franz Böhm war nicht irgendwer: 1956 bis1966 war der CDU-Politiker unter anderem stellvertretender Leiter des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestags. In seinem Schreiben an Wolf beklagte er das weiter andauernde kriminalbiologische Denken in der Gesellschaft gegenüber den Sinti und Roma, das sich in einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7. Januar 1956 und in vielen Einzelfallentscheidungen diverser Entschädigungsbehörden und Gerichte offenbart habe. Das Grundsatzurteil verneinte eine „rassisch“ intendierte Verfolgung der Minderheit vor Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942, was für viele zuvor deportierte Sinti und Roma den Weg für Entschädigungszahlungen auf Jahre versperrte. Viele gaben nach diesem Rückschlag auf, auch wenn sich die grundsätzliche Rechtsauffassung – erkämpft durch engagierte Juristen – in den 1960er Jahren änderte.
Was aber brachte die staatlichen Institutionen dazu, die „NS-Zigeunerverfolgung“ auch nach 1945 als „kriminalpräventiv“ – und damit in Teilen legitim – zu bewerten? Und was brachte Böhm und einige andere Akteure dazu, sich diesem öffentlich breit akzeptierten Denken in den Weg zu stellen? Warum sollte es weitere drei Jahrzehnte dauern, bis das von Böhm geforderte gesellschaftliche Umdenken langsam einsetzte? Antworten auf diese Fragen sind der Natur der Sache nach komplex. In meiner 2020 vorgelegten Dissertation habe ich die diskursiven Kämpfe um die Anerkennung des NS-Völkermords an Sinti und Roma in der alten Bundesrepublik untersucht. Dabei verstehe ich unter Anerkennung zweierlei: erstens die Einsicht von Wissenschaft und Politik, dass Sinti und Roma einem rassistisch motivierten Massenverbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Helfer zum Opfer gefallen waren, zweitens die erreichte Akzeptanz der Verbände der Sinti und Roma als legitime Gesprächspartner der Bundesregierung seit den 1980er Jahren. Beide Dimensionen habe ich im Rahmen einer Diskursgeschichte in ihren Wechselwirkungen analysiert. Diskursgeschichte wird meist über lange Zeiträume und oft mit alltagsgeschichtlicher Perspektive geschrieben. Meine Studie fokussiert hingegen die politischen Entscheidungsträger und deren zivilgesellschaftliche Pendants, deren Akten bislang noch kaum als diskursrelevant betrachtet wurden. Dazu habe ich Aktenmaterial von obersten Bundesbehörden und gesellschaftlichen Akteuren aus zwanzig Archiven ausgewertet. Die zweite Quellengruppe ist die einschlägige westdeutsche Historiografie und die Rezeption der im Ausland erschienenen Forschungen in der Bundesrepublik.
Nichtanerkennung der Minderheit und des Massenverbrechens ab 1945
„Es wird allgemein verkannt, daß der Nationalsozialismus primär nicht ‚rassistisch‘, sondern lediglich antisemitisch war.“
Dieser Satz liest sich vor dem Hintergrund aktueller Debatten um das Verhältnis von Holocaust und Kolonialverbrechen seltsam vertraut. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass der Autor des 1965 erschienenen Buches „Die Zigeuner“ die Singularität des Antisemitismus herausstellte, um die fortdauernde Stigmatisierung der titelgebenden Minderheit zu rechtfertigen. Hermann Arnold, ein Amtsarzt aus der süddeutschen Provinz, galt in der Bundesrepublik der 1960er Jahre als führender „Zigeunerexperte“, der zahlreiche Behörden beriet und ein ausgedehntes Netzwerk Gleichgesinnter unterhielt. Arnolds Ansichten über „Zigeuner“ entstammten einem konfusen Konglomerat von linguistischen, soziologischen und genetischen Argumenten. Das „Sippenwandern“ der „Zigeuner“, so behauptete der Arzt, sei erblich bedingt durch ein „psychische[s] Erbradikal“. Alle schlechten Eigenschaften der untersuchten „Vaganten“ entstammten daher dem „Zigeunerblut“. Arnold publizierte in behördlichen Schriftenreihen. Seine Thesen wurden von anerkannten Kriminologen und Humangenetikern aus dem ganzen Bundesgebiet rezipiert.
