Die Entlassung des Politikwissenschaftlers Hubertus Knabe aus Unna als Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die an das frühere zentrale Untersuchungsgefängnis des MfS erinnert, schlug öffentlich hohe Wellen. Dabei dürfte, aus demokratietheoretischer Sicht, unstrittig sein: Wenn Menschen zu lange unhinterfragt auf Posten und Pöstchen sitzen, deformiert das oft die Posten, nicht selten aber auch die amtsausübenden Personen – nicht nur in Wahlämtern, sondern ebenso in Institutionen.
Von diesem Phänomen blieb auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur, ganz abseits von Hubertus Knabe, nicht verschont. Da ich bereits seit 1990, mit damals jungen 23 Jahren, in dieser Szene aktiv bin, kann ich aus eigener Erfahrung bspw. konstatieren: Noch heute bekomme ich Einladungen zu Veranstaltungen aus dem Bereich der gesellschaftlichen Aufarbeitung, die ich überwiegend auch so schon etwa 1995 erhalten habe oder wenigstens hätte erhalten können. Offenbart sich darin nicht ein Problem? Seit 1990 war ich Mitglied im Unabhängigen Historiker-Verband, war am Umbau der Humboldt-Universität zu Berlin beteiligt, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur SED-Diktatur, war nach ihrer Gründung Mitarbeiter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und habe nebenbei wissenschaftliche Arbeiten publiziert – alles in den 1990er Jahren. Als aktiver Zeitzeuge glaube ich daher, aus eigener Anschauung sagen zu können: Ja, es ist ein Problem, dass es bislang in der Aufarbeitungslandschaft keinen Typuswechsel des Aufarbeiters gegeben hat. Aufarbeitung von Geschichte ist – anders als im Idealfall die geschichtswissenschaftliche Analyse der Vergangenheit – ein sehr politischer Vorgang. Sie verfolgt geschichtspolitische Interessen, will etwas bewirken, im Falle Deutschlands die Demokratie und Freiheit stärken. So war die DDR-Aufarbeitung mit dem Grundsatz angetreten, die Demokratie im Osten zu befördern. Manche Aufarbeiter verkünden sogar, dass je besser Diktatur begriffen werde, Demokratie sich umso besser gestalten lasse. Das hört sich zwar etwas sehr stark nach Volkspädagogik an, ist aber ebenso ernst gemeint, wie es öffentlich kaum infrage gestellt wird.
2018 stifteten vor allem zwei Vorgänge Unruhe unter den Aufarbeitern und stellten Fragen an das bisherige Wirken: Zeigen – erstens – die rassistischen Vorgänge in Ostdeutschland, zuletzt in Chemnitz, womöglich, dass die Aufarbeitung der letzten fast dreißig Jahre fruchtlos geblieben ist? Haben im Osten womöglich zu viele die Demokratie nicht begriffen, von Diktaturen ganz zu schweigen? Oder ist – zweitens – die bisherige Aufarbeitung, wie so manche orakeln, in Gefahr, weil am 25. September 2018 einer der Oberaufarbeiter, Hubertus Knabe, seinen Hut nehmen musste? Natürlich ist die Aufarbeitung deswegen nicht gescheitert, geschweige denn in Gefahr. Knabe musste gehen, weil er viele Jahre sexistische Strukturen in seiner Institution verschleierte und diese dadurch mittrug. Er fand dafür keine Worte des Bedauerns – weder für diese Strukturen noch für die Frauen, die darunter zu leiden hatten. Von jemandem, der sich professionell mit Aufarbeitung von Schuld beschäftigt, ist das allerdings das Mindeste, was man hätte erwarten dürfen. Der Rausschmiss war demnach kein Racheakt, sondern offenbar nötig. Hier wurde ein politisches Zeichen gesetzt, Sexismus überall den Kampf anzusagen. Überfällig ist auch – und nun erst recht –, über das von Knabe vertretene, außerordentlich fragwürdig Gedenkstättenkonzept zu sprechen. Unter seiner Verantwortung war die Gedenkstätte mit einer Überwältigungsstrategie versehen worden: Niemand sollte nach einem Besuch aus der Gedenkstätte herauskommen und eine andere Auffassung über die DDR und ihr Unrecht als der Gedenkstättenleiter haben.
