Wende und Vereinigung im deutschen Radsport 1989/90
Der Sport als Sonderfall der deutschen Einheit
Berno Bahro
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Der Radrennsport zählte in der DDR zu den besonders geförderten Sportarten und die DDR-Radsportler feierten internationale Erfolge. Berno Bahro beleuchtet in seinem zweiteiligen Beitrag die Entwicklungen innerhalb des Deutschen Radsport-Verbandes der DDR im Herbst 1989 und analysiert, wie sich der Transformationsprozess auf den Radsport auswirkte. Teil 1: Der Sport als Sonderfall der deutschen Einheit.
Die Friedliche Revolution in der DDR und die überraschende Öffnung der Mauer im November 1989 lösten vor 25 Jahren rasante politische und gesellschaftliche Entwicklungen aus, die nach 40 Jahren staatlicher Trennung innerhalb nur eines Jahres zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führten. Hiervon war mit dem Sport auch der gesellschaftliche Bereich betroffen, in dem die DDR der Bundesrepublik im internationalen Vergleich deutlich überlegen war. Dies zeigte sich bereits mit dem ersten eigenständigen Auftreten einer DDR-Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968, wo es gelungen war, im inoffiziellen Medaillenspiegel an der Bundesrepublik vorbeizuziehen. Bis 1988 errang die Bundesrepublik 253 olympische Medaillen, die DDR brachte es auf 519 Podestplätze und konkurrierte seit 1976 sogar mit den USA und der UdSSR um den ersten Platz in der inoffiziellen Nationenwertung. Aufgrund dessen galt die DDR nicht zu Unrecht als "Sportwunderland". Die Athleten des ostdeutschen Teilstaates hatten mit diesen Erfolgen als "Diplomaten im Trainingsanzug" zur internationalen Anerkennung ihres Staates beigetragen und aus Sicht der SED-Regierung auch die Überlegenheit des Gesellschaftssystems Sozialismus demonstriert.
Erfolgsfaktoren des DDR-Leistungssportsystems
Möglich geworden waren die Erfolge des DDR-Sports durch eine einseitige Ausrichtung auf das Produzieren sportlicher Höchstleistungen. Welchen Stellenwert der Sport besaß, zeigt die Eröffnung der ersten Kinder- und Jugendsportschulen bereits im Jahr 1952, von denen es zuletzt 25 gab. Mehr als 90 Prozent der DDR-Olympiakader der 1980er-Jahre hatten diese Schulen besucht, die in Verbindung mit den Sportclubs den Kern des DDR-Leistungssportsystems darstellten. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde dieses System zu der so genannten Kaderpyramide ausgebaut.
Die Suche von Talenten als Basis der Pyramide sollte ab 1965 vor allem über die Kinder- und Jugend-Spartakiaden als Sichtungswettbewerbe erfolgen. Neben die Spartakiaden trat ab 1973 die sogenannte Einheitliche Sichtung und Auswahl (ESA) als Versuch, alle Kinder auf ihre leistungssportliche Eignung hin zu untersuchen und Talente dem Leistungssport zuzuführen. Die erste Förderstufe bildeten die seit den 1960er-Jahre aufgebauten Trainingszentren und -stützpunkte, in denen die gesichteten Talente in einem dreijährigen Training auf die Belastungen in den Kinder- und Jugendsportschulen (2. Förderstufe) vorbereitet werden sollten.
Die Arbeit einer Reihe von Organisationen richtete sich vor allem auf die Förderung des Leistungssports aus: Die Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leipzig (DHfK) bildete qualifizierte Trainer aus. In enger Kooperation mit dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport, ebenfalls in Leipzig, zielte eine leistungs- und anwendungsorientierte Sportwissenschaft auf das Erzielen sportlicher Höchstleistungen ab. Darüber hinaus hat auch die Betreuung durch den 1952 gegründeten Sportmedizinischen Dienst (SMD) und das ab 1974 nach staatlichem Masterplan durchgeführte Doping in vielen Sportarten die weltweiten Erfolge von DDR-Athletinnen und Athleten begünstigt bzw. erst ermöglicht. Einen wesentlichen Grundstein für die internationalen Sporterfolge legte der Leistungssportsbeschluss aus dem Jahr 1969. Seitdem konzentrierte sich der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB) auf besonders medaillenintensive Sportarten. Basierend auf einer rationellen Kosten-Nutzenrechnung fielen vor allem Mannschaftssportarten aus der Förderung. Dieses Schicksal traf beispielsweise die zur Weltspitze zählenden DDR-Radballer. Sie erhielten nicht nur keine besondere Unterstützung mehr, sondern durften nach der Weltmeisterschaft in Ostrava (ČSSR, heute Tschechien) 1970 nicht mehr an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Das gleiche Schicksal ereilte auch die nichtolympischen Kunstradfahrer. Die Bahn- und Straßenradfahrer hingegen profitierten von sämtlichen Unterstützungsmaßnahmen innerhalb des Leistungssportsystems und etablierten sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Weltspitze.