Es bedurfte an sich keines besonderen Scharfsinns, um zu erkennen, dass die vermeintliche Expertise Arnolds in einer kaum verbrämten NS-Ideologie wurzelte. Historiker fühlten sich jedoch lange nicht berufen, Männer wie Arnold öffentlich in die Schranken zu weisen. Mit Ausnahme von Sachverständigengutachten schwieg die damalige Zeitgeschichtsforschung. Statt eines dieser Gutachten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – wie das spektakulär beim Frankfurter Auschwitz-Prozess geschah – publizierte das Münchner Institut für Zeitgeschichte das Elaborat eines fachfremden Autors, des Kriminologen Hans-Joachim Döring, in den hauseigenen Vierteljahrsheften. Dörings Aufsatz über Motive der „NS-Zigeunerverfolgung“ bestätigte die höchstrichterliche Stigmatisierung der Minderheit als erblich zur Kriminalität disponierte Gruppe und verteidigte „rassenhygienische“ Forschungen an „Zigeunern“ unter Federführung des Reichsgesundheitsamts, obwohl diese die Grundlage von Deportationsbefehlen geschaffen hatten.
Anders die Kolleginnen und Kollegen im Ausland: In Polen, Großbritannien, den USA, Frankreich, Österreich und Israel lagen Mitte der 1960er Jahre bereits wesentliche – die rassistischen Motive unterstreichende – Studien zum Thema vor. Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hinkte hinterher oder ignorierte diese Forschungen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Einerseits war die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch kaum als Disziplin etabliert und mehr mit sich selbst als mit der internationalen Forschungsdiskussion beschäftigt. Einzelne Akteure der jungen Subdisziplin kamen aus der ideologisch belasteten „Volksgeschichte“ und waren daher zum Rassismus disponiert. Andererseits blieben die zentralen Verfolgungsakteure, das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) und die von Dr. Robert Ritter geleitete „Rassenhygienische Forschungsstelle“ (RHF) gleichsam unter dem Radar der ebenfalls jungen Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Diese Fehlwahrnehmung wurde durch die archivalische Überlieferungssituation begünstigt: Die Akten der RHF und des RKPA waren durch Kriegseinwirkung über das ganze Reich verteilt worden, viele wurden vernichtet oder gelten bis heute als verschollen. Wesentliche Teile des Materials gelangten als Beuteakten in die Vereinigten Staaten und wurden erst 1962 an das Bundesarchiv zurückgegeben. Teile der kriminalpolizeilichen Akten blieben in Benutzung: die polizeiliche Sondererfassung von Sinti und Roma – nun unter dem Label „Landfahrer“ – wurde fortgesetzt.
Unter solchen Vorzeichen konnten die wenigen Überlebenden der Sinti und Roma – trotz vereinzelter Initiativen – in der Bundesrepublik keine wirksame Vertretung für die Wahrnehmung ihrer Interessen errichten. Im Kontext einer erfolgreicheren Interessenwahrung im Nachbarland Frankreich – nicht durch wissenschaftliche Forschung – entstand die symbolträchtige Zahl von 500.000 Sinti und Roma, die der nationalsozialistischen Verfolgung zum Opfer gefallen seien. Sie entstammt einem Artikel, den der französische Rom Matteo Maximoff 1946 publizierte. Der jüdische Historiker Philipp Friedman griff Maximoffs Schätzung auf. Sie wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einer unumstößlichen Symbolzahl, obwohl empirische Belege nach wie vor fehlen. Gesichert ist bisher die Ermordung von bis zu 200.000 Verfolgten. Die Dunkelziffer der Verbrechen in der Sowjetunion und anderen Gebieten Osteuropas ist jedoch sehr hoch, sodass die ursprüngliche Schätzung zutreffen mag. Sie hat bislang aber vor allem die Rolle einer Beglaubigung erlittenen Leids gespielt, indem die Ziffer dazu verwendet wurde, den genozidalen Charakter der NS-Verfolgung von Sinti und Roma zu bestätigen. Die Anerkennung des Genozids wiederum war für die Überlebenden-Verbände eine Voraussetzung ihrer eigenen Anerkennung als ebenbürtige Gesprächspartner der Bundesregierung.
