Auch 30 Jahre nach der deutschen Einheit denken wir noch stark in Kategorien von West- und Ostdeutschland. Diese Einteilung findet sich nicht nur bei struktur- und wirtschaftspolitischen Fragen, sondern häufig auch mit Blick auf die Menschen und deren unterschiedliche Prägungen: Ost- und Westdeutsche werden jüngst wieder verstärkt als zwei Wesen begriffen, die zwar miteinander verwandt, aber doch recht unterschiedlich sind. Für die Ostdeutschen mehr als für die Westdeutschen geht damit die Frage einher, worin sie sich eigentlich von ihren Landsleuten unterscheiden und was das spezifisch Ostdeutsche an ihnen ist. Wolfgang Engler und Jana Hensel sind in dem Gesprächsband „Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ dieser Frage nachgegangen, und das Buch wurde ein Bestseller.
Die Erfindung des Ostdeutschen
Es besteht weitgehende Einigkeit darin, dass es eine ostdeutsche Identität vor 1989/90 nicht gab, sondern sich erst im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses herausgebildet hat. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, stellte im September letzten Jahres in der Berliner Zeitung fest:
„Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR. Die gemeinsamen Erlebnisse von Benachteiligung und fehlender Wertschätzung haben sie geschaffen. Nicht bei allen – aber wenn 80 Prozent der Berufsaktiven ihren Job verlieren, wenn sie wieder auf die Schulbank müssen, weil ihre Berufe nicht mehr anerkannt werden, hat das Folgen für jede Gesellschaft. Das Ende der Diktatur, die neuen Freiheiten, wurden bei manchen durch diese Erfahrungen überwogen.“
Auch für Jana Hensel speist sich die ostdeutsche Identität aus den negativen Transformationserfahrungen der 1990er Jahre:
„Die ostdeutsche [Identitätserzählung] bleibt die defizitäre, die nachrangige, die marginalisierte und oft auch einfach jene, die schlicht übersehen wird. Auf jeden Fall eine, die weit davon entfernt ist, in eine gesamtdeutsche Identitätserzählung aufgenommen zu werden. Eher bildet sie eine Art Gegenerzählung, von der man sich, je nach Bedarf und Thema, abzugrenzen versucht.“
„Die Fremd- und die Selbstwahrnehmung als Ostdeutsche hat sich erst nach 1990 herausgebildet. Als klar wurde, dass die Wiedervereinigung schwieriger werden würde als gedacht. Als Menschen aus Ostdeutschland massenhaft ihre Arbeit verloren haben oder ihnen westdeutsche Chefs vorgesetzt wurden, als sie in Medien als faul und vormodern beschrieben wurden. Identitäten formieren sich immer dann besonders intensiv und werden wirkmächtig, wenn sie bedroht erscheinen und soziale Desintegration herrscht.“
Weniger Einigkeit besteht allerdings darin, ob es DIE ostdeutsche Identität überhaupt gibt. Der Historiker Patrice Poutrus, der als Sohn einer deutschen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Ost-Berlin aufgewachsen ist, fühlt sich darin nicht aufgehoben:
„Dass immer wieder behauptet wird, es gebe eine einheitlich ostdeutsche Identität, zeigt, wie ambivalent Identitätsfragen sind. Dabei handelt es sich um eine zutiefst persönliche Angelegenheit. Wer ich bin, was mich ausmacht, wem ich mich zugehörig fühle und ob das anerkannt wird, das hängt von vielen und sich ständig wandelnden Faktoren meines Lebens ab.“
Ein Identitätsgefühl entsteht, folgt man Patrice Poutrus, nicht nur über die individuelle Einschreibung in eine Gemeinschaft, sondern auch in der Anerkennung der Zugehörigkeit des Einzelnen durch die Gemeinschaft. Im Gegensatz dazu wirft Jana Hensel denjenigen Ostdeutschen vor, die sich nicht als solche bezeichnen wollen, ihre eigene Identität zu verleugnen.
Das Konzept der Kollektiven Identität
Identität ist eine Vorstellung des Menschen von sich selbst. Kollektive haben kein Selbst, sondern bestehen aus unterschiedlichen Individuen. Es kann also im engeren Sinne keine kollektiven Identitäten geben. Vielmehr sind kollektive Identitäten Konstrukte, welche die Homogenität einer Gemeinschaft suggerieren, die es gar nicht geben kann. Die Konstruktion von kollektiven Identitäten ist wiederum ein sozialer Prozess, der durch Kommunikation erfolgt und durch Identitätspolitik gefördert werden kann.
Ostdeutsche Identitäten und Transformationserfahrungen
Zieht man sozialwissenschaftliche Befragungen der Ostdeutschen heran, dann ist die ostdeutsche Identität nur eine unter vielen. Der Thüringen-Monitor zeigt etwa, dass sich in den vergangenen 18 Jahre eine Mehrheit der Befragten in erster Linie stets als Thüringer*innen sahen (im Schnitt 43 Prozent), gefolgt von einer Selbstidentifikation als Deutsche (im Schnitt 27 Prozent), erst dann als Ostdeutsche (im Schnitt 14 Prozent) und schließlich als Europäer*innen (8 Prozent).
Gleichzeitig stellt der Thüringen-Monitor eine signifikante Ost-Deprivation fest. Viele haben den Eindruck, dass sie als Ostdeutsche im Vergleich mit anderen weniger als den gerechten Anteil erhalten und zugleich von Westdeutschen als „Menschen zweiter Klasse“ behandelt werden.
Die Konstruktion „des Ostdeutschen“ findet somit im Modus einer kollektiven Unterprivilegierung statt. Folgt man der allgemeinen Einschätzung, dass die Konstruktion einer ostdeutschen Identität erst nach 1989 erfolgte, dann steht die Ausbildung dieser Identität offenbar in einem engen Zusammenhang mit den Transformationserfahrungen. Es ist eine Abgrenzungsidentität, die man als einen Akt der Selbstbehauptung gegenüber dem Westen interpretieren kann.
Ostdeutsche Identität und DDR-Erfahrung
Die Konstruktion einer Identität vollzieht sich allerdings nicht nur durch die Abgrenzung von gegenwärtigen Alteritäten, sondern auch in der Reflexion auf die Vergangenheit und in Auseinandersetzung mit einem anderen, früheren „Wir“.
Westdeutsche Identität als Selbstvergewisserung
In den alten Bundesländern ist das Selbstverständnis als „Westdeutscher“ nur schwach ausgeprägt, hier dominieren regionale Identitäten. „Ostdeutschland“ wird in zweifacher Hinsicht als eine Alterität zu „Westdeutschland“ gesehen. Zum einen ist hier noch immer die Identitätspolitik aus der Zeit der deutschen Teilung wirksam. Auf politischer Ebene definierten sich beide deutsche Staaten als das jeweils „andere“ Deutschland: Die DDR verstand sich als antifaschistische Fortschrittsalternative zur restaurativen Bundesrepublik, die Bundesrepublik sah sich als freiheitlich demokratischer und wirtschaftlich erfolgreicher Gegenentwurf zum maroden Unterdrückungsregime der SED. Gleichzeitig hielt man in der Bundesrepublik an der Vorstellung einer deutschen Nation, die beiderseits der Mauer lebte, fest. Nach der Maueröffnung machten Westdeutsche naturgemäß Alteritätserfahrungen mit der DDR und ihren Bürger*innen. Politisch galt diese Alterität jedoch als etwas, das es zu überwinden gelte. Die viel diskutierte Erwartung, nach der staatlichen Vereinigung müsse auch eine „innere Einheit“ hergestellt werden, entsprang einer gesellschaftlichen Homogenisierungsvorstellung.
Schlussfolgerungen
Es ist für die deutsche Vereinigungsgesellschaft wichtig, über die Ursprünge von ost- bzw. westdeutschen Identitäten nachzudenken. Das heißt aber nicht, dass die Existenz von ostdeutschen Identitäten ein Problem ist, das es zu überwinden gelte. Im Gegenteil: Unterschiedliche regionale Identitäten sind Kennzeichen für die regionale Vielfalt, die Deutschland ausmacht. Zu diesen regionalen Identitäten wird noch lange Zeit eine ostdeutsche Variante gehören, denn vierzig Jahre DDR und die tiefgreifenden Transformationserfahrungen haben tiefe Spuren hinterlassen, die es in den alten Bundesländern nicht gibt. Es gibt nicht DIE Ostdeutschen, aber es gibt eine ostdeutsche Gesellschaft, die anders ausdifferenziert ist als die westdeutsche, die andere kulturelle Codes hat und durch andere biographische Erfahrungen geprägt ist.
Zitierweise: Jörg Ganzenmüller, "Ostdeutsche Identitäten: Selbst- und Fremdbilder zwischen Transformationserfahrung und DDR-Vergangenheit", in: Deutschland Archiv, 24.4.2020, Link: www.bpb.de/308016