„Die deutsche Einheit ist gelungen und gescheitert, beide Urteile koexistieren trüb, und für beide gibt es ausreichend Belege, und die Entscheidung für eins von beiden steht ohnehin […] für jeden vorher fest.“ Diesen Satz formulierte der Mediziner, Molekularbiologe und Bürgerrechtler Jens Reich 1995 in der Wochenzeitung Die Zeit. Nach wie vor lassen sich Belege für beide Urteile finden, und das wird wohl auch in Zukunft so bleiben. Interessant für die aktuellen Diskussionen und die verschiedenen Erfahrungen und Erzählungen von heute lebenden Zeitzeugen und Zeitzeuginnen ist aber die Frage, woher sie wissen, ob die eigene Meinung oder die eigene Geschichte eher die Ausnahme oder der „Normalfall“ war. Was ist also der größere Kontext der vielfach so eindrucksvoll zu hörenden individuellen Geschichten? Der Weg vom Einzelfall zur größeren Einordnung wird im Folgenden beschritten.
Als Beispiel dient das Thema Wohnen bzw. die Restitution von Wohneigentum. Dazu entwickelten sich sowohl am Zentralen Runden Tisch als auch bei den späteren Verhandlungen für den Einigungsvertrag – also während 1989/90 – zahlreiche Diskussionen. In den 1990er Jahren setzten sich dies in Streitigkeiten um die Umsetzungen des Vermögensgesetzes von 1990 fort. Während die Geschichte der gesetzlichen Regelungen und Anpassungen schon geschrieben ist, stellt sich die Frage, welche Praxis sich in Bezug auf das Wohneigentum in der DDR herausbildete und wie sich das im politischen Prozess der Wiedervereinigung ausgehandelte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ auf die Lebenswelt der Bewohner auswirkte. Für die Erklärung der Besitz- und Eigentumsverhältnisse, die zum Teil bis in den Nationalsozialismus zurückverfolgt werden müssen, wird eine lange, teilweise vergleichende Perspektive auf die Gesellschaft im Umbruch eingenommen. Das ist auch für die Eigentumstraditionen, -politiken und -praktiken wichtig, die in die Regelungen einflossen und die Begegnung zwischen Bewohnern und sogenannten Alteigentümern einerseits und die Entscheidungen im Verwaltungsapparat zur Klärung offener Vermögensfragen andererseits prägten.
Ein Einzelfall
1934 erhielt Rosa Köppner die Bewilligung ihres Bauplans für ein Haus in Kleinmachnow, südwestlich von Berlin. Nachdem die 36-Jährige bald darauf von Berlin-Schmargendorf Richtung Potsdam an den Stadtrand gezogen war, lernte sie dort Mitte der 1940er Jahre ihren künftigen Mann, den Ingenieur Friedrich Gärtner, kennen. Er war ebenfalls in den 1930er Jahren in die Gemeinde gezogen und lebte – inzwischen verwitwet – mit seinen beiden Töchtern einige Straßen entfernt. Ihr persönliches Glück stand Anfang der 1950er zunehmend vor einer Herausforderung: Der Grenzübergang zwischen Kleinmachnow und Berlin-Zehlendorf wurde immer wieder gesperrt, der Weg zu Gärtners West-Berliner Arbeitgeber somit erschwert. Im Januar 1953 entschieden sich die nun schon über 50-Jährigen deshalb, Kleinmachnow zu verlassen und in West-Berlin zu leben. Politische Gründe nannten sie nirgendwo explizit. Ihr Haus in Kleinmachnow ließen sie zurück. Dort wohnten in den 1950er Jahren verschiedene Mieter, bis sich 1961 nach dem Mauerbau die Verhältnisse stabilisierten.