Gesellschaftliche Veränderungen und die Anerkennung des Genozids 1982
„Da der Herr Bundespräsident das Gespräch mit allen Bürgern wünscht, empfehle ich dem Herrn Bundespräsidenten, das Präsidium der Zigeunerrechtsmission zu empfangen. Die Zigeuner haben gerade unter der Nazi-Zeit sehr viel leiden müssen.“
Diese Empfehlung eines engen Mitarbeiters an Bundespräsident Gustav Heinemann führte 1969 zu einem offiziellen Treffen des deutschen Staatsoberhaupts mit einer kleinen Abordnung der in Hamburg gegründeten „Zigeunerrechtsmission“ um den Rom Rudolf Karway. Der kurze Meinungsaustausch brachte zwar keine signifikanten Verbesserungen für die Lebenssituation der Minderheit mit sich – ganz im Gegenteil protestierten andere Minderheitenangehörige gegen das vermeintlich offiziöse Treffen –, aber ein erster Schritt zur personalen Anerkennung der Minderheit war getan.
In den 1970er Jahren drängte in Europa eine jüngere Generation aus der Minderheit nach vorne: Das in der NS-Zeit erlittene Leid sollte nun öffentlich thematisiert werden, auch um die Entschädigungsfrage neu zu stellen. Diese Entwicklung begann zunächst auf europäischer Ebene. Das Engagement von französischen Roma-Aktivisten und einiger Abgeordneter der Beratenden Versammlung des Europarats führte zum Beschluss einer Resolution am 30. September 1969, durch die sich erstmals ein staatliches Gremium für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Minderheit aussprach. In Großbritannien veröffentlichten die beiden Aktivisten Donald Kenrick und Grattan Puxon 1972 das Buch „The Destiny of Europeʼs Gypsies“, das den internationalen Forschungsstand über die NS-Massenverbrechen an Sinti und Roma bündelte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde; erst 1981 in schlechter Übersetzung auch auf Deutsch.
In der Bundesrepublik war das Jahr 1973 ein Einschnitt. In Folge einer Wirtshausschlägerei und eines sich daran anschließenden – aus dem Ruder gelaufenen – Polizeieinsatzes wurde der Sinto Anton Lehmann durch einen Polizisten erschossen. Das veranlasste den Sinto Romani Rose und seinen Onkel Vinzenz Rose dazu, eine Demonstration mit mehreren hundert Teilnehmern am 18. Juni 1973 auf dem Heidelberger Messeplatz und einen Schweigemarsch durch die Altstadt zu organisieren. Dies war mutmaßlich die erste öffentliche Demonstration von Sinti in der Bundesrepublik. Bereits 1971/1972 hatte sich die Gruppe um die Roses die Bezeichnung „Zentral-Komitee der Sinti Westdeutschlands“ gegeben und Flugblätter verteilt, um auf die fortbestehende Diskriminierung von Sinti in den vielfältigsten Lebensbereichen aufmerksam zu machen. Auf Willy Brandt und eine fortschrittliche Sozialpolitik setzten die Vertreter der Minderheit ihre Hoffnungen; zunächst jedoch erfolglos. Ein Treffen mit dem Bundeskanzler kam nicht zustande, weil das Kanzleramt den Vertretungsanspruch des Verbands um Romani Rose bezweifelte und die „Zigeunerexperten“ um Arnold, die im Expertenkreis für „Zigeunerfragen“ des Bundesfamilienministeriums den Ton angaben, dies zu verhindern wussten.
