30 Jahre nach der Wiedervereinigung wird in Politik und Öffentlichkeit darüber debattiert, inwiefern die im Grundgesetz verankerte Verpflichtung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen auch in Ostdeutschland erreicht wurde. Diese Frage hat eine materielle und eine wertbezogene Dimension. In der materiellen Dimension geht es um wirtschaftliche Fragen wie um das Ausmaß von Beschäftigung und Produktivität, um Löhne und Renten, aber auch um Straßenbau, Gesundheitsversorgung, Bildungsmöglichkeiten und Freizeitgestaltung. Vergleiche ergeben, dass sich das Niveau des Lebensstandards in den ostdeutschen Bundesländern dem der westdeutschen Länder annähert, aber in vielerlei Hinsicht immer noch geringer ist.
In der wertbezogenen Dimension geht es gegenwärtig um das Empfinden vieler Ostdeutscher, nicht als Bürger mit gleichen Rechten voll anerkannt und damit in der Gesamtgesellschaft nicht angekommen zu sein. Neuere Publikationen aus der Sozialwissenschaft, aber auch aus der Politik deuten darauf hin, dass die Wahrnehmung fehlender Anerkennung der spezifischen Lebensleistung eine Protesthaltung befördert, die sich in einem höheren Anteil von Stimmen für die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) niederschlagen könnte. Beides, materielle Ungleichheiten und das Gefühl der fehlenden Anerkennung, könnten dazu führen, dass Menschen in Ostdeutschland zunehmend die Wahrnehmung entwickeln, dauerhaft eine eigene Bevölkerungsgruppe innerhalb des Landes zu bilden. Deren Interessen seien dann gegen die von Westdeutschen durchzusetzen. Zuletzt hat der Berliner Soziologe Steffen Mau von Ostdeutschland als einer „frakturierten“ Gesellschaft gesprochen und ein Bild aus der Medizin bemüht: Ostdeutschland durchziehen zahlreiche Brüche, die seit der Wende entstanden seien und die schlecht verheilten. Seine Diagnose: „Eine frakturierte Gesellschaft ist anfälliger für Stimmungen, die aus dem Gefühl des Zu-kurz-Kommens entspringen, aus der Entwertung des eigenen Lebensmodells, aus kulturellen Irritationen, ökonomischer Prekarisierung und den Zumutungen zunehmender Flexibilisierung“. Und er schlussfolgert, dass Ostdeutschland für lange Zeit eine Teilgesellschaft mit eigener, auf kollektiven Verletzungen beruhender Identität bleiben werde.
Zwar gibt es keine eindeutigen Belege der empirischen Forschung für diesen Umstand. Dass dies jedoch passieren könnte, darauf deutet eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2019 hin. Ihr zufolge sehen sich 47 Prozent der Bürger in Ostdeutschland ausschließlich als Ostdeutsche, während sich nur 44 Prozent als Angehörige der gesamten Nation fühlen. Unter Westdeutschen dominiert dagegen die gesamtdeutsche Identität. Vor allem ostdeutsche AfD-Anhänger seien in hohem Maße vom ostdeutschen Identitätsgefühl geprägt. In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit der Frage, wie groß der Anteil der Ostdeutschen an Machtpositionen innerhalb des Territoriums der ostdeutschen Bundesländer (ohne Berlin) ist und welche Gründe ein möglicherweise ungleicher Zugang zur Macht haben kann. Teilhabe an Macht ist eine zentrale Dimension der materiellen Lebenschancen. Wer Entscheidungen über andere treffen kann, hat in der Regel ein höheres gesellschaftliches Ansehen und ist zufriedener mit seinem Leben, und er identifiziert sich stärker mit dem sozialen Raum, über dessen Ausgestaltung er mitentscheidet. Zugleich schafft Repräsentation die Möglichkeit der positiven Identifikation mit dem Gemeinwesen. Ostdeutsche, die Führungspositionen innehaben, sind zugleich Vorbilder für Angehörige jener, die sich als Ostdeutsche fühlen. Sie signalisieren, dass die Gesellschaft offen ist und es jede/r bis ganz nach oben schaffen kann. Fehlt diese Repräsentation, so kann es zu den gesellschaftlichen Frakturen und sozialen Verletzungen kommen, die Steffen Mau beschrieben hat. Die Frage ist daher: Nehmen Ostdeutsche 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in gleichem Anteil Top-Führungspositionen in Politik, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens in den fünf ostdeutschen Bundesländern ein, so wie es ihrer Bevölkerungszahl entspricht? Und wenn dies nicht so ist: Worin liegen die Ursachen der Unterrepräsentanz? Hier unterscheide ich zwei Ursachenbündel, Diskriminierung einerseits und sozialstrukturelle Effekte anderseits. Ich beschränke mich bewusst auf das Territorium der ostdeutschen Bundesländer, frage also in der Regel nicht nach der Repräsentanz von Ostdeutschen auf Spitzenpositionen in Gesamt- oder Westdeutschland.
Das Ausmaß der Repräsentanz von Ostdeutschen in Spitzenpositionen
Wie groß das Ausmaß der Repräsentanz von Ostdeutschen auf Führungspositionen ist, wissen wir nicht genau. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen sind einschlägige empirische Studien rar, insbesondere aus jüngerer Zeit. Dies mag daran liegen, dass sich die Sozialwissenschaften seit den 2000er Jahren von der sogenannten Transformationsforschung abgewandt haben, also der Analyse der Anpassung eines neuen Institutionensystems auf dem Territorium der früheren DDR. Es liegen daher wenige Studien aus den 1990er Jahren und dann erst wieder für Mitte der 2000er Jahre vor.
Der andere Grund ist, dass die Ergebnisse zwischen den Studien variieren, je nachdem, wie man genau Führungsposition definiert und welche gesellschaftlichen Bereiche man untersucht. Schließlich variiert auch die Definition des Kriteriums der Zugehörigkeit, also die Art, wer als ostdeutsch gilt. Werden dazu nur Menschen gezählt, die in der DDR geboren wurden und ihre Jugend dort verbracht haben, gehören dazu auch Personen, die nach 1990 in den neuen Bundesländern geboren wurden, deren Eltern aber DDR-Bürger waren, oder sogar Personen, die in der DDR geboren wurden, aber einen Teil ihrer Lebenszeit in Westdeutschland verbracht haben und später nach Ostdeutschland zurückgekehrt sind? Weil von dieser Definition abhängt, wie groß der Anteil der Personen ist, der in den Studien als Ostdeutsche identifiziert wird, variiert damit auch ihr Größenanteil.
Die älteste, aber umfassendste Studie ist die „Potsdamer Elitestudie“ aus dem Jahr 1995. Darin wurde eine Gesamterhebung von Top-Führungspositionen für Gesamtdeutschland durchgeführt. Es wurden 14 gesellschaftliche Sektoren mit mehr als 4.500 Spitzenpositionen identifiziert. Auf Basis von über 2.000 Interviews haben die Forscher unter anderem die ost- und westdeutsche Herkunft ermittelt. Es zeigte sich, dass die Ostdeutschen, die zum Befragungszeitpunkt rund 20 Prozent Bevölkerungsanteil hatten, in der Politik mit einem Drittel der Amtsträger sehr stark vertreten waren, gefolgt vom Kulturbereich, den Gewerkschaften und den Medien. Unter den 249 Leitungspositionen der größten Unternehmen in Deutschland war dagegen nur eine Person mit ostdeutscher Herkunft. Insgesamt lag der Anteil der Ostdeutschen an den Führungspositionen für Gesamtdeutschland bei 11,6 Prozent und innerhalb der neuen Bundesländer bei rund 60 Prozent. Er war damit geringer als es dem Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen entsprach, jedoch größer, als man es aufgrund des Problems des Kompetenztransfers im Systemübergang vom Staatssozialismus zur Marktwirtschaft erwarten konnte.
In den Jahren 2004 und 2016 wurden zwei weitere Studien durchgeführt, diesmal aber nur auf dem Gebiet Ostdeutschlands. Im Jahr 2004 hat der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) für sein Magazin „Umschau“ eine Erhebung des Anteils der in Ostdeutschland geborenen und dort sozialisierten obersten Führungskräfte durchgeführt. 2016 haben Michael Bluhm und Olaf Jacobs diese Studie in ihrer Leipziger Elitenstudie wiederholt. In beiden Studien wurden die Inhaber der Führungspositionen in folgenden Sektoren bestimmt: Politik (Landesregierungen), Großunternehmen (Vorstände), Wissenschaft (u. a. Rektoren), Medien (Chefredakteure), Justiz (Richter der obersten Gerichte der Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs-, Finanz- und Verfassungsgerichtsbarkeit) und Bundeswehr (Generäle). Da beide Studien das gleiche Untersuchungsdesign aufweisen, lassen sich die Ergebnisse direkt über die Zeit vergleichen. Die Leipziger Studie zeigte, dass der gemessene Anteil Ostdeutscher deutlich geringer war als in der „Potsdamer Elitestudie“: „Von den insgesamt betrachteten 1.099 Eliteangehörigen konnte für 249 Personen eine ostdeutsche Herkunft ermittelt werden – ein Anteil von knapp 23 Prozent“, bei etwa 87 Prozent Bevölkerungsanteil in Ostdeutschland. Höhere Anteile waren für die Politik (70 Prozent) und die Regionalzeitungen (62 Prozent) festzustellen. Besonders gering waren Ostdeutsche beim Militär (Generäle; 1 Prozent), den Leitungen der obersten Gerichte (Vorsitzende Richter, Präsidenten, Vizepräsidenten: knapp 6 Prozent) und unter Hochschulrektoren (14 Prozent) vertreten.
Der Vergleich mit den Daten der MDR-Studie von 2004 zeigt erstaunlicherweise, dass es innerhalb von elf Jahren kaum Veränderungen gegeben hat. Die Autoren haben lediglich ein sehr langsames Nachrücken auf sehr niedrigem Niveau festgestellt. Das gilt besonders in jenen Bereichen, in denen Posten eher langfristig und stark nach fachlicher Qualifikation vergeben werden oder wo das periodische Ausscheiden von Führungskräften die Bedingung dafür ist, dass eine Person aus Ostdeutschland die Chance hat, nachrücken zu können. Die relativ größten Zuwächse hat es in den Medien (etwa bei den Rundfunkanstalten: 2004: 17 Prozent, 2015/16: 27 Prozent) und bei den Vorständen der 100 größten Unternehmen (2004: 20 Prozent, 2015/16: 25 Prozent) gegeben. In den Top-Positionen der Politik und in der Wissenschaft waren sogar weniger Ostdeutsche zu finden als noch 2004. Die vorliegenden Studien weisen in der Summe darauf hin, dass der Anteil der Personen, die in der DDR geboren, dort aufgewachsen und anschließend in den ostdeutschen Bundesländern lebten, zu jedem Zeitpunkt insgesamt geringer war als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Zudem scheint es im Zeitverlauf zwischen den frühen 1990er Jahren und Mitte der 2000er Jahre sogar zu einem Rückgang gekommen zu sein - jedenfalls dann, wenn die unterschiedlichen Ergebnisse nicht maßgeblich durch methodische Unterschiede zwischen der „Potsdamer Elitestudie“ 1995 und der MDR-Studie (für die keine Methodenbeschreibung und auch kein Originalbericht verfügbar ist) verursacht werden. Die Befunde deuten zudem an, dass es zwischen 2004 und 2015 nur zu einem sehr langsamen Anstieg des Anteils Ostdeutscher gekommen ist, der zudem zwischen den Sektoren sehr unterschiedlich ausfällt und gelegentlich auch rückläufig ist. Allerdings haben wir in der Forschung zu wenige Studien und zu wenig Befragungszeitpunkte, um robuste Aussagen über einen klaren Trend treffen zu können. Zudem muss man in Rechnung stellen, dass die erwähnten Studien ausschließlich Top-Führungspositionen in Spitzenorganisationen untersucht haben. Es ist zu vermuten, dass auf der darunter liegenden der Ebene der Organisationen, etwa den Amtsgerichten, den Bürgermeisterpositionen in den Städten, oder auf der zweiten Ebene der Führungskräfte (z. B. Ressortleitende Redakteure in den Medien) der Anteil Ostdeutscher deutlich höher liegt. Darauf weisen Befunde einer Studie aus Mitte der 2000er Jahre hin. In Umfragen unter Betriebsleitungen von klein-und mittelständischen Unternehmen ergab sich, dass 77 Prozent der ostdeutschen Unternehmensleiter bereits vor 1989 Spitzenpositionen innehatten. Insgesamt waren 37 Prozent der befragten Führungskräfte in Ostdeutschland aufgewachsen.
Mögliche Ursachen für die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen
Warum gibt es so wenig ostdeutsche Führungskräfte in den neuen Ländern? Die Antwort, die die bisherige Forschung geben kann, ist dünn. Empirische Studien zu den Ursachen fehlen weitgehend. Deshalb konzentriere ich mich auf einige begründbare Vermutungen. Diese liefern keine abschießenden Belege, sondern haben den Stellenwert von Thesen, die von empirischen Studien geprüft werden müssten. Die erste und oftmals naheliegende These ist die Diskriminierung bei der Auswahl von Personen auf vakante Positionen. Da in den meisten oben beschriebenen Sektoren Führungspositionen auf Arbeitsmärkten vergeben werden, kann uns die Arbeitsmarktforschung wichtige Hinweise auf die Ursachen von Diskriminierung geben. Die Sozialwissenschaftlerin Lena Hipp unterscheidet in einem Überblicksbeitrag fünf Formen der Diskriminierung: Die wohl älteste und einfachste Erklärung ist die der Diskriminierung aufgrund von Geschmack („discrimination by taste“). Arbeitgeber vermeiden die Einstellung von Personen, die sie sie nicht mögen, weil sie von ihnen z. B. in sozialer, geschlechtlicher oder ethnischer Herkunft abweichen. Sie stellen lieber Personen ein, die ihnen selbst ähneln. Statistische Diskriminierung bedeutet, dass Arbeitgeber Personen mit bestimmten Gruppenmerkmalen bevorzugen, weil sie vermuten, dass diese mit höherer (statistischer) Wahrscheinlichkeit produktiver sind als Personen mit anderen Gruppenmerkmalen. Statusbasierte Diskriminierung liegt vor, wenn Arbeitgeber annehmen, dass bestimmte soziale Gruppen anderen Gruppen im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal (etwa Leistungsbereitschaft oder Zuverlässigkeit) unterlegen wären, was zu gruppenbezogenen Kompetenzunterschieden führen würde. Diese Vorurteile über Kompetenzunterschiede führen dazu, dass Personen, die niederrangigen Gruppen angehören, mehr leisten müssten, um als gleichwertig zu Angehörigen von höherrangigen Gruppen angesehen zu werden. Weitere Formen sind die normative Diskriminierung (Ausgrenzung aufgrund von sozialen Wertvorstellungen) und die institutionelle Diskriminierung, wonach z. B. gesellschaftlich verankerte Wertvorstellungen bestimmten Gruppen, etwa Frauen, Rollen zuschreiben, die mit der Übernahme von höheren Positionen auf dem Arbeitsmarkt unvereinbar erscheinen.
Insbesondere die geschmacksbezogene, statistische und statusbasierte Diskriminierung könnten für einen Teil der Unterrepräsentanz von Ostdeutschen auf Führungspersonen verantwortlich sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die auswählenden Personen oder Gremien der Organisationen überwiegend mit Personen besetzt sind, die in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind. Insbesondere könnten diese Ansätze erklären, warum der Wandel in der Besetzung von Positionen mit Ostdeutschen über die Zeit so langsam vonstattengeht. Dass westdeutsche Entscheider Personen ostdeutscher Herkunft auch noch 30 Jahre nach der Wiedereinigung in einem derart massiven Umfang geringere Kompetenzen unterstellen oder sie vorurteilsbehaftet ansehen, ist allerdings nicht sehr plausibel. Deshalb ist es hilfreich, sich zusätzlich mit sozialstrukturellen Erklärungen der Unterrepräsentanz zu beschäftigen. Die wichtigste sozialstrukturelle Erklärung verweist auf die Folgen der demografischen Verläufe in den Wanderungen zwischen Ost und West, und zwar in beide Himmelsrichtungen. Den Startpunkt macht die Wiedervereinigung. Weil diese als Ausdehnung des westdeutschen Institutionensystems organisiert wurde, waren in den neuen Ländern Experten gefragt, die sich besser mit der Praxis westlicher Institutionen, Normen und Gesetzen auskennen mussten – einschließlich der ungeschriebenen kulturellen Regeln der Marktwirtschaft. In der Folge kam es in Ostdeutschland binnen kurzer Zeit zu einem enormen Austausch der Führungseliten – eben durch Westdeutsche. Zu vermuten ist, dass viele der neuen, damals zugezogenen westdeutschen Eliten auch heute noch Führungspositionen innehaben, weil sie in den frühen 1990er Jahren, bei Stellenantritt, relativ jung waren. Denn um den riesigen Bedarf zu decken, bekamen viele Westdeutsche, wenn sie in den Osten gingen, die Chance auf einen Karriereaufstieg, auf den sie im Westen noch viele Jahre hätten warten müssen. Für viele von ihnen war die Wiedervereinigung daher ein biografischer Glücksfall und ein enormer Karrierebeschleuniger. Die wenigen existierenden Studien zeigen, dass die West-Eliten, die in den 1990er Jahren nach Ostdeutschland gingen, tatsächlich deutlich jünger waren als die Ostdeutschen auf Führungspositionen. Entscheidend ist, dass sie aufgrund ihres geringeren Durchschnittsalters eine lange Verweildauer auf den Positionen hatten und teilweise noch haben.
Dazu ein fiktives Beispiel aus der Wissenschaft: Man stelle sich ein Universitätsinstitut vor, das im Jahr 1993 mit westdeutschen Wissenschaftlern besetzt wurde. Nehmen wir weiter an, dass die fünf neu berufenen Professoren bei Stellenantritt 40 Jahre alt waren. Wenn keiner von ihnen das Institut zwischenzeitlich verlassen hätte, gingen sie alle 2018 in Rente. Das bedeutet, dass die Positionen über 25 Jahre für andere Personen blockiert gewesen wären. Ostdeutsche Nachwuchswissenschaftler hätten also lange warten müssen, bis sie die Chance auf eine der begehrten Professuren bekommen hätten. Überträgt man diesen Blockadeeffekt auf die Spitzenpositionen, die von den oben genannten empirischen Studien untersucht wurden, so hat man einen Hinweis auf die strukturellen Ursachen, warum der Wandel so langsam vonstattengeht. Zwar wissen wir nicht mit Sicherheit, wie groß dieser Effekt ist. Dass es ihn gab und immer noch gibt, ist aber wahrscheinlich. Den Nachteil haben jene jüngeren Ostdeutschen, die nach 1990 ihre zumeist sehr gute akademische Ausbildung gemacht haben und bislang kaum zum Zuge gekommen sind.
Ein zweiter möglicher Erklärungsfaktor betrifft die Zahl der potenziellen ostdeutschen Kandidatinnen und Kandidaten, die für Führungspositionen in Frage kommen. Studien gehen davon aus, dass weit über zwei Millionen Menschen seit 1990 das Territorium der neuen Bundesländer verlassen haben und nach Westdeutschland übergesiedelt sind. Zuletzt wurde sogar von über 3,6 Millionen Wegzügen berichtet, denen 2,5 Millionen Zuzüge aus Westdeutschland gegenüber standen. Die Weggezogenen waren überdurchschnittlich jung, besser ausgebildet und häufiger weiblich. Aufgrund des höheren Bildungsniveaus wären einige von ihnen, statistisch gesehen, langfristig für Führungspositionen in Frage gekommen. Die Abwanderung kann also zu einer Verknappung des Pools an möglichen Führungskräften mit ostdeutscher Herkunft geführt haben. Zwar zeigen neueste Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, dass der Auswanderungstrend 2017 gestoppt zu sein scheint. Bei den 18 bis 29-Jährigen verliert der Osten aber nach wie vor Potenzial an den Westen.
Ähnlich ist die Lage in der Politik. Zwar lag der Ostanteil bei den Landesministern in den neuen Ländern im Jahr 2015 mit etwa 70 Prozent deutlich höher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Da Regierungsmitglieder deutlich häufiger wechseln, ist hier die Chance für Ostdeutsche auch entsprechend größer. Bei den Staatssekretären, den wichtigsten politischen Beamtenpositionen, war der Ostanteil mit 46 Prozent aber deutlich niedriger. Das könnte teilweise eine Folge des fehlenden Nachwuchses sein. Weil es aber in jedem Bundesland mehr oder weniger gleich viele politische Spitzenjobs gibt, ist es möglich, dass es im Osten weniger fachlich geeignete Personen gibt, die sich für den harten Weg einer politischen Karriere entscheiden, weshalb häufiger auf Westdeutsche zurückgegriffen werden könnte.
Fazit
Der Transfer von überwiegend jungen westdeutschen Eliten nach 1990 scheint die Spitzenpositionen in Ostdeutschland über 30 Jahre lang entscheidend blockiert zu haben. Wurde in der Zwischenzeit dann doch einmal eine Stelle frei, so blieb möglicherweise durch unterschiedliche Formen der Diskriminierung die Unterrepräsentanz weiter erhalten. Ich formuliere dieses Fazit aber bewusst vorsichtig. Denn die zugrundeliegenden Prozesse sind komplex. Für Betroffene sind sie zumeist unsichtbar und auch für die Forschung schwer zu identifizieren. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass hochsensible Daten benötigt werden, die oftmals gar nicht oder nur sehr aufwändig erhoben werden können.
Diese Prozesse laufen mehrheitlich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit ab. Sie zu identifizieren, ist Aufgabe der Wissenschaft. Es ist im Interesse des Zusammenhalts der gesamten deutschen Gesellschaft, dass das Ausmaß und die Mechanismen der Unterrepräsentanz von Ostdeutschen umfassend erforscht werden. Hierzu kann auch das „Institut für den gesellschaftlichen Zusammenhalt (IfgZ)“ beitragen, das derzeit gegründet wird. Es wird von elf universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen getragen und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Denn die sozialwissenschaftliche Forschung kann dazu beitragen, dass Integrationsprobleme in der Gesellschaft sachgerechter und nicht vorrangig emotional diskutiert werden – auch, wenn das Gefühl der Betroffenen, nicht anerkannt zu sein, verständlich ist und oft in Frustration mündet. Der sachlich-nüchterne Blick der Wissenschaft auf die Macht der sozialen Strukturen hilft zumindest zu erkennen, dass ein krasser Wandel wie der Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaftsordnung einen längeren Schatten auf die Zukunft wirft, als man es sich gemeinhin vorstellt.
Zitierweise: "Kaum Posten für den Osten", Holger Lengfeld, in: Deutschland Archiv, 10.9.2019, Link: www.bpb.de/296773