Nun zog Familie Wagner ein. 1989 wohnte das Ehepaar Wagner noch mit einem Sohn in dem Haus. Rosa Gärtner war bereits verstorben, der Familienvater Peter Wagner verstarb 1991 und auch Friedrich Gärtner waren seine 90 Jahre anzumerken – deshalb nahm sein Schwiegersohn die Sache in die Hand und meldete in Gärtners Namen im Herbst 1990 vermögensrechtliche Ansprüche auf das zurückgelassene Haus an. Möglich war dies durch das im Zuge des Einigungsvertrages beschlossene sogenannte Vermögensgesetz geworden. Demnach galt der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“. Das heißt: Eigentum sollte – wo immer möglich – an die alten Eigentümer zurückgegeben werden. Der Fall Gärtner war einfach: Da das Haus in der DDR nicht enteignet, sondern mit dem Wegzug der Gärtners staatlich verwaltet worden war, wurde diese per Gesetz Ende 1992 aufgehoben, das Eigentum und die Verwaltung also wieder in die Hände der Gärtners übergeben. Die Mieter blieben wohnen. Wagners hatten sich in der DDR gut um das Haus gekümmert, es war ihnen ans Herz gewachsen, sie hatten sich sonst aber wie Mieter verhalten, das bedeutet, dass sie nichts um- oder angebaut hatten und keinen Eigentumserwerb anstrebten beziehungsweise anstreben konnten.
Zwischen Mietern und Eigentümern bestand in den 1990er Jahren ein freundlich-sachliches Verhältnis. Der Eigentümer Gärtner sowie nach dessen Tod 1996 seine Tochter und der Schwiegersohn nahmen notwendige Renovierungen vor. Trotzdem war das Haus eher einfach ausgestattet, und die Miete entsprach dem unteren Wert des Mietspiegels. Unangenehm empfanden die Mieter die stetig erneuerte Aussage, dass es zu einer Eigenbedarfskündigung kommen könne – das schuf Unsicherheit. Und tatsächlich kam diese Kündigung, allerdings erst im Jahr 2010. Mittlerweile wohnte Martin Wagner nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1997 mit der eigenen vierköpfigen Familie in dem Haus. Innerhalb der einjährigen Kündigungsfrist kaufte die Familie ein Reihenhaus in Kleinmachnow. 2013 zog der Enkel von Gärtner mit seiner Familie in das 1934 gebaute Haus ein – quasi der Erbe der Erben. Eine eher unspektakuläre Geschichte. Ist sie typisch für Kleinmachnow? Für Ostdeutschland?
Eine typische Geschichte?
Präsentiert man diesen Einzelfall einem Kleinmachnower Publikum zum Beispiel im Rahmen einer Veranstaltung, so wird sofort entgegengehalten, dass dieser Fall völlig untypisch sei. Und tatsächlich zeigte sich in dieser Gemeinde das häufig harsche Aufeinandertreffen von West- und Ostdeutschen, worüber in regionalen, überregionalen und ausländischen Medien unter anderem als unerfreuliche Geschichte der Verdrängung von Ost- durch Westdeutsche berichtet wurde. Es ist auch die Gemeinde, in der besonders stark und – wie in Gesetzesanpassungen erkennbar – erfolgreich gegen das Vermögenssetz protestiert wurde.
Zugleich wird einem aber zum Beispiel aus der Perspektive einer Leipziger Bürgerrechtlerin entgegengehalten, dass das Wohnen in einem Einfamilienhaus zu DDR-Zeiten ein Privileg gewesen und es deshalb nicht verwunderlich sei, dass gerade in Kleinmachnow in den 1990er Jahren so viel Protest geäußert wurde. Und aus der Sicht einer Dorfbewohnerin im ländlichen Brandenburg wird betont, dass man auf dem Dorf noch einmal andere Erfahrungen machte, die nicht vernachlässigt werden dürfen, immerhin lebte in Ostdeutschland 1989 noch fast ein Viertel der Bevölkerung auf dem Land. Angesichts einer Vielzahl von Einzelgeschichten, -erfahrungen und -perspektiven stellt sich die Frage, wie sich diese in größere Kontexte einordnen lassen.