Erst mit dem Engagement eines weiteren zivilgesellschaftlichen Akteurs wendete sich das Blatt. Die von dem sozialdemokratischen Volkswirt Tilman Zülch im Kontext des medial breit aufbereiteten Biafra-Konflikts gegründete „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV) nahm sich Ende der 1970er Jahre der Minderheit an. Weitaus größere Wirkung als die Biafra-Berichterstattung hatte die Ausstrahlung der amerikanischen Miniserie „Holocaust“ 1979/1980 im deutschen Fernsehen. Sie brachte erstmals einem Millionenpublikum nahe, dass die Ermordung der Juden im „Dritten Reich“ Menschen statt Massen getroffen hatte, dass hinter der unfassbaren Zahl von sechs Millionen Opfern Einzelschicksale gestanden hatten. Zülch nutzte geschickt diesen Resonanzraum, um Sympathien für die Sinti und Roma zu wecken. Die GfbV organisierte 1979 eine Gedenkkundgebung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, an der mehrere hundert Personen teilnahmen. Zu Ostern 1980 fand ein Hungerstreik von KZ-Überlebenden und Aktivisten aus dem Kreis der Sinti im ehemaligen Konzentrationslager Dachau statt, der weltweite Beachtung fand.
Mit Hilfe der GfbV konnte der nun „Verband der Sinti“ genannte Kreis um Romani Rose seine Beziehungen zu politischen Parteien, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Akteuren verbessern. In der regierenden SPD, ihren Fraktionen und Ministerien fanden sich zahlreiche Politiker und Beamte, die Forderungen der Sinti und Roma nach Partizipation und Anerkennung unterstützten. Entscheidende Voraussetzung war, dass es den Vertretern der Sinti gelang, die Gleichrangigkeit ihres Verfolgungsschicksals mit demjenigen der Juden glaubhaft zu machen. In dieser prinzipiellen Gleichrangigkeit lag für die Bundesregierung ein Problem. Denn die Sinti und Roma hatten bislang keine Pauschalentschädigung erhalten, und ihre individuellen Wiedergutmachungsanträge waren vielfach mit unverhohlen rassistischen Begründungen abgelehnt worden. Im Zeichen leerer Staatskassen nach dem zweiten Ölpreisschock war Bundeskanzler Helmut Schmidt deshalb daran gelegen, offensiv vorgetragene Entschädigungsforderungen der Minderheit zurückzuweisen, ohne ihnen die symbolische Anerkennung zu verweigern.
Daher kam es am 17. März 1982 zu einem Gespräch zwischen Vertretern der Verbände der Sinti und Roma, dem Bundeskanzler und weiteren Regierungsvertretern, dessen wichtigstes Ergebnis eine politische Erklärung über die Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma war. Hinzu kamen einige Verbesserungen im Sozial- und Aufenthaltsrecht und die Errichtung eines Härtefallfonds für bislang nicht entschädigte Opfer. Der Härtefallfonds wäre vermutlich nicht aufgelegt worden, wenn nicht zur gleichen Zeit eine „Abschlussgeste“ an Israel und die „Jewish Claims Conference“ auf der politischen Tagesordnung gestanden hätte. Als kaum zu überschätzender Erfolg des Treffens mit dem Bundeskanzler ist dagegen die Tatsache zu bewerten, dass Medien und Politik die Vertreter der Minderheit fortan als Sinti und/oder Roma ansprachen anstatt als „Zigeuner“ oder „Landfahrer“ – auch weil sie dies verlangten. Es wird hier deutlich, dass eine veränderte offizielle Haltung zu den NS-Massenverbrechen und die aufgebaute institutionelle Beziehungsebene auch einen Sprachwandel herbeiführte – ein Meilenstein in den Anerkennungsbemühungen.