Eine Gedenkstätte hat die Aufgabe zu informieren, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, deren Schicksal offenzulegen, den Opfern Namen zu geben und ebenso die Täter klar zu benennen, ihr Tun ins gesamtstaatliche Konzept einzuordnen. Das alles muss nach wissenschaftlich und museumspädagogisch anerkannten Maßstäben erfolgen, nicht nach geschichtspolitisch gewünschten Kriterien. Gedenkstätten als authentische Orte können ganz auf die Kraft des Ortes setzen, dürfen nicht übertreiben, sollen objektiv und nüchtern beschreiben. Die Zeitzeugen sollen ihre eigenen Geschichten erzählen, nicht die von anderen, und dies dem eigenen Erleben verpflichtet: Das Leben in den Zellen konnte sich schließlich stark unterscheiden; der Alltag war zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Gedenkstätten sollen auch nicht mit jungen Besucherinnen und Besuchern in Zellen Verhörsituationen nachstellen – so etwas nennt man vornehm Überwältigung oder, etwas burschikoser: durchgeknallt. Das aber gehörte zum Knabe-Konzept. Und Hohenschönhausen war im Vergleich zu anderen Haftorten in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren bei Weitem nicht der schlimmste, sehr wohl aber der modernste Knast. Die meisten dort Inhaftierten kamen über kurz oder lang in den Westen – das kalkulierten auch SED und MfS mit entsprechenden Folgen für den Untersuchungshaftalltag in der Honecker-Ära ein.
Auch dreißig Jahre nach ihrem weltweit gefeierten Ableben ist die DDR noch immer heftig umkämpft. Dabei erinnerte Knabes Einrichtung selbst im Prinzip an die Mahn- und Gedenkstätten der DDR – auch dort führten einstige Häftlinge die Besucher durch die Ausstellungen mit dem Ergebnis, dass nicht wenige anschließend schlaflose Nächte hatten. Das war vielleicht nicht schlimm. Aber zugleich wurde mit Holzhammerargumenten allen eingetrichtert, dass es nur eine Wahrheit gebe und diese gesetzmäßig zur DDR führe. Nur hier würde das Erbe des Antifaschismus richtig bewahrt. Hatte diese Antifaschismuspädagogik etwas mit den neofaschistischen Umtrieben der 1980er und frühen 1990er Jahre im Osten zu tun? Ja, da sind sich die Experten einig. Und führt die Ursachensuche, was heute im Osten los ist, auch zum Antifaschismusdogma in der DDR? Ja, auch da sind sich die Experten einig. Nun muss sich auch die DDR-Aufarbeitung, nicht nur wie Knabe sie vertritt, unangenehme Fragen gefallen lassen. Die unangenehmste vielleicht: Hat sie mit dazu beigetragen, was im Osten geschieht? Hat sie also ihre selbstgestellte Aufgabe, Demokratie zu befördern, verfehlt und womöglich sogar das Gegenteil mit provoziert?
Aufarbeitung an sich ist wichtig, keine Frage – aber wie wichtig wirklich? Wer sollte das messen, einschätzen? Wen erreicht Aufarbeitung und vor allem: wen nicht? Man sollte sie nicht überschätzen, so wie man das Gewicht Einzelner in diesem Zirkus nicht überschätzen sollte. Weder große Männer machen allein Geschichte noch schlanke Menschen allein Geschichtsaufarbeitung. Beide Gruppen glauben das allerdings gern. In der DDR-Aufarbeitungslandschaft haben wir den merkwürdigen Umstand zu beobachten, dass in vielen Institutionen – die erfolgreiche Berliner Mauergedenkstätte ist eine rühmliche Ausnahme – Personen Entscheidungen treffen, den Ton vorgeben, Verantwortung tragen, die dafür meist „nur“ durch ihre Biografie, nicht aber wegen einer professionellen Ausbildung in Museumsdidaktik, Geschichtspädagogik, Geschichts- oder Politikwissenschaften qualifiziert sind. Keine Frage: Vor allem in den 1990er Jahren war es von hoher symbolischer Bedeutung, dass Oppositionelle und Opfer der SED-Diktatur den kommunistischen und postkommunistischen Geschichtsmärchen ihre lebensgeschichtliche Wucht entgegenhielten. So funktionieren nun einmal Revolutionen. Aber die Revolution ist Geschichte. Die Kinder sind nicht entlassen worden, sondern eigentlich im Rentenalter – eigentlich.
Die Aufarbeitung der SED-Diktatur in den 1990er Jahren stand ganz im Zeichen der Revolution. Endlich konnten mithilfe der Regime-Archive jene Geschichten und Biografien öffentlich gemacht werden, die zuvor brutal unterdrückt worden waren. Nochmals, weil es zentral ist: Aufarbeitung ist im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft ein geschichtspolitisches Anliegen. Bei Aufarbeitung geht es nicht um Differenzierung, sondern um Anklage, Demaskierung, Entblößung, darum, mit Geschichtsbildern zu bilden, etwas zu legitimieren, Demokratie zu befördern. Deshalb stehen Geschichtsaufarbeitung und Geschichtswissenschaft auch miteinander im Dauerclinch. Will Letztere etwa Alltag und Gesellschaft in ihren vielschichtigen Erscheinungen differenziert analysieren, so wirft ihr Erstere Verharmlosung und Schönfärberei vor. Konzentriert sich die Aufarbeitung auf Opfer, Mauertote, Opposition und Widerstand, Haftanstalten und politische Justiz, bemängelt die professionelle Forschung, hier würde ein einseitiges Bild gemalt, das nur Schwarz und Weiß, aber keine Grautöne kenne. Beide Vorwürfe liegen regelmäßig daneben. Denn beider Aufgaben unterscheiden sich nun einmal so stark wie die von Bäckereien und Konditoreien: Nur weil sie zuweilen die gleichen Grundstoffe für ihre Arbeit benutzen und ihr Publikum Schnittmengen aufweist, streben sie ja noch keine ähnlichen Produkte an. Das ist nur leider nicht allen bewusst – weder den Beteiligten noch den Beobachtenden.
Interessanterweise kam die ostdeutsche Revolution 1989 – anders als die der Polen, Tschechen, Slowaken, Balten oder Ungarn – praktisch ohne historische Bezüge aus. Das veränderte sich erst nach dem Sturm auf die Stasi und der Eroberung der Akten 1990. In Deutschland wurde nun diese Geschichte zu einem extremen politischen Kampfmittel – das von allen Seiten intensiv genutzt wurde. Neuartige Institutionen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Kommissionen, eine neue Stiftung, zahlreiche Museen, Gedenkstätten und viele Vereine sowie Verbände bis hin zu Akten, die darüber entschieden, ob jemand zukunftstauglich sei oder nicht, ließen nicht nur eine flächendeckende Aufarbeitungslandschaft entstehen, sondern provozierten auch viele Fragen. Was hat die Regelüberprüfung, wofür das irreführende Wort gaucken erfunden wurde, eigentlich mit den Seelen der Überprüften, ob nun belastet oder nicht, gemacht? Millionen Menschen wurden überprüft, ob sie mit der Stasi zusammengearbeitet hatten. Viel Platz für Differenzierung blieb da nicht – umso weniger, da nur diese eine Institution, das Ministerium für Staatssicherheit, zum Beelzebub erklärt wurde. Ihr Auftraggeber, die SED, blieb im Schatten und konnte sich häuten. Was für eine schreiende Ungerechtigkeit. Nicht einmal die Aufarbeitung war wenigstens konsequent und nahm alle Verantwortlichen der SED-Diktatur ernst. Im Nachhinein erscheint die Stasi-Überprüfung als eine Beruhigungspille für die Mitläufergesellschaft. Und dass die Überprüfungen die Jahrtausendwende unbeschadet überstanden hatten, führte nicht nur zu Kopfschütteln, sondern vor allem zu Frust, Wut, Enttäuschung. Wie lange, fragten viele auch unbelastete Bürger, wollt „Ihr“ uns eigentlich noch unsere Vergangenheit vorhalten?
Obwohl der Kampf um die Stasi-Akten ein Sieg ostdeutscher Bürgerrechtler gegen gesamtdeutsche Schlussstrichbefürworter darstellte und auch die Existenz der Gauck-Behörde ganz allein ostdeutschen Aufarbeitern zu verdanken war, wird die gesamte Aufarbeitung einschließlich der Stasi-Überprüfung im Osten weithin als eine westdeutsche Idee angesehen. Das kommt daher, dass die Eliten im Osten – egal welche – prinzipiell als Westdeutsche gelten. Und wenn es dann doch mal ein Ostler in irgendeine maßgebliche Position geschafft hat, gilt er vielen Ostlern als irrelevante Ausnahme – oder als „Volksverräter“ wie Bundespräsident a.D. Gauck oder Bundeskanzlerin Merkel. Beiden schlägt der besondere Hass der ostdeutschen Seele entgegen, weil sie doch eigentlich von „uns“ sind, aber das Geschäft der Wessis betreiben würden.
Was bedeutet es, wenn die (westdeutschen) Deutungs- und Erklärer-Eliten ganz und gar überwiegend einen anderen Sozialisationshintergrund haben als jene Menschen, denen sie mittels Medien, Wissenschaft und Politik die Vergangenheit deuten und erklären sollen? Was folgt eigentlich aus dem Umstand, wenn die (ostdeutsche) Aufarbeitungstruppe im Ganzen gesehen ganz andere Lebenswege, Lebenserfahrungen vorzuweisen hat als die große Mehrheit der Gesellschaft, die sie mit ihrer Aufarbeitung aufklären will? Und wer klärt die Aufarbeiter über die Anderen auf? Sind sie die allwissenden Erzähler? Fragen, die bisher kaum gestellt werden; Fragen, auf die wir bislang keine überzeugende Antwort kennen.
Die Irritationen in Ostdeutschland begannen aber nicht erst, als Westdeutsche notwendigerweise kamen und beim Aufbau im Osten tatkräftig mithalfen (und die Richtung des Aufbaus vorgaben). Schon die Bürgerrechtsgruppen 1989 waren durchweg von mutigen Menschen gegründet worden, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung in der DDR (Kirche) oder ihres Eintretens für Menschenrechte vor 1989 (Opposition) zu gesellschaftlichen Randgruppen zählten. 1989 wussten alle, wogegen sie waren. Ein Programm wofür man sei, gab es jedoch nicht. Nie hat jemand jene gezählt, die 1989 nicht mitmachten. Sie waren die Mehrheit. Lohnte heute nicht zu analysieren, warum schon die freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 so viele verstörende Ergebnisse zeitigte? Es verloren ja nicht nur die Sozialdemokraten und die Idealisten aus der DDR-Opposition, besonders bitter in Sachsen; es gewannen ja nicht nur das Geld und die schnellstmögliche Einheit; es gewannen vor allem jene, die – so sagen wir es heute – populistisch versprachen, die Landschaften würden schnell blühen und die Ostdeutschen würden in drei bis fünf Jahren wie die Westdeutschen leben. Es kam jedoch etwas anders. Als nach 1990 die DDR-Vergangenheit in den Medien, den Kommissionen und auf den Marktplätzen erzählt wurde, wie sie sich in den Akten darstellte, staunten die meisten Menschen, die dort gelebt hatten. Das meiste hätten sie nicht gewusst, hörte man immer wieder. Das war oft schwer zu glauben. Dahinter verbarg sich aber etwas anderes: Diese Geschichte von Leid, Opfern, Unterdrückung und Widerstand erreichte die Gesellschaft nicht, sie war nicht ihre Geschichte; noch schlimmer sogar: Sie wurde nicht ihre Geschichte.
In Reaktion auf diese unverstandene Vergangenheit gab es die Ostalgie-Welle Anfang der 2000er Jahre. Kati Witt erzählte – ein aktuelles Foto zeigte sie lachend im FDJ-Hemd – dumme Geschichten, für die sie sich heute schämt. Sie hat dazugelernt. Die Aufarbeiter aber hatten nicht verstanden, dass sie an der Gesellschaft vorbei erzählten. Immer, wenn ihnen die Gegenerzählung nicht passte, vermuteten sie dahinter alte Seilschaften (die es auch gab) und Ewiggestrige (die es zuhauf gab). Warum kamen sie nicht auf die Idee, dass größere Teile der Gesellschaft begannen, sich dagegen zu wehren, wie ihnen ihre eigene Vergangenheit erzählt und damit eine immer fremder werdende Gegenwart legitimiert wurde? Im Osten waren simple Geschichtsbilder à la Knabe nicht nur im SED/PDS/Linkspartei-Milieu verpönt; die Ostalgiewellen waren, zugespitzt, nichts anderes als die Landserschmonzetten in der alten Bundesrepublik, die sich jahrzehntelang größter Beliebtheit erfreuten. Wurden die Millionen Leserinnen und Leser deshalb beschimpft? Das hätte schon aus wahlarithmetischen Gründen vor dem Auftauchen der Grünen niemand wagen dürfen. Für den Osten gab es eine solche Zurückhaltung nie – weder von Westlern noch von den Ostlern, die aufarbeiteten.