Auf der Basis von verschiedenen untersuchten Räumen – urban, suburban und ländlich – ergibt sich folgendes Bild: Bleibt man zunächst bei Kleinmachnow an der Berliner Stadtgrenze, so ist der Zuzug in Einfamilienhäuser in den 1930er Jahren ebenso typisch wie der Wegzug zwischen 1953 und 1961 aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen und das Ansiedeln von neuen Bewohnern und Bewohnerinnen in dieser Zeit.
Charakteristisch für die Gemeinde ist das direkte Aufeinandertreffen von West- und Ostdeutschen und die Unsicherheit über die Eigentums- und Wohnverhältnisse in den 1990er-Jahren, wobei es häufig komplizierte Eigentumsverhältnisse gab, die – zum Teil begleitet von nervenaufreibendem Streit – erst nach mehreren Jahren endgültig entschieden wurden. Typisch ist auch, dass wir nicht so genau wissen, wie die ostdeutschen Bewohner und Bewohnerinnen zum DDR- und die Alteigentümer und -tümerinnen zum NS-Regime gestanden hatten. Hier erhält der Historiker oder die Historikerin erst nach detaillierten Recherchen und Gesprächen mit Zeitzeugen und -zeuginnen mehr Aufschluss. Die politische Einstellung spielte für das Vermögensgesetz von 1990 nur eine geringe Bedeutung, wichtiger war dagegen der Eigentumsstatus des Hauses. Zwar wurde der sogenannte „Erwerb aufgrund unlauterer Machenschaften“ in der Rechtspraxis berücksichtigt, aber in den hier Haus für Haus untersuchten Beispielstraßen trafen nach 1990 eher diejenigen aufeinander, zu deren Lebensziel der Erwerb eines Hauses gehörte und die sich selbst – auch in Abgrenzung zu anderen Gesellschaftsgruppen – als „Ottonormalverbraucher“ und „anständige Bürger“ bezeichnen.
Im Jahr 2000 brachten es die befragten Experten und Expertinnen in einer Fokusrunde für ein stadtsoziologisches Projekt auf den Punkt: „Zu DDR-Zeiten haben also eher die ‚Spießer‘ Häuser gekauft; nicht unbedingt die hohen Funktionäre.“ Das war allerdings vereinfacht dargestellt, denn überzeugte Anhänger des DDR-Regimes gab es in den Kleinmachnower Häusern durchaus; die Nähe zu West-Berlin erforderte Grenztruppen am Ort, die in Kleinmachnow gelegene Parteihochschule, die später als Gästehaus der SED benutzt wurde und prominente Gäste beherbergte, musste bewirtschaftet werden.
Zugleich verstand sich Kleinmachnow als Künstler- und Wissenschaftlergemeinde. Kleinmachnow war also besonders. In den anderen beiden Untersuchungsorten, einem Dorf in Brandenburg an der Grenze zum heutigen Sachsen-Anhalt und der Stadt Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern, ist diese Spezifik nicht anzutreffen. Aber auch hier zogen Bewohnerinnen und Bewohner vor allem bis 1961 weg – auf dem Dorf bedingt durch die Bodenreform zur Zeit der Sowjetischen Besatzungszone und später durch die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR – und auch hier zogen neue Bewohner und Bewohnerinnen nach. In der Stadt waren es eher adelige Familien und das gehobene Bürgertum, die aus den untersuchten Straßen verschwanden. Kennzeichnend war hier anders als in Kleinmachnow und im Beispieldorf, wo die Bewohnerinnen und Bewohner die Instandhaltung der Häuser in Eigenarbeit übernahmen, der zunehmende Verfall der Altstadt.
Wichtig ist bei diesem kurzen, unvollständigen Überblick, dass die Geschichte der Häuser, des Immobilieneigentums und der Bewohner vor 1989 unmittelbar für die Konflikte nach 1990 relevant wurde. Dabei kamen auch Themen auf die Tagesordnung, die in der DDR verschwiegen wurden. Besonders deutlich zeigt sich das in Kleinmachnow an der sogenannten Sommerfeld-Siedlung; denn eigentlich befand sich das Bauland für die Bürgerhaussiedlung im Eigentum des jüdischen Architekten Adolf Sommerfeld. Der Architekt und Chef eines großen deutschen Baukonzerns der Weimarer Zeit wurde als Jude bereits im April 1933 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Die Nationalsozialisten entschieden sich, sein Grundkonzept für die Bürgerhaussiedlung, in der der ‚einfache Mann’ neben dem Ministerialrat wohnen sollte, beizubehalten. Nach 1990 wurde die Frage erörtert, ob diejenigen, die nach 1933 dort Häuser erworben hatten, überhaupt wussten, dass es sich um sogenanntes „arisiertes“ Eigentum handelte.
Sollten die Häuser in den 1990er Jahren nun an die Eigentümer der 1930er Jahre rückübertragen werden? Oder gehörten sie den Sommerfeld-Erben beziehungsweise der Jewish Claims Conference, die auch ihre Ansprüche anmeldete? Eine gravierende Folge dieser doppelten Ansprüche war, dass die Entscheidungen extrem lange dauerten. Erst im März 2016 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Grundstücke nicht an die Sommerfeld-Erben zurückgegeben werden mussten. Das sind Extreme. Aber lange Entscheidungszeiten waren typisch für Kleinmachnow. Dagegen zeichneten sich die untersuchten Häuser in den Schweriner Straßen dadurch aus, dass die meisten Anträge schon 1990, häufig über Anwaltskanzleien gestellt, innerhalb von zwei bis drei Jahren entschieden wurden. Das gemeinsame Ziel war die schnelle Erneuerung der verfallenden Altstadt. Zu einem direkten Zusammentreffen von Alteigentümern und Bewohnern kam es hier – im Gegensatz zu Kleinmachnow – selten.
In den 1970er und 1980er Jahren verliefen eine Stabilisierung der Besitzverhältnisse, die auch mit dem Verkauf von Eigenheimen an DDR-Bewohner einherging, und ein Verfall der Altbausubstanz parallel zueinander. Die lange Geschichte von 1989 im Bereich des Wohneigentums erst in den 1970ern und 1980ern beginnen zu lassen, wie es für andere Themen einer langen Geschichte der „Wende“ sinnvoll ist, wäre zu kurzsichtig. Denn die Reaktionen auf offizielle DDR-Eigentumspolitiken und -praktiken müssen mit den langlebigen Eigentumsideen der Bewohner und Bewohnerinnen – und den Mentalitäten , wie M. Rainer Lepsius sie nannte – zusammen betrachtet werden; deren ideen- und mentalitätsgeschichtliche sowie verwaltungspraktische Ursprünge lassen sich mindestens ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.
Langlebige Ideen, alltägliche Praktiken und staatssozialistische Strategien
Die Idee des privaten Wohneigentums stellte sich als resilient heraus, das heißt sie bestand unter den Bewohnern und Bewohnerinnen unabhängig vom politischen System und der offiziellen Eigentumspolitik – das ist ein zentraler Befund in allen untersuchten Räumen. Dafür sprechen erstens die Praktiken , also die Art und Weise, wie sich DDR-Bewohnerinnen und -Bewohner um Häuser und Wohnungen kümmerten; sie pflegten den Wohnraum und – falls vorhanden – auch den Garten häufig so, als seien sie Eigentümer. Zweitens ist die hohe Wertschätzung des Grundbuchs dafür ein Anzeichen.
Die Konflikte nach 1990 entstanden unter ehemaligen DDR-Bewohnern und -Bewohnerinnen sowie Alteigentümern und -eigentümerinnen nicht aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der Verbindlichkeit des Grundbuchs, das zur maßgeblichen Entscheidungsinstanz in den Verwaltungsverfahren der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen wurde. Vielmehr entstanden sie durch die unterschiedliche DDR-Eigentumspolitik und -praxis, die mal zum Eintrag ins Grundbuch geführt hatte, in vergleichbaren Fällen mal aber auch nicht.
Was als willkürliche Praxis des DDR-Regimes erschien, ordnete sich in die Strategien anderer staatssozialistischer Regime ein: Besitz und Eigentum wurden großzügig verteilt, ohne die dazugehörige Rechtssicherheit zu gewähren. So konnte der Staat auf seine Bürgerinnen und Bürger zugreifen und in ihren Wohnraum und damit ihre Lebensmöglichkeiten eingreifen (etwa wegen beantragter Ausreise, Strafverfahren, Mauerbau, sog. Baulandgewinnung und ähnlichem). Zu dieser Strategie gehörte auch, dass in der DDR von offizieller Seite versucht wurde, die Bedeutung des Grundbuchs zu minimieren.
DDR-Bewohner und Käufer von Eigentum strebten durchaus den Eintrag ins Grundbuch an, um Rechtssicherheit herzustellen. Die Bedeutung des Grundbuchs wurde abseits der offiziellen Ideologie also nicht merklich angezweifelt. Wichtig ist an dieser Stelle, dass sich die Situation im Verlauf der DDR-Geschichte auch wegen der Bausubstanz veränderte. Beim Wohneigentum zeigte sich seit den 1970ern unter dem Mantel scheinbar stabiler Verhältnisse angesichts des Verfalls der Altbausubstanz ein steigender Handlungsbedarf. Damit einher ging ein staatliches Neubauprogramm, die Aufweichung von Eigentumstiteln durch politische Privilegien und die Fixierung informeller Besitzarrangements.
Privates Eigentum wurde in der bereits erwähnten Kleinmachnower Fokusrunde im Jahr 2000 als „Mutter aller freiheitlichen Grundrechte“ bezeichnet und dadurch mit einer alten Idee, die durch die Französische Revolution neue Präsenz erhielt, verknüpft. Das Eigentum hat sicherlich eine noch viel längere Geschichte, aber das 19. Jahrhundert bietet durch die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches und damit einhergehend des Grundbuchs quasi ein Scharnier zwischen den früheren Aufschreibsystemen von Eigentum und der Form des Grundbuchs, die bis heute noch gilt. Wer im Grundbuch steht, ist Eigentümer. Mit diesem Grundsatz wurde es auch für die Neuordnung des Eigentums nach 1990 zur zentralen Wissensressource.
Dagegen bildete die DDR mentalitätsgeschichtlich nur eine relativ kurze Zeitspanne, die dennoch für massive Brüche in den Eigentumspraktiken und -notationen sorgte. Und nicht nur das, denn auch die in der DDR nicht aufgearbeiteten Enteignungen des Nationalsozialismus wurden, wie bereits erwähnt, nach 1990 wieder relevant. Die 1990er Jahre stellten also eine wichtige Zeit für eine Neuordnung des Eigentums dar, die durchaus für Ärger sorgte. Zugleich lässt sich aber durchweg beobachten, dass die zugrundeliegenden Ideen und Konzepte von Wohneigentum bei den Akteuren weitgehend unverändert blieben. Diese Mentalitäten waren durch eine Langlebigkeit gekennzeichnet, deren Wurzeln mindestens ins 19. Jahrhundert zurückgehen.
Die mit dem Eigentum verbundenen Ideen sorgten noch auf einer anderen Ebene für Konflikte: Das Wohneigentum versprach Sicherheit im Kleinen und einen Rückzugsort abseits der politischen Systeme. Nach 1990 wurde aber mit dem Grundbuch als wichtigster Referenz für die Entscheidungen der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen das rechtliche Eigentum höher bewertet als eine jahre- oder auch jahrzehntelange Pflege des Wohnraums und gegebenenfalls des Grundstücks. Das sorgte für so großen Unmut und Protest, dass diese Pflege des Eigentums neben anderen in die Rechtsprechung aufgenommen wurde. Dieser Entschluss wiederum führte zu längeren Entscheidungszeiten, denn Widersprüche und Klageverfahren samt gerichtlichen Urteilen der nächst höheren Instanz sind üblich im funktionierenden Rechtsstaat, dauern aber ihre Zeit. An dieser Stelle mag eingewandt werden, dass für Menschen, die in Wohnungen zum Beispiel in der Stadt lebten, das Grundbuch keine Rolle spielte.
Trotzdem hingen auch hier grundlegende Sanierungen der Mietshäuser von der Klärung der Eigentumsfrage ab. Die Renovierung des eigenen Wohnraums lässt häufig ähnliche Praktiken wie bei Einfamilienhäusern erkennen: So pflegten auch Mieterinnen und Mieter in der Stadt und auf dem Land ihren Wohnraum. Eine Bewohnerin aus dem brandenburgischen Dorf erinnert sich zum Beispiel an die DDR-Zeit: „Einem Eigentümer ähnlich fühlte man sich für die LPG-Wohnungen verantwortlich. Man zahlte niedrige Mieten, Renovierungsmaterial stellte die LPG, und die Mieter führten die Arbeiten durch. Wenn beim Nachbarn renoviert werden sollte, der schlecht an Baumaterial kam, wurde auf der LPG auch schon mal Material ,vergesellschaftet‘ gemäß dem DDR-Slogan: ,Aus den Betrieben ist noch viel mehr herauszuholen.‘“ Hier ist also einerseits die Anpassung an die spezifische Situation in der DDR zu erkennen. Andererseits zeigen andere Quellen, dass auch auf dem Dorf an bis ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreichende Traditionen und soziale Hierarchien angeknüpft wurde. Sie waren geprägt durch Machtfragen, die sich nicht zuletzt über die Größe des Hofes und die Fläche des (zwangs-)kollektivierten oder nach 1990 verpachteten Landes bestimmten.
Erinnerungen: Bewertung durch die betroffenen DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen im Rückblick
Eine elementare Beobachtung in allen Projekten zur langen Geschichte der „Wende“ ist das Auseinanderfallen von den vor und während 1989/90 gehegten Erwartungen an das bundesdeutsche System einerseits und den Erfahrungen mit diesem System in den 1990er Jahren andererseits. Dass Erwartungen und Erfahrungen vielfach nicht zusammenpassten, hat wiederum Auswirkungen darauf, wie in heutigen Gesprächen mit Ostdeutschen die Vergangenheit und der Systemwechsel erinnert werden.
Ein Beispiel: Die Zweitanalyse von Interviews, die Stadtsoziologen in Kleinmachnow um 2000 durchgeführt haben, zeigt, dass das Recht in den 1990er Jahren als flexibel wahrgenommen wurde. Das war eine zentrale Erfahrung der Betroffenen mit Blick auf die Umsetzung des Vermögensgesetzes, die Irritation verursachte, weil sie nicht der Erwartung an den bundesdeutschen Rechtsstaat entsprach. Rechtsflexibilität ähnelte eher der DDR-Erfahrung, wie sie ja auch in den verschieden geführten Grundbüchern erkenn- und erfahrbar gewesen war. Die Novellierungen und Änderungen des Vermögensgesetzes sorgten für eine lange Zeit der Unsicherheit – in Kleinmachnow nicht selten für sechs und mehr Jahre. Die Gesetzesänderungen führten zur Berücksichtigung der ostdeutschen Praxis, die bei der unter großem Zeitdruck getroffenen Vorbereitung des Gesetzes 1990 noch nicht absehbar gewesen war. Im Prinzip könnte das als Erfolg für die ostdeutschen Bewohner eingestuft werden. Dem stand aber die Unsicherheit entgegen, die vielfach in der persönlichen Bewertung als gravierender eingestuft wurde. Hier ein Beispiel:
„Wie gesagt, deswegen habe ich Zweifel an unserer Demokratie, das kann doch nicht sein, daß man nicht ins Recht gesetzt wird, das hat doch nichts mit Demokratie zu tun, daß Gesetze immer wieder anzweifelbar sind, obwohl doch klare Fakten bestehen. Das kann man nicht akzeptieren, da ist so viel Undurchsichtigkeit und Willkür. Es gibt keine Begrenzung, es kann nochmal 10 Jahre dauern, länger, als ich vielleicht noch lebe, da steckt die Politik dahinter, die westliche Seite schneidet besser ab, sie hat die bessere Lobby. Ich kann nicht ins Haus investieren.”