Der Verband der Sinti forderte darüber hinaus die Anerkennung als nationale Minderheit auf dem Gebiet der Bundesrepublik, was verstärkte Mitspracherechte und steuerliche Vorteile mit sich gebracht hätte. Diese Anerkennung blieb den früheren „Zigeunern“ 1982 jedoch noch versagt, weil die entscheidende völkerrechtliche Voraussetzung fehlte, nämlich die Zugehörigkeit zur Mehrheitsbevölkerung eines Nachbarlandes, die beispielsweise den Dänen weitgehende Autonomie in Schleswig-Holstein eingebracht hatte. Der Hinweis der Bundesregierung auf solche „Fälle der Inkongruenz der Staatsgebiete mit den angestammten Siedlungsgebieten verschiedener Völker“ war indes nur vorgeschoben; intern befürchtete das Bundesinnenministerium, ein anerkannter Minderheitenstatus für Sinti und Roma würde das Tor zur „fremdartigen Ethnisierung“ Deutschlands weit öffnen:
„Wenn der Sonderstatus einer nationalen Minderheit auch später zuwandernden fremden Volksgruppen gewährt wird, so bedeutet das die Einleitung einer Entwicklung zum Vielvölkerstaat. Anderen Gruppen, insbesondere etwa den zahlenmäßig weitaus stärkeren Türken, könnte man das gleiche nicht verwehren.“
Die aktuelle Relevanz dieser Diskussion liegt auf der Hand: Wie divers kann ein Einwanderungsland wie die Bundesrepublik sein, welche Rechte kann die Mehrheitsbevölkerung für sich beanspruchen, wie kann Identität im nationalen und transnationalen Rahmen gedacht werden?
Ablösung eines Denkstils: ein langfristiger, unabgeschlossener Wandel
„Ich erinnere mich an die Angst der alten Leute, sie fürchteten eine staatliche Reaktion – meine Mutter war über Monate aufgewühlt.“
Nicht etwa Freude oder Stolz, sondern Furcht vor polizeilichen Übergriffen waren 1982 die erste Reaktion der Mutter des Sinti-Vertreters Matthäus Weiß und anderer Überlebender und deren Nachkommen auf die staatliche Anerkennung. Dem Staat traute man aus allzu schlechter Erfahrung vor allem Schlechtes zu. Dieses Beispiel zeigt, dass die regierungsamtliche Änderung von Sagbarkeitsregeln eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Abbau von Vorurteilen und Vorbehalten auf beiden Seiten war und ist.
Bis in die 1980er Jahre hinein gab es zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft keine organisierte Beziehungsebene. Der wissenschaftliche Diskurs um die „NS-Zigeunerverfolgung“ triefte jahrzehntelang vor Rassismus. Ich spreche daher rückblickend von einem kriminalpräventiven Denkstil, dessen Protagonisten von der gemeinsamen Grundprämisse ausgingen, die verfolgte Minderheit sei und bleibe aus biologischen Gründen kriminell. Dieses Denken wurde durch die besser rezipierten internationalen Forschungen seit den 1970er Jahren zunehmend unplausibel. Etwa gleichzeitig mit der personellen Anerkennung der Sinti und Roma als Gesprächspartner der Bundesregierung setzte in der Bundesrepublik die empirische Erforschung des Mordes an den Sinti und Roma ein. Ein genozidkritischer Denkstil brach sich Bahn. Dies sorgte dafür, dass vormals anerkannte „Zigeunerexperten“ wie Hermann Arnold ihre Diskursposition verloren.
In meiner eingangs erwähnten Dissertation vertiefe ich mit kulturwissenschaftlichem Blick diese bislang kaum empirisch erforschte Facette der Zeitgeschichte. Ob es eine solche diskursive Leitfunktion der öffentlichen Hand über diesen Fall hinaus gegeben hat, ist kaum erforscht. Im Kontext der Fragen nach Rassismus, Zuwanderung und Identität wären Erkenntnisse hierüber von besonderem Interesse: Kann die Exekutive dazu beitragen, dass über Minderheiten anders gesprochen und anders gedacht wird? Sind Eingriffe des Staates in die politisch-soziale Sprache unzulässige Verengungen der Meinungsfreiheit? Im Fall der Sinti und Roma beschnitt der Staat die Betätigungsfreiheit von Rassisten. Und das war gut so.
Zitierweise: Sebastian Lotto-Kusche, "Kann eine Gesellschaft umdenken? Die Anerkennung des NS-Völkermords an Sinti und Roma in der Bonner Republik", in: Deutschland Archiv, 15.09.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/339945.
Ergänzend zum Thema:
Joey Rauschenberger, Externer Link: „Nur sagen kann man es nicht“ Kontinuität und restaurative Transformation des Antiziganismus im Parlamentarischen Rat, Deutschlandarchiv vom 15.10.2022