Der Sport als Sonderfall der deutschen Einheit
Das zumindest in den geförderten Sportarten hochprofessionelle Leistungssportsystem der DDR traf 1989/90 auf das System der Bundesrepublik, welches in vielen Bereichen anders funktionierte und in der Summe deutlich weniger erfolgreich war. So war der Sport in der Bundesrepublik weniger leistungssportfixiert. Ohne systematische Talentsichtung wie in der DDR spielte der Breitensport eine größere Rolle, ebenso das ehrenamtliche Engagement in den Vereinen und Verbänden. Vereine dagegen gab es in der DDR nicht mehr. Der Basissport fand zumeist in Betriebssportgemeinschaften (BSG) statt, die vor allem über ihre Trägerbetriebe finanziert wurden. Darüber hinaus übernahm in der DDR eine Vielzahl von Hauptamtlichen die Kernaufgaben des Sports auf allen Ebenen. Zuletzt beschäftigte allein der DTSB mehr als 5.000 hauptamtliche Trainer, weitere 3.000 arbeiteten in den Sportvereinigungen Vorwärts und Dynamo. Allein 592 Trainer arbeiteten für den Deutschen Verband für Leichtathletik der DDR, dem zuletzt etwas mehr als 80.000 Sportlerinnen und Sportler angehörten. Im Deutschen Leichtathletik-Verband der Bundesrepublik mit seinen circa 800.000 Mitgliedern waren dagegen nur 15 hauptamtliche Trainer direkt beim Verband und noch einmal 30 bei Großvereinen angestellt. In der Konsequenz konnte die DDR im internationalen Vergleich weitaus mehr Medaillenerfolge in den besonders geförderten olympischen Sportarten vorweisen. Der Prozess der Wende und Vereinigung weckte daher auch in der Bundesrepublik Begehrlichkeiten. Exemplarisch dafür steht der damalige Bundestrainer Franz Beckenbauer, der nach dem WM-Sieg der Fußballnationalmannschaft 1990 in Rom im Überschwang des Erfolges prophezeite: "Durch die Wiedervereinigung und die Spieler der DDR wird Deutschland auf Jahre unschlagbar sein!" Auch wenn es nicht in dieser Form kommuniziert wurde, so bestand auch in anderen Verbänden die Hoffnung, dass die erfolgreichen DDR-Athletinnen und Athleten die gesamtdeutschen Teams zu neuen Erfolgen führen würden. Und ebenso wie über die Geheimnisse des "Sportwunderlandes" diskutiert wurde, stellte sich in der Zeit des Umbruchs die zentrale Frage danach, welche Elemente des DDR-Leistungssportsystems als bewahrenswert einzustufen wären und welche nicht.