Auch wenn es große Unterschiede bei der Bewertung des eigenen Falles gab, war doch die allgemeine Bewertung der Restitution in Kleinmachnow als „ein Sinnbild für die Enteignung der Ostdeutschen, für einen dezidierten Ost-West-Konflikt“ – wie es die Stadtsoziologen als Ergebnis im Jahr 2001 formulierten – signifikant. Es war aber nicht allgemeingültig, das ist schon an den erwähnten viel kürzeren Entscheidungszeiten in Schwerin zu erkennen. Ebenso führten variierende Einstellungen und Handlungen von DDR-Bewohnerinnen und -Bewohnern, z. B. als Mieter in der Stadt oder als Selbstnutzer im Einfamilienhaus, zu unterschiedlicher Betroffenheit und Bewertung der Neuordnung von Eigentum. Immer wieder zeigt sich in den Oral-History-Gesprächen von heute und den Zweitauswertungen der qualitativ-narrativen Interviews, die 1999/2000 geführt wurden, dass sich das Sprechen im öffentlichen Raum vom Sprechen im eher als privat eingeschätzten Interview unterscheidet. Während bei öffentlichen Veranstaltungen die etablierten Erzählungen der gesamten Gemeinde oder Stadt erzählt werden, hört man im qualitativen Interview viele Nuancen und auch Widersprüche zur quasi offiziellen Erzählung.
Das führt zurück zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis des eigenen Falles zu anderen. Warum ist die Frage nach dem, was typisch ist, überhaupt wichtig? Mit Blick auf das vereinigte Deutschland lassen sich im Moment viele negative Geschichten einer „Übernahme“ Ostdeutschlands durch die alte Bundesrepublik hören. Häufig wird in den Erzählungen mit Mengenangaben operiert („die meisten“, „die Mehrzahl“ u.a.), offizielle Statistiken gibt es viel seltener. Aber selbst wenn es sie gibt, wiegt die eigene Erfahrung bei der Erinnerung und Bewertung der Geschichte am stärksten. Die systematische empirische Untersuchung von Alltagsthemen der langen Geschichte der „Wende“ hat dagegen eine Vielfalt von Geschichten ans Licht gebracht, die am Rande der öffentlichen Erzählungen stehen. So ist der Fall Wagner für Kleinmachnow tatsächlich ein untypischer Fall, blickt man auf das gesamte Ostdeutschland verhält es sich anders. Übereinstimmend lässt sich mit Blick auf die Eigentumstraditionen, -politiken und -praktiken festhalten, dass in allen Untersuchungsgebieten – wie oben beschrieben – langlebige Ideen, alltägliche Praktiken und staatssozialistische Strategien den Umgang mit Wohnraum und Wohneigentum prägten. Das im Kopf zu behalten und zugleich die leisen neben die lauten Stimmen zu stellen, um ein ausbalanciertes und empirisch fundiertes Bild der Transformationsgeschichte zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe der Geschichtsschreibung der langen Geschichte der „Wende“ und zugleich eine Überleitung zu den Ergebnissen der gesamten Forschungsgruppe.
Zu Idee und Anlage der Forschungsgruppe und zu Gesamtergebnissen können Interner Link: Sie hier mehr lesen.
Zitierweise: Kerstin Brückweh, "Unter ostdeutschen Dächern: Eine lange Eigentumsgeschichte der „Wende“", in: Deutschland Archiv, 08.09.2020, Link: www.bpb.de/315013