Ab Mitte des Jahres 1990 strahlte das DDR-Fernsehen in Kooperation mit der westdeutschen Stiftung Warentest die Sendung AHA Tele-Test aus. Die zehnminütigen Beiträge informierten nicht nur über die Qualität und die im Handel unterschiedlich gestalteten Preise von neu verfügbaren Produkten und Dienstleistungen, sondern vermittelten auch Wissen über Änderungen bei den Verbraucherrechten. Ein im Juni 1990 kurz vor dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gesendeter Beitrag behandelte das für die DDR-Bevölkerung neue Geschäftsmodell einer kombinierten Reise- und Verkaufsveranstaltung, die sogenannten Kaffeefahrten, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits großer Beliebtheit erfreuten.
Im Mittelpunkt des Berichts standen die Erlebnisse einer Reisegruppe aus dem thüringischen Pößneck während einer eintägigen Kaffeefahrt nach Heidelberg, bei der Kissen und Decken aus vermeintlicher Lama- und Alpakawolle zu überhöhten Preisen verkauft wurden. Im Laufe der Sendung erklärte ein Vertreter der „Aktionsgemeinschaft gegen unlautere Werbefahrten“ die Verkaufspraktiken, während ein Textilprüfungsexperte feststellte, dass die verkauften Produkte nur einen geringen Anteil an Lama- und Alpakawolle enthielten und hauptsächlich aus Polyester bestanden. Grundsätzlicheren Fragen widmete sich der damalige Vorstandsvorsitzende der Stiftung Warentest, Roland Hüttenrauch, der die Zuschauenden in der Sendung warnte: „Man muss natürlich wissen, dass in der Marktwirtschaft niemand etwas zu verschenken hat.“ Anders als die beiden anderen Experten ging Hüttenrauch weniger auf das konkrete Beispiel ein, sondern verwies auf ein im bundesrepublikanischen Verbraucherschutzgesetz verankertes Widerrufsrecht, das ab Juli 1990 auf das Gebiet der DDR ausgeweitet wurde.
Das „Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften“ wurde im Rahmen des „Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der DDR“ bereits vor der Vereinigung übernommen. Neben Informationen über die Qualität und die Preise der verkauften Produkte, stellte die im Format des Ratgeberjournalismus konzipierte Sendung nicht nur juristisches Wissen zur Verfügung, sondern vermittelte Ordnungsvorstellungen vom „richtigen“ Konsumverhalten in der Marktwirtschaft. Mit dem Systemwechsel von 1989/90 und dem Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft veränderte sich nicht nur das im Handel verfügbare Angebot, sondern auch die Regeln des Konsums. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, auf welche vor 1989/90 angeeigneten Erfahrungen und Wissensbestände die ostdeutsche Bevölkerung bei diesem Wandel zurückgreifen konnte und welche neu erlernt werden mussten.
Konsum und Vertrauen in einer langen historischen Perspektive
Neben individuellem Wissen und persönlichen Erfahrungen kommt dem Vertrauen bei Konsumentscheidungen entscheidende Bedeutung zu. Arbeiten aus dem Feld der historischen Konsumforschung haben aufgezeigt, dass der Tausch oder Kauf von Produkten und Dienstleistungen ein grundsätzliches Vertrauen darin beinhaltet, dass das Gegenüber die versprochene Gegenleistung nicht verweigert. Da der Systemwechsel von 1989/90 für die Bevölkerung der DDR mit einer Interner Link: „Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten“ in allen Lebensbereichen einherging, kam der Kategorie des Vertrauens eine wichtige Orientierungsfunktion beim Konsum zu. Diese steht im folgenden Beitrag im Mittelpunkt der Betrachtung.