Die Situation des DDR-Sports im Herbst 1989
Die nach wie vor hohe Zahl internationaler Sporterfolge Ende der 1980er Jahre konnte jedoch nicht über die schwere gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Krise hinwegtäuschen. Das Staatsdefizit zwang zu größeren Einsparungen im Staatshaushalt. Zwar gelang es der DTSB-Spitze mit der Unterstützung von Egon Krenz, eine geplante Absenkung der Leistungssportförderung zu verhindern. Versorgungsmängel zeigten sich dennoch, sogar in den besonders geförderten Sportarten und noch mehr im vernachlässigten Breitensport, der in der DDR Massensport oder Freizeit- und Erholungssport genannte wurde. Im Radsport gestaltete sich vor allem die Materialbeschaffung als äußerst problematisch, auch wenn dies erst nach dem Mauerfall offen ausgesprochen werden konnte. So wurde der vom Staatssekretariat für Körperkultur und Sport der DDR ermittelte Bedarf an Rennrädern in 1989 mit 30.000 beziffert. Der Ministerrat beschloss daraufhin die Produktion von 17.500 Stück, im Handel kamen aber nur 8.000 an. Auch Ersatzteile waren oft nicht lieferbar. Der Inhaber einer Berliner Fahrradwerkstatt berichtete, er hätte im Jahr 1989 von 139 bestellten Fahrradrahmen nur 26 erhalten, von 335 Schaltungen nur 59. Diese Probleme verstärkten die Unzufriedenheit an der Sportbasis. Genährt wurde diese Unruhe durch die politischen Rahmenbedingungen: Die Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich, die steigenden Flüchtlingszahlen und die zu einer Massenbewegung anwachsenden Montagsdemonstrationen sorgten auch in der Führungsspitze des Sports für Nervosität. Auf der Versammlung des DTSB vom 6. bis 8. November 1989 in der SED-Parteischule Karl-Liebknecht in Klein-Machnow nahe Berlin wurde vor diesem Hintergrund auch über mögliche Reformen innerhalb des DDR-Sports diskutiert. Die Vorstöße blieben jedoch zaghaft, der Sport zeigte sich auf den höheren Funktionärsebenen eher systemkonform. Die beschlossene Liberalisierung des innerdeutschen Sportverkehrs - das bisher dreistufige Verfahren für Genehmigung von Sportbegegnungen sollte auf ein zweistufiges reduziert werden - wurde durch die unmittelbar folgende Maueröffnung zur Makulatur. Als die DTSB-Delegierten nach Hause kamen, wurden sie von den sich überschlagenden Ereignissen eingeholt.
Die Freigabe des Sportverkehrs - erste Kontakte zum Bund Deutscher Radfahrer
In Grenznähe, insbesondere in Berlin, organisierten euphorisierte Sportlerinnen und Sportler an der Basis unmittelbar nach der Grenzöffnung erste Sportbegegnungen, ungeachtet der noch geltenden, restriktiven Verbandsregelungen. Auch die Radsportler in Berlin nahmen auf Vereinsebene unmittelbar Kontakt zueinander auf. So kamen zum internationalen Kreuzberger Querfeldeinrennen im November 1989 nicht nur zahlreiche Besucher aus Ost-Berlin, es nahmen auch DDR-Radsportler aktiv am Rennen teil. Der West-Berliner Radsport-Präsident, Jörg-Peter Schulze, war von der Veranstaltung und dem Besucheransturm so begeistert, dass er dies mit den Worten kommentierte: "Ich hoffe, dass dies zu einer normalen Situation wird." Im Auftrag des Landesverbandes Berlin wollte er sich an den Deutschen Radsport-Verband der DDR (DRSV) wenden, um gegenseitige Starts auch offiziell zu ermöglichen. Die Bekanntgabe der Freiheit des deutsch-deutschen Sportverkehrs am 17. November 1989 durch die Präsidenten des Deutschen Sportbundes (DSB) und des DTSB, Hans Hansen und Klaus Eichler, stellte im Prinzip nur die Tatsachen fest. Die beiden deutschen Radsportverbände waren nicht so schnell. Anfang Dezember trafen sich die Präsidenten Werner Göhner (BDR) und Gerhard Voß (DRSV) anlässlich einer turnusmäßigen Sitzung des Internationalen Radsportverbandes. Sie bekräftigen dabei zwar öffentlich ihren Willen zum Ausbau der vorhandenen Beziehungen, über den gemeinsamen Sportverkehr berieten sie aber erst bei einem separaten Treffen am 21. Dezember 1989.
Unterdessen meldete sich nun lautstark die Basis zu Wort. Das DDR-Verbandsorgan "Der Radsportler" füllte sich mit kritischen Beiträgen der Redaktion und Leserbriefen, was sich beispielsweise an den nun offen thematisierten Materialsorgen zeigte: es werde nur Mittelmaß und davon in zu geringen Stückzahlen produziert. Kritisiert wurde auch die vom DTSB verordnete Fälschung der Mitgliederstatistiken. Eine Überprüfung im Bezirk Erfurt ergab beispielsweise, dass von 51 geführten Radsport-Sektionen nur 34 tatsächlich bestanden. Abgerechnet wurde auch mit dem Fördersystem der Kaderpyramide. Zwar würde diese den Mindestbedarf für die Nachwuchsentwicklung im Spitzensport sicherstellen. Aber ebenso würden Tausende Mädchen und Jungen dem Breitensport verloren gehen, weil ihnen bei nicht erfolgter Delegierung an die Kinder- und Jugendsportschulen oft kein sportliches Anschlussangebot unterbreitet werden könne. Damit gingen dem Radsