Seit Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zur Grenzöffnung im November 1989 verließen dreieinhalb bis vier Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen.
Die meisten – circa dreieinhalb Millionen Menschen – flüchteten noch in den 1950er Jahren nach West-Berlin und in die Bundesrepublik.
Die öffentliche Wahrnehmung des Migrationsphänomens unterscheidet sich allerdings deutlich von der realen historischen Entwicklung: Im Westen sind für die Zeit nach dem Mauerbau vorwiegend die Geschichten derjenigen bekannt geworden, die die deutsch-deutsche Grenze auf spektakulären Fluchtwegen überwanden, von genehmigten Westreisen nicht mehr in die DDR zurückkehrten oder aber von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Weitaus weniger Aufmerksamkeit bekamen dagegen bis heute diejenigen, die die DDR auf bürokratischem Wege, das heißt per Ausreiseantrag, verließen – obwohl sie doch (mit einer behördlich verzeichneten Zahl von circa 383.000 Menschen zwischen 1961 und 1988
Der Ausreiseantrag
Einen Ausreiseantrag stellen – das klingt so einfach. Tatsächlich gab es in der DDR bis Ende 1988 keine gesetzliche Grundlage für eine dauerhafte Übersiedlung ins westliche Ausland.
Partei und Staat reagierten auf Übersiedlungsersuche mit harten Gegenmaßnahmen: Frauen und Männer, die bei der zuständigen Behörde des Rates des Kreises einen "Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR" stellten, verloren oftmals sofort den Arbeitsplatz, wurden als "Asoziale" oder "Staatsfeinde" tituliert, von der Staatssicherheit überwacht oder sogar verhaftet und zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Langfristig zwang die wachsende Zahl der Antragstellerinnen und Antragsteller die DDR-Führung jedoch zu Zugeständnissen. Im September 1983 trat die "Verordnung zur Regelung von Fragen der Familien-Zusammenführung" in Kraft: Demnach durfte, wer Rentner oder Invalide war oder Verwandte ersten Grades im Westen hatte, einen Antrag auf Ausreise stellen. Alle anderen Antragsteller handelten aus Sicht der Behörden rechtswidrig.
Trotzdem gaben die Behörden den Anträgen nun immer wieder massenhaft statt, um Druck auf den Staat abzubauen. Die Sogwirkung der Ausreisebewegung nahm dadurch jedoch zu: Seit Mitte der 1980er Jahre organisierten sich die Antragsteller zunehmend und entwickelten öffentlichkeitswirksame Protestformen. Polizei, Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) reagierten mit Verhaftungen und Abschiebungen in den Westen, zeigten sich aber zunehmend machtlos gegenüber der neuen Massenbewegung, die 1989 noch 50.000 Ausreisegenehmigungen erstritt und insgesamt wesentlich zum Niedergang der DDR beitrug.
DDR-Übersiedler-Familien – eine unbeachtete Migrantengruppe
Die Antragsteller kamen aus allen sozialen Schichten und Regionen des Landes. Unser heutiges Bild vom emigrierten DDR-Bürger ist maßgeblich durch Medienberichte aus der unmittelbaren Nach-Wende-Zeit geprägt, die sich auf die Schicksale ausgereister oder ausgebürgerter DDR-Oppositioneller konzentrierten. Dabei handelte es sich jedoch um eine zahlenmäßig marginale Gruppe der DDR-Gesellschaft, die vorwiegend in den größeren Städten ansässig war. Realiter kam die Mehrheit der Antragsteller aus der Provinz und zählte nicht zur künstlerischen oder technischen Intelligenz. Seit Anfang der 1980er-Jahre nahm die Zahl der Paare mit minderjährigen Kindern, die einen Ausreiseantrag stellten, stark zu: In den kleineren Städten der DDR machten die "familialen Antragsgemeinschaften" bald das Gros der Ausreisewilligen aus.