Aufgrund tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungsprozesse wie der Urbanisierung, Industrialisierung und Globalisierung begann sich der alltägliche Konsum in den europäischen Gesellschaften bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt im 20. Jahrhundert zu wandeln. Besonders die vermehrt in Städten lebenden Menschen versorgten sich weniger selbst oder auf regionalen Märkten, sondern konnten aus einer Vielzahl von Geschäften und Produkten auswählen. Arbeitsteilige und industrielle Produktionsverfahren sowie global vernetzte Handelssysteme führten dazu, dass es für die einzelnen Individuen kaum noch möglich war, persönliche oder verwandtschaftliche Vertrauensverhältnisse zu den jeweiligen Tauschpartnern aufzubauen. Um das Vertrauen in ökonomisches Handeln herzustellen, den Konsum abzusichern und den Erhalt von Gegenleistungen zu garantieren, entstanden zu dieser Zeit eine Vielzahl von neuen staatlichen Institutionen und kommerziellen Organisationen. Dazu gehörten zum Beispiel Banken, Markenrechte, Verbraucherschutzgesetze oder Garantieregelungen.
Ausgehend von diesen langen historischen Linien wird aufgezeigt, wie sich Ostdeutsche während und nach dem Systemwechsel 1989/90 Wissen über den Konsum in der Marktwirtschaft aneigneten und auf welche vertrauensbildenden Mechanismen sie zurückgreifen konnten, um im Alltag Konsumentscheidungen zu treffen. Zusätzlich zu individuell angeeigneten Strategien werden ausgewählte Institutionen, Medien und gesetzliche Bestimmungen exemplarisch in den Blick genommen. Neben Archivakten und Medienberichten dienen zweitausgewertete Interviews, die zwischen 1991 und 1993 im Rahmen eines soziologischen Forschungsprojektes in Leipzig erhoben wurden, als zentrale Quellengrundlage.
Konsum und Vertrauen im Alltag vor 1989/90
Ähnlich wie in anderen west- und osteuropäischen Staaten auch, wurden in der DDR Verordnungen und Gesetze zum Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten erlassen und Institutionen gegründet, die deren Einhaltung überwachten. Beispielsweise regelte das 1975 verabschiedete Zivilgesetzbuch der DDR (ZGB) die gesetzlichen Garantieregelungen (§§ 148 ff.), auf die sich die Bevölkerung der DDR etwa beim Kauf von elektronischen Geräten oder Möbeln berufen konnte. Diese garantierten – zumindest theoretisch –, dass fehlerhafte oder defekte Produkte entweder repariert, ersetzt oder der Einkaufspreis zurückerstattet wurde. Aufgrund des damals vorherrschenden Mangels an Ersatzteilen nahm die Reparatur von defekten Geräten in den 1980er Jahren zum Teil lange Zeit in Anspruch, sodass das Vertrauen in die staatlichen Garantieregelungen zurückging.
Dieser Vertrauensverlust zeigte sich etwa bei den Kontrollen der Arbeiter-und-Bauerninspektion (ABI), die im Juli 1988 feststellte, dass die Reparatur eines Staubsaugers in Leipzig etwa 40 bis 60 Werktage dauerte. Um sich über die langen Wartezeit zu beschweren und ihre Garantierechte einzufordern, richteten zahlreiche Leipzigerinnen und Leipziger im Laufe des Jahres 1988 Eingaben an die ABI. Das massenhafte Verschicken von Eingaben zeugte einerseits von der Unzufriedenheit auf Seiten der Bevölkerung und andererseits von der Erwartung der Kundinnen und Kunden, dass die adressierten Stellen über die notwendige „Potenz und Kompetenz“ verfügten, um eine gewünschte Lösung herbeizuführen und die Garantierechte umzusetzen. Wenn die Eingaben zur Zufriedenheit erledigt und eine Lösung des Problems herbeigeführt wurde, konnte enttäuschtes Vertrauen wiederhergestellt werden.
Neben zahlreichen anderen Wirtschaftssektoren kontrollierte die bereits erwähnte Arbeiter-und-Bauern-Inspektion auch die Bereiche Handel und Versorgung in der DDR. Die sowohl aus hauptamtlichen Funktionären als auch aus freiwilligen Helferinnen und Helfern zusammengesetzte ABI überwachte etwa die Umsetzung von Parteibeschlüssen, die Einhaltung von Produktionsplänen und sogar die Wartezeiten in Kaufhallen in der staatlichen Handelsorganisation (HO). Zwar verfügten die Kontrolleurinnen und Kontrolleure nur über begrenzte Sanktionsmöglichkeiten, doch im Gegensatz zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) agierten die ABI für alle Beteiligten sichtbar. Beispielsweise führte das Stadtkomitee der ABI-Leipzig im November 1983 eine groß angelegte Kontrolle der „Verkaufs- und Handelskultur“ in verschiedenen Geschäften von HO und Konsum durch. Daran waren fast 500 Personen beteiligt, die über 600 Testeinkäufe tätigten. Durch ihre öffentlich sichtbare Arbeit – auch die DDR-Medien berichteten regelmäßig über Kontrollen – erfüllte die ABI mehrere Funktionen: Auf der einen Seite zielte sie darauf ab Verbesserungen in den kontrollierten Betrieben, Ämtern und Institutionen zu erreichen. Auf der anderen Seite sollte durch die öffentlichkeitswirksamen Kontrollen das Vertrauen in die staatliche Handlungskompetenz im Bereich Handel und Versorgung (wieder-)hergestellt werden.
Während Gesetze den Konsum und die Preise in Kaufhallen und anderen Geschäften regelten, spielten staatliche Rechtsnormen bei den weitverbreiteten Praktiken des Tauschens und Kaufens in sogenannten „low-trust environments“ eine untergeordnete Rolle. Damit sind etwa der Kauf von privat hergestellten Textilien, von Kosmetika und elektronischen Geräten bei Straßenhändlern in der Leipziger Fußgängerzone oder der Erwerb eines gebrauchten Autos gemeint. Solche informellen ökonomischen Transaktionen wurden einerseits vom Staat gesetzlich nicht reguliert, und andererseits versuchten die Sicherheitsbehörden diesen unkontrollierten Handel zu unterbinden. Die Bevölkerung ging also ein gewisses Risiko ein, wenn sie Dinge außerhalb des staatlichen Handels kaufte. Durch regelmäßige Kontakte aufgebaute persönliche Beziehungen oder verwandtschaftliche Verhältnisse ersetzten in diesen risikobehafteten Konsumsituationen das staatlich geregelte Vertrauen.
Enttäuschtes Vertrauen: Konsumerfahrungen während und nach dem Systemwechsel
In den Interviews der Leipzig-Studie berichteten viele der Befragten von enttäuschenden Konsumerfahrungen während und kurz nach der unmittelbaren Umbruchszeit von 1989/90. Neben der Unkenntnis über die Bestimmungen des im Juli 1990 von der Bundesrepublik übernommenen Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften, nutzten zum Beispiel Vertreterinnen und Vertreter aus der Bauspar- und Versicherungsbranche persönliche Vertrauensverhältnisse gezielt aus, um zu Vertragsabschlüssen zu kommen. Exemplarisch für die Erfahrung vieler Ostdeutscher steht die Aussage einer Mitarbeiterin aus der Personalabteilung eines Leipziger Industriebtriebes, die 1991 von einem Verkaufsgespräch berichtete: „Weil es eben ein guter Bekannter von der Arbeit war. Na gut, da hat man gesagt gut, der kann einem nichts Schlechtes andrehen und hinterher, ne, haben wir es dann gelernt. Aber wir sind ordentlich, gut wieder rausgekommen (Lacht).“
Gleichzeitig verband die Interviewte ihre Erzählung mit einem positiven Lerneffekt, da es ihr erfolgreich gelang, von dem Vertrag zurückzutreten. Zitate wie dieses zeigen, wie sich ehemalige Kolleginnen und Kollegen vor 1989 auf der Arbeitsstelle entstandene Vertrauensverhältnisse zu Beginn der 1990er Jahre bei Haustürgeschäften zunutze machten. Ob die Befragte ihren ehemaligen Bekannten aus der DDR oder das hinter dem Verkaufsgespräch stehende, auf Provisionen basierende Verkaufsmodell für ihre Erfahrung verantwortlich machte, geht aus dem Interview nicht hervor.