Historiker verfolgen nicht die wissenschaftliche Aufgabe, Bilder zu entwerfen, in denen sich der Einzelne wiederfindet. Das geht auch nicht. Die Aufarbeitung aber will Identifikationsangebote unterbreiten, die eine Form von Integrationschancen darstellen: Aufarbeitung als Mittel, um die Ostdeutschen in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren: „Ihr habt eine Diktatur überwunden, Ihr könnt stolz sein, Ihr seid Demokraten. Wenn Ihr die Diktatur verstanden habt, seid Ihr für die Demokratie gerüstet, könnt sie gestalten und seid für immer und ewig immun gegen Extremismus.“ So ungefähr lauten Lehrsätze der Aufarbeiter. Das hat nicht ganz geklappt – zumindest bis jetzt. Fast die Hälfte der Ostdeutschen können sich aktuell vorstellen, die rassistische AfD zu wählen; und fast die Hälfte fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse. So viel Kollektivismus im Osten hat es bisher noch nie gegeben. Das liegt natürlich nicht nur daran, dass die Aufarbeitung an ihren Ansprüchen scheiterte. Auch wenn es durchaus Parallelen zu anderen rassistischen und populistischen Entwicklungen in Nord- und Westeuropa, Nord- und Südamerika gibt. Die Besonderheiten dürfen dabei nicht aus den Augen verloren werden: In Ostdeutschland hat es nach 1933 fast sechzig Jahre lang nicht nur keine Demokratie, sondern auch keine Zivilgesellschaft gegeben. Von den etwas mehr als 16 Millionen Ostdeutschen hatten 1990 nur etwa zwölf Prozent, also die vor 1924 Geborenen, eine parlamentarische Demokratie durch eigene Anschauung irgendwie erlebt. Es gab keine Traditionen, an die sich hätte anknüpfen lassen. Demoskopen zeigten sich noch in den 2000er Jahren verwundert, wie homogen in Ostdeutschland der Wertehorizont der Gesellschaft ausfiel, im scharfen Kontrast zur Heterogenität im Westen. Der sozialökonomische Transformationsprozess in den 1990er Jahren war in Ostdeutschland kulturell und mental – nicht sozial – so schmerzvoll, einschneidend, umfassend und fast die gesamte Bevölkerung erfassend wie nirgends sonst. Es war, wie DGB-Chef Heinz-Werner Meyer im August 1990 treffend formulierte, als würde man einem Auto bei rasender Fahrt die Reifen wechseln wollen. Die Gesellschaft kam nicht zur Ruhe – und dabei mussten auch noch fast jeder und jede sich fragen lassen: „Und was hast Du bis 1989 getan?“ Die falsche Antwort, die passenden Akten und ein neuer biografischer Bruch waren besiegelt. So hatte sich das 1989/90 wohl niemand vorgestellt; und noch weniger, dass die Grundsätze in der Aufarbeitung seither kaum Veränderungen erfahren haben. Die Debatte um Andrej Holm am Jahresende 2016/Jahresanfang 2017, der als 19-Jähriger fünf Monate am Ende der DDR hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS gewesen war, hat das eindrücklich gezeigt.
Hier der Stasi-Mann, dort der zwangsweise Angepasste – so die öffentliche Deutung. Fünf Monate Stasi standen gegen mehr als zehn Jahre als leninistischer Ideologe. Beide leugneten nicht, beide gingen kritikwürdig mit ihrer Vergangenheit um; der eine wurde in Schimpf und Schande davongejagt, der andere in Amt und Würden befeiert und ohne jeden wissenschaftlichen Ausweis noch mit einer Lebenszeitprofessur belohnt. Glaubt da jemand, die Kriterien wären vernünftig, rational, nachvollziehbar, historisch angemessen, unabhängig von der jetzigen politischen Verortung?
Vor diesem Hintergrund: Ist die Aufarbeitung noch zu retten? Ja, natürlich! Sie muss sich nicht gänzlich neu erfinden. Aber sie sollte sich neu aufstellen. Die Zukunft der DDR-Geschichte ist nämlich offen. Die Causa Knabe sollte uns alle einmal innehalten und fragen lassen, ob es nicht doch mehr Zusammenhänge gibt zwischen einseitigen Geschichtsbildern, fehlenden Eliten aus dem eigenen Lebensbereich, sozialen Ungerechtigkeiten und einer gesichtslosen Menge, die Menschen im Mittelmeer „absaufen“ lassen möchte, die zu Gewalt gegenüber „Anderen“ bereit ist und die ihren Hass in sozialen Medien wie auf Marktplätzen unverblümt zur Schau trägt und dabei keinerlei Berührungsängste mit extremistischem Gedankengut hat. Victor Klemperer sprach davon, dass Sprache wie winzige Arsendöschen töten könne. Der Hass auf diskriminierungsfreie Sprache ist eine Arsenbombe. Um nur noch zu hoffen, ist keine Zeit mehr. Aufarbeitung kann Integrations- und Identifikationsangebote unterbreiten, aber sie ist natürlich kein Allheilmittel. Aufarbeitung muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen – nicht wo die Aufarbeiter stehen. „Täter“ und „Opfer“ sind keine geeigneten Kategorien, um eine Gesellschaft zu erklären; noch weniger aber um eine historische Gesellschaft Nachgeborenen zu erklären, nahezubringen. Die DDR-Aufarbeitung könnte nun, fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall, beginnen, die ganze Palette der DDR-Gesellschaft und die Transformationsgeschichte miteinander verknüpft zu erzählen. Die Aufarbeitung der 1990er Jahre muss überhaupt beginnen. Natürlich brauchen wir dafür keine Wahrheitskommissionen, auch keine Versöhnungskommissionen. Wer das fordert, wie die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping, hat von der Apartheid-Diktatur in Südafrika, wo es nach dem Sturz der Apartheid solche Kommissionen gab, offenkundig nicht einmal Grundkenntnisse – und vom Transformationsprozess in Ostdeutschland wohl auch nicht. Ebenso ist absurd, von der ostdeutschen Kolonisierung zu sprechen – ein Schlagwort seit 1990. Kolonialismus war eine Fremdherrschaft, Diktaturen mit dutzenden Millionen Opfern, in den Dimensionen nur dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus ähnlich. Und keine Kolonialherrschaft ist von den Kolonisierten sehnlichst herbeigewählt worden.
Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ursachen und Folgen der Transformation. In dieser Aufarbeitung müssen alle Erfahrungsräume Platz finden. Das Leben der Menschen vor und nach 1989 ist bei den meisten viel stärker miteinander verknüpft, als historische Epochenzäsuren vorgeben. Ostdeutschlands Gegenwart ist nicht zu erklären als Ergebnis eines linearen Prozesses. Historische Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Prägungen durch den Nationalsozialismus und den SED-Kommunismus, die fehlende Aufarbeitung von Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus und der Transformationsprozess seit 1990 gehören in der Analyse zusammen und werden ohne die Berücksichtigung der globalen Herausforderungen – der bundesdeutschen Versäumnisse in der Aufarbeitung (Rassismus, Kolonialismus) und der westdeutschen Vereinigungsmentalität –, denen sich Ostdeutschland seit 1990 stellen musste, nicht befriedigend ausfallen. In vielen Parametern kam es nur zu einer nachholenden Modernisierung, in anderen war Ostdeutschland auch Modellfall globaler Entwicklungen. Wenn wir es schaffen, ostdeutsche Geschichte, die Hoffnungen, Träume, Aufbrüche und Enttäuschungen als einen Fluss im Strom der Zeit des 20. Jahrhunderts zu erzählen – aufzuarbeiten –, dann sind wir auch nicht mehr weit entfernt von der schon lange geforderten gesamtdeutschen Geschichte. Bundesdeutsche und DDR-Geschichte, deutsche und europäische sowie globale Geschichte gehören zusammen – mehr als den damals Verantwortlichen lieb und den Zeitzeugen bewusst war. Nicht als platte Kontrastgeschichte, sondern als eine miteinander verzahnte Geschichte sollte die deutsch-deutsche Geschichte erzählt werden; und die DDR eben auch als eine Gesellschaftsgeschichte in der Parteidiktatur, in der viel mehr möglich war, als nur „Täter“ oder „Opfer“ zu sein. Die meisten waren weder das eine noch das andere, ganz viele aber beides. Das könnte gelingen. Voraussetzung wäre aber wahrscheinlich, dass nun all jene an den Schaltstellen der Aufarbeitungsmacht und Wissenschaftsdeutung, die sich in den letzten Jahren so verdient gemacht haben, Platz machen für die dreißig- bis vierzigjährigen Visionäre, für jene, die Aufarbeitung und Wissenschaft endlich zusammenbringen können, ohne sich des Verdachts auszusetzen, irgendetwas verharmlosen zu wollen. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen könnte hierfür eine echte Vorreiterrolle einnehmen.
Die Erstveröffentlichung dieses Beitrages erschien in Externer Link: Indes - Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2019, Heft 1).
Zitierweise: "Die Aufarbeitung der Aufarbeitung - Welche Zukunft hat die DDR-Geschichte?", Ilko-Sascha Kowalczuk, in: Deutschland Archiv, 24.7.2019, Link: www.bpb.de/294350