Im sozialen Erinnerungsprozess der Nach-Wende-Gesellschaft blieb dieses Faktum jedoch nahezu unbeachtet: Bis heute wurden die Migrationsgeschichten dieser Familien kaum in den Medien, den Museen oder gar im Geschichtsunterricht thematisiert. Auch die Forschung reagierte nicht: Für dieses Phänomen einer zeithistorischen Familienmigration haben sich bis heute weder die DDR-Forschung noch die Familienforschung noch die Migrationsforschung in nennenswertem Maße interessiert. Auch die (überschaubare) Übersiedler-Forschung
Der folgende Beitrag – und das zugrundeliegende kulturwissenschaftliche Forschungsprojekt – möchten diesem Manko entgegenwirken. Indem der Blick auf die Migrationsgeschichten der DDR-Übersiedler-Familien gerichtet wird, soll ein wenig bekanntes, aber weit verbreitetes Phänomen der Familienmigration aus Akteursperspektive erkundet und ein Einblick in die subjektiven Erfahrungen von Angehörigen einer Migrantengruppe, die im historischen Vergleich als relativ privilegiert gilt, gegeben werden. Auf der Basis von qualitativen Interviews mit Angehörigen von Übersiedler-Familien, die in den 1980er Jahren emigrierten, soll gezeigt werden, wie Eltern und Kinder die Ausreise aus der DDR und den Neubeginn in der Bundesrepublik erlebt haben und welche Hürden und Hindernisse ihnen im langjährigen Prozess der deutsch-deutschen Migration begegnet sind.
Ausreise in der Erinnerung von Übersiedler-Eltern und -Kindern – die Vorgeschichte
Wer sich mit dem Gedanken trug, einen Ausreiseantrag zu stellen, nahm immense Verantwortung auf sich. Dies galt umso mehr für Eltern minderjähriger Kinder: Schließlich verließen die Übersiedler-Familien aus damaliger Sicht für immer ihre Heimat, ließen Verwandte und Freunde zurück, gaben ihre Wohnung, den sicheren Arbeitsplatz, die vertraute Schule auf. Dabei hatten die meisten Ausreisewilligen nur unklare Vorstellungen davon, was sie im Westen erwarten und wie sich ihr Leben in der Bundesrepublik gestalten würde.
Die Antragsteller mussten sich auf eine langwierige und unangenehme behördliche Prozedur mit ungewissem Ausgang gefasst machen. Denn von staatlicher Seite wurde das Warten-Lassen gezielt als Machtmittel eingesetzt: Viele Familien saßen monate- oder gar jahrelang auf gepackten Koffern, ohne zu wissen, ob ihr Antrag je Erfolg haben würde. Aufgrund der unklaren Perspektiven und der vielen Unwägbarkeiten des „Projekts Ausreise" hielten die Antragsteller ihre Migrationsabsichten in ihrem sozialen Umfeld lange Zeit geheim, häufig wussten nicht einmal die eigenen Kinder von dem Vorhaben. Während des langen Wartens auf die Bewilligung suchten die Übersiedler-Eltern den Alltag wie gewohnt fortzusetzen und den Kindern Sicherheit in biografisch unsicheren Zeiten zu vermitteln. Viele Väter und Mütter erinnern sich heute an ein Dasein im mentalen Transit zwischen Ost und West: Die Alltagssorgen ihrer Mitmenschen tangierten sie nur noch peripher; zugleich erschien ihnen das Leben im Westen unerreichbar fern.
Die meisten Kinder wurden erst zu einem relativ späten Zeitpunkt in das Migrationsvorhaben eingeweiht. Sie alle können sich heute noch genau an ihre Gefühle und Reaktionen erinnern. Dabei reicht das Spektrum von großer Begeisterung und Abenteuerlust über Indifferenz und Ratlosigkeit bis hin zu immenser Trauer und Rückzug in die innere Emigration.