Als eine andere Form der Enttäuschung schilderten einige Interviewte den Kauf von teuren Konsumgütern wie Fernsehern oder Videorekordern. Diese Schilderungen hingen meist weniger mit der Qualität als mit dem Preis der erworbenen Geräte zusammen. Ein 1991 befragter Betriebsrat ärgerte sich im Nachhinein darüber, dass er sich sofort nach der Öffnung der Grenze im November 1989 einen Fernsehapparat gekauft hatte: „Gut, einen Fernseher hab‘ ich mir auch geholt, weil der halt bei uns ... zum damaligen Preis war ein vernünftiger Farbfernseher, der lag bei 6000 Mark. [...] War über unseren Möglichkeiten, muß man wirklich so sagen ... das lag nicht drin, so, da haben wir uns sicherlich ... nach der Wende sofort einen geholt ... und wie es so war: Wir haben uns auch ... anschmieren lassen ... Wir haben viel bezahlt, ich hab‘ das gleiche Gerät für fast 300 Mark billiger jetzt gesehen, im Nachhinein, ich meine...“
Den Kauf eines teuren Produktes, das nur wenige Monate später für einen geringeren Preis angeboten wurde, empfand der Betriebsrat nicht nur als eine Enttäuschung, sondern fast als einen Betrug. Ab 1990 gesammelte Erfahrungen mit den sich dynamisch verändernden Preisen in der Marktwirtschaft veranlassten nicht nur den Betriebsrat, sondern fast alle Interviewten der Leipzig-Studie, sich Techniken des Preisvergleichens anzueignen. Auf diese Weise schufen sich die Befragten im Alltag eigene Vergleichsmaßstäbe zur Bewertung von angemessenen Preisen im Handel und stellten ihr Selbstvertrauen in die eigenen Kaufentscheidungen wieder her. Die als Enttäuschung oder Betrug geschilderten Erfahrungen können aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive als Prozesse der „Routinisierung“ mit dem Konsum in der Marktwirtschaft interpretiert werden. Dadurch motivierte Praktiken wie das Vergleichen von Preisen oder die Ablehnung von Haustürgeschäften führten letztlich zur Aneignung von – zum Teil teurer erkauftem – Alltagswissen über die neuen Regeln des Konsumierens.
Vertrauen als Geschäftsmodell: das Beispiel Stiftung Warentest
Durch die Öffnung der DDR-Wirtschaft entstand 1990 schlagartig ein neuer „Markt für Vertrauensproduktion“, den in der Bundesrepublik bereits etablierte Organisationen begannen, für sich zu erschließen. Bereits im Dezember 1989 verteilte die Stiftung Warentest auf dem Ost-Berliner Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz einen sogenannten Einkaufshelfer, der „Test-Informationen und Preisvergleiche für Verbraucher in der DDR“ zu technischen Produkten wie Bohr- und Kaffeemaschinen, aber auch Shampoos und Duschbädern enthielt. Die Informationen zu Produktnamen, Preisen und den Testergebnissen dienten dazu, „Informationsasymmetrie[n]“ zwischen den Kundinnen und Kunden und dem Handel abzubauen.