Infolge ihres Ausreiseantrags sahen sich viele Familien drastischen Repressionen und Schikanen ausgesetzt, wie Verlust des Arbeitsplatzes, berufliche Degradierung, Verhöre und Verfolgung durch die Staatssicherheit, Ausgrenzung in der Schule. Zudem stand den Eltern als größtmögliches Schreckensszenario vor Augen, dass sie selbst inhaftiert und ihre Kinder in ein staatliches Heim oder zur Adoption freigegeben werden könnten. Von mehreren Interviewten wird dieser Aspekt als ein potenzieller Verhinderungsgrund im Entscheidungsprozess pro oder kontra Ausreise benannt; dabei wird auch auf abschreckende Beispiele verwiesen. So erzählt Rosa West: "
NUR den Ausreiseantrag hamm die gestellt. Und – […] beide eingesperrt: Sie ins Frauengefängnis Hoheneck, er – ich weiß nicht, wo der solange gesessen hat, Berlin, – und da hatten die noch das große Glück – es war nicht selbstverständlich – dass die Tochter bei der Großmutter leben durfte. Die hamm sie ja alle ins Heim gesteckt. Egal wie alt. Und die kam dann, als sie raus waren, wieder zu uns und die sagte: Ich hab meine Mutter am Anorak erkannt – sonst nicht. Also da darf ich gar nicht drüber nachdenken."
Trotz der immensen Belastungspotenziale spiegeln sich in den erzählten Erinnerungen aber nicht nur Ohnmacht, Traurigkeit und Wut ob der erfahrenen Kränkungen, sondern auch ironische Distanzierung und Überlegenheit: Über die DDR-Behördenvertreter und die Mitarbeiter der Staatssicherheit werden Anekdoten erzählt, ihre Methoden als lächerlich und durchschaubar charakterisiert. Nachdem die Ausreise bewilligt war, konnte der Migrationsentschluss auch im erweiterten sozialen Umfeld kundgetan werden. Dabei verfuhren vor allem die Kinder unterschiedlich: Während beispielsweise die elfjährige Mia Kowalski den weiteren Schulbesuch verweigerte, um sich nicht mit den abschätzigen Reaktionen der Lehrpersonen und Gleichaltrigen ("Du Arme, musst zum Klassenfeind!"
"Der Unterricht sah dann […] so aus, dass […] jeder gebeten wurde, vor die Klasse zu treten und seine Meinung dazu zu äußern, dass der Paul uns bald verlässt. […] Und dass sie es nie für möglich gehalten hätten, so einen Verräter in ihrem Klassenkollektiv zu haben. Und da musste jeder sein Sprüchlein sagen und jeder sich distanzieren. Und kaum war die Pausenklingel, war ich umgeben wie ein Popstar von allen, die mir natürlich am liebsten ihre Adressen geben wollten, dass ich ihnen was schicke, sobald ich raus bin. Alle wollten irgendwie ne Jeanshose oder was weiß ich. [lacht] […] Und alle hamm mich angeglotzt, als wäre ich vom Weltraum zurückgekommen."
Eltern wie Kinder erinnern sich an die sehr unterschiedlichen Reaktionen ihres Umfelds auf den Ausreiseentschluss wie Freude, Trauer, Neid, Verachtung oder Ratlosigkeit. Die Auseinandersetzung damit wurde jedoch schnell überlagert von den immensen organisatorischen Anforderungen, die es aufgrund des kurzfristig angesetzten Ausreisedatums in knappster Zeit zu erledigen galt. Als schikanös und belastend beschreiben die Angehörigen der Eltern-Generation die Anforderungen der DDR-Behörden: Zahlreiche Behördengänge mussten erledigt, Stempel und Unterschriften für diverse Formulare eingeholt, Pässe beantragt und Fahrkarten beschafft werden. Zugleich galt es, eine Spedition für das Umzugsgut zu finden und Verpackungsmaterial zu "organisieren". Vor allem aber mussten die Familien ihr gesamtes Hab und Gut in maschinengetippten Inventarlisten verzeichnen. Nachdem diese von diversen Behördenvertretern genehmigt worden waren, mussten beim Verladen der Spedition die Kisten wieder geöffnet und ihr Inhalt gegenüber den DDR-Zollbeamten verteidigt werden. Bis zuletzt versuchte das DDR-Regime somit, seine Machtposition gegenüber den "Republikflüchtigen"
Der Tag der Ausreise
Der konkrete Tag der Ausreise steht allen Beteiligten noch heute vor Augen. Insbesondere die tränenreichen Abschiedsszenen am Bahnhof haben sich tief eingeprägt. Die damals achtjährige Liv Kowalski erinnert sich an ihre Ausreise im Januar 1980:
"Wir sind mit dem Zug um sechs oder sieben in der Früh gefahren. Und da hat uns jemand mit dem Auto zum Hauptbahnhof gebracht, und ich weiß noch […] hinten war so ne kleine Scheibe, aus der ich rausgeguckt habe und [meiner Freundin] N. noch gewinkt hab. Und das war schon... Also wenn ich so an den Moment denke, das macht mich schon sehr traurig […]. Und der zweite bewegende Moment war, […] mein Vater hatte in E. im Betrieb gearbeitet, und […] da lief die Bahnstrecke dran vorbei, und da standen die ganzen Arbeitskollegen von meinem Vater mit so nem Riesen-Riesen-Plakat, da stand drauf: ‘E. grüßt Familie Kowalski.‘[…] Das war echt […], krieg ich echt Tränen in die Augen. […] Da ist wirklich was Gravierendes passiert. Also, das war nicht einfach mal ein Umzug. Sondern da ist echt mehr passiert. Also wirklich zwei unterschiedliche Systeme oder Leben, in die wir, von denen wir gewechselt haben."
Nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hat, ist die Familie Kowalski ganz auf sich gestellt. Die Stimmung ist bedrückt. Dabei steht der eigentliche Höhepunkt der Reise – der Grenzübertritt in den Westen – noch bevor. Mutter Clara Kowalski erzählt:
"Dann kamen wir an die tschechisch-österreichische Grenze, da mussten alle Leute aus den Abteilen raus und wurden gezählt, und dann wurden die Decken in den Toiletten aufgeschraubt, und die liefen dort mit Hunden rum. Und das war für uns so bedrückend zu erleben, da wird nach Menschen gesucht, und bloß, weil du so einen Zettel hast, kannst du dort stehen! Das war wirklich sehr, sehr [Stimme bricht], emotional sehr belastend."
Auch in den erzählten Erinnerungen der anderen Angehörigen der Eltern-Generation erscheint der Grenzübertritt als spannungsgeladenes rite de passage.
"Das kann man so schnell gar nicht realisieren! Es war so eine TRAGIK von der Stimmung für mich drüber. Natürlich eine Erleichterung, Freude. Aber ich kann’s noch gar nicht fassen, dass ich jetzt mal locker lassen kann oder so. Also eher so eine Starre, so ein starres Gefühl. Emotionslos. ‚Wo sitzt Du jetzt hier eigentlich? Ist das alles – stimmt das?‘"
"Also ich werd nie vergessen, […] der erste Kiosk auf dem Bahnsteig, den ich nur aus’m Zug gesehen hab, […] diese Unmengen an Schokoriegeln, allein die Farben! Das hat einen so umgehauen! Und dann kommt man abends um sechs nach München rein mit’m Zug und denkt: Die Luft ist so klar! Du kannst ja über die ganze Stadt gucken! Wir kannten ja nur Smog, Dreck, alles war grau. Und dann kommst’e in so’ ne RIESEN-Stadt und die Luft ist sauber! Und überall LEUCHTREKLAME und überall Licht und, und, und Sauberkeit! Also das war’s Erste: Farben, sauber, die Leute reden laut und fremdes Universum!"
Die erste Zeit in der Bundesrepublik
Die Übersiedler-Eltern waren in der ersten Zeit im Westen stark gefordert: Sie mussten sich in einem fremden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System zurechtfinden und in fortgeschrittenem Alter den beruflichen und privaten Neustart wagen. Zunächst ging es darum, Arbeit zu finden und die Kinder in geeigneten Schulen unterzubringen, eine bezahlbare Wohnung zu finden und diverse Ämtergänge zu erledigen.
Viele Übersiedler-Familien fanden zunächst bei den West-Verwandten Unterschlupf; nicht selten kam es dort jedoch bald zu Konflikten. Schuld daran waren nicht nur die gedrängte Wohnsituation und die mangelnde Privatsphäre, sondern vor allem differierende Erwartungen: Während die Verwandten Euphorie und Dankbarkeit vonseiten der Ausgereisten voraussetzten, rangen die ausgereisten Eltern mit ihrem schlechten Gewissen gegenüber den Zurück-Gebliebenen. Sie sorgten sich um ihr materielles Auskommen und das Wohlbefinden der Kinder, kämpften gegen die körperlich-seelische Erschöpfung, den Abschiedsschmerz und das Gefühl kultureller Fremdheit an und zweifelten immer wieder an der Richtigkeit ihrer Entscheidung.
Auch die Kinder trauerten dem Leben in der DDR nach. Sie alle hatten anfangs große Mühe, sich in das neue Schulsystem einzufügen und Freunde zu finden. Die Eltern konnten ihnen in der Zeit der Krise nur bedingt helfen: Sie waren völlig von den Anforderungen des Alltags in Anspruch genommen, suchten selbst nach biografischer Orientierung – und drohten immer wieder von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. Kinder wie Erwachsene reagierten unterschiedlich auf die Vielzahl der Anforderungen: Die Interviews zeugen von Euphorie, Abenteuerlust und Aktivismus ebenso wie von großer Resignation und dem kompletten Rückzug von der Außenwelt. Zwischen den Zeilen ist vielfach von gesundheitlichen Problemen die Rede: Die Kinder berichten von Nasenbluten und Bauchschmerzen, die Eltern von Nervenzusammenbrüchen und Depressionen.
Insgesamt vermitteln die Interviews den Eindruck, als habe in den Familien zu dieser Zeit große Sprachlosigkeit geherrscht. Die existentiellen Verunsicherungen und alltäglichen Irritationen waren offenkundig kaum Gegenstand der innerfamilialen Kommunikation. Auch die durchaus vorhandenen intra- und intergenerationellen Konflikte, etwa um unterschiedliche Erziehungsstile oder den Umgang mit den schulischen Anforderungen, wurden selten offen ausgetragen. Vielmehr scheint jeder für sich allein mit den Herausforderungen des Neubeginns und den damit verbundenen emotionalen Turbulenzen gekämpft zu haben. Dennoch verweisen die Aussagen der Interviewten darauf, dass das unausgesprochene Wissen um den familialen Zusammenhalt in den meisten Übersiedler-Familien (latent) vorhanden war und bei der Bewältigung der Krisensituation half. Aus heutiger Sicht wirkt es jedoch, als sei das Gefühl der familialen Zusammengehörigkeit innerhalb der ausgewanderten Kernfamilie nicht so sehr auf der kommunikativen Ebene gestärkt, sondern vielmehr durch gemeinsame Freizeitaktivitäten (wie: Besuche, Feste feiern, Reisen…) hergestellt und aufrechterhalten worden.
Neben dem sozialen Zusammenhalt ist es vor allem die starke Bildungsaffinität der interviewten Übersiedler-Familien, die dazu beiträgt, die Krisensituation nach und nach zu meistern: Den meisten Eltern gelang es relativ rasch, adäquate berufliche Positionen zu finden. Dabei kam ihnen zugute, dass ihre in der DDR erworbenen Bildungsabschlüsse und Berufserfahrungen in der Bundesrepublik anerkannt respektive durch Weiterbildung ergänzt werden konnten. Die Kinder wurden von den Eltern sehr darin bestärkt, an die schulischen Erfolge der DDR anzuknüpfen und viele Eltern versuchten alles in ihrer Möglichkeit Stehende, die Kinder zu unterstützen. Diese Bemühungen zeitigten langfristig allerdings sehr unterschiedliche Ergebnisse – teilweise sogar innerhalb einer familialen Generation.
Das lange Ankommen. Oder: Die Parameter der "Integration"
Im Vergleich mit anderen Migrantengruppen in Deutschland können die DDR-Übersiedler und -Übersiedlerinnen auf eine relativ "erfolgreiche" Integrationsgeschichte zurückblicken. In der Übersiedler-Forschung wurde dies bislang vor allem auf die günstigen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland zurückgeführt: Schließlich existierten keine Sprachbarrieren, dafür gab es die sofortige Anerkennung als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie diverse instrumentelle und finanzielle Hilfen. Die Interviews zeigen jedoch eindrücklich, dass das "biografische Gepäck" der Ausgereisten eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielte: Das Vorhandensein spezifischer Ressourcen und Kapitalien, die im Rahmen des familien- und milieuspezifischen Habitus
Fragt man die Übersiedler, was aus ihrer eigenen Sicht zum subjektiven Gefühl des Angekommen-Seins beigetragen habe, nennen sie zunächst die "harten" Faktoren: Nach einer langen Zeit des Übergangs wieder über ein eigenes Zuhause zu verfügen, war für viele Familien ein erster Schritt in Richtung Normalität und Autonomie. Ein ebenso hoher Stellenwert wird retrospektiv der ersten Arbeitsstelle im Westen beigemessen: Hier konnten (erstmals) eigene berufliche Interessen artikuliert sowie vorhandene Kompetenzen eingebracht und neue Fähigkeiten erworben werden – vor allem aber konnte damit die materielle Abhängigkeit von den West-Verwandten und vom Aufnahme-Staat gemindert werden. Darüber hinaus werden in den Interviews aber noch weitere, "weiche" Faktoren benannt: Dazu zählt die Erfahrung persönlicher und beruflicher Anerkennung, die Option, langgehegte Träume verwirklichen zu können und die Begegnung mit Menschen, die sich für die Lebensgeschichte der Zuwanderer und die herrschenden Verhältnisse in der DDR interessierten.
Trotz ihrer verhältnismäßig gelungenen Integrationsgeschichte hat auch die Gruppe der Übersiedler-Familien große postmigrantische Einbußen zu verzeichnen: Primär liegen diese im ökonomischen und sozialen, teilweise aber auch im bildungsbiografischen Bereich. Zudem kämpfen viele Übersiedler bis heute mit migrationsbedingten Verunsicherungen und – wie viele es selbst heute bezeichnen – "Traumatisierungen". Diese prägen nicht nur die intergenerationellen Beziehungen der beiden Erlebnisgenerationen, sondern wirken sich auch auf das Verhältnis zur Enkel-Generation aus. Last but not least fallen die fragilen identitären Verortungen der ehemaligen DDR-Bürger auf: Im sozialen Kontakt mit Westdeutschen zögern manche Eltern und Kinder bis heute damit, ihre Herkunft zu thematisieren. Umgekehrt besteht in vielen Familien kein Kontakt mehr zur Herkunftsregion – auch dies ist ein Faktum, das die DDR-Übersiedler von anderen transnationalen Migrantengruppen unterscheidet.
Resümee
Die große Gruppe der DDR-Übersiedler hat auf "leise" Art und Weise Integrationsgeschichte geschrieben. Dies liegt nicht nur daran, dass die ehemals Ausgereisten von der Aufnahmegesellschaft bis heute kaum eine öffentlich-mediale Bühne für ihre Migrationsgeschichten zur Verfügung gestellt bekamen.
Zitiertweise: Laura Wehr, Vergessene Migrationsgeschichte/n? Die Ausreise aus der DDR in der Erinnerung von Übersiedler-Eltern und -Kindern, in: Deutschland Archiv, 14.12.2016, Link: www.bpb.de/238655