Im Laufe der Jahre 1990 und 1991 druckte und verteilte die Stiftung Warentest mit finanzieller Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums mehrere Millionen Broschüren zu Themen wie Geldanlage und Kredite, Miet- und Kaufrecht oder Gebrauchtwagen. Neben dem zu Beginn erwähnten Sonderprogramm im DDR-Fernsehen gab die Stiftung Warentest ab Oktober 1991 die Zeitschrift test&rat. Für Verbraucher in den Neuen Bundesländern heraus, die speziell an die Erfahrungen, die Bedürfnisse und den Wissenstand von Konsumentinnen und Konsumenten aus der ehemaligen DDR anknüpfte. Ziel von test&rat sei es, so das Editorial der ersten Ausgabe, eine „unabhängige und erschwingliche Lebenshilfe für die Zeit des Zusammenwachsens“ und das „Rüstzeug für einen informierten, kritischen und mündigen Verbraucher“ bereitzustellen. Gleich die erste Ausgabe enthielt einen ausführlichen Bericht zum Geschäftsmodell der Kaffeefahrten, fünf Regeln zur Überprüfung von Angeboten sowie Mustervordrucke zum Rücktritt von Käufen. Im Oktober 1994 wurde die Zeitschrift eingestellt, da die Redaktion eine Angleichung der Probleme von Verbraucherinnen und Verbrauchern in Ost- und Westdeutschland feststellte und keine Notwendigkeit mehr für ein spezifisches Format der Wissensvermittlung sah. Durch ihre Beratungsangebote und Testberichte reduzierte die Stiftung Warentest nicht nur das finanzielle Risiko bei Kaufentscheidungen, sondern sie erzog ihre Leserinnen und Lesern zu kritischen Konsumentinnen und Konsumenten. Die Vermittlung und Zirkulation von juristischem Wissen dienten dazu, erzieherisch auf die Ostdeutschen einzuwirken und ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen.
Fazit: Vertrauen ist gut, Vergleichen ist besser!
Während Gesetze über den Systemwechsel von 1989/90 hinweg eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Vertrauen beim Konsum spielten, wie etwa staatliche Garantieregelungen, nahm die Bedeutung von persönlichen und familiären Beziehungen nach dem Umbruch ab. Bereits ab dem Winter 1989/90 erschlossen kommerzielle Akteure das Vertrauens- und Wissensvakuum im Bereich des Konsums. Dabei vermittelten Organisationen wie die Stiftung Warentest nicht einfach nur neutrales Wissen, sondern ihre Angebote zielten auch darauf ab, die ostdeutsche Bevölkerung zu selbstverantwortlich und selbstbewusst handelnden Konsumentinnen und Konsumenten zu erziehen. In der Phase des Systemwechsels erlernten viele der Interviewten neue Konsumtechniken im Kapitalismus wie das Vergleichen von Preisen, um ihr Selbstvertrauen in die eigenen Kaufentscheidungen wiederherzustellen. Im Gegensatz zu den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik erfolgte die Aneignung der „Spielregeln der Marktwirtschaft“ aber nicht als allmählicher Lernprozess, sondern häufig durch Enttäuschungserfahrungen beim Konsum. In dieser Situation boten der institutionalisierte und kommerzielle Verbraucherschutz Orientierung, um die andersartige Komplexität des Konsums in der Marktwirtschaft zu bewältigen.
Gleichzeitig warnt die Historikerin Ute Frevert davor, die jüngere Vergangenheit als „besonders vertrauensabhängig und misstrauensgefährdet“ zu interpretieren. Frevert weist stattdessen auf die epochenübergreifende Relevanz von Vertrauen hin und plädiert für eine Untersuchung von Wandlungsprozessen und Kontinuitäten. In dieser Perspektive erscheint der Systemwechsel von 1989/90 mehr als ein Wandel denn als ein Bruch: Während vor 1989 etablierte Mechanismen zur Genese von Vertrauen wie Vertragssicherheit oder Garantierechte ihre Gültigkeit behielten, verschwand das personelle, durch „Reziprozitätsnormen gesteuerte Vertrauen“ aus dem alltäglichen Konsum und wurde durch das „Vertrauen in Institutionen“ ersetzt. Auf der anderen Seite internalisierten ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger, das wird aus den Interviews deutlich, eigene Praktiken und alltagspraktisches Wissen zur Produktion von Vertrauen, um selbstbewusste ökonomische Entscheidungen in der Marktwirtschaft zu treffen.
Zitierweise: Clemens Villinger, "Teuer erkauftes Alltagswissen. Ostdeutsche erleben die Marktwirtschaft zu Beginn der 1990er Jahre", in: Deutschland Archiv, 01.10.2020, Link: www.bpb.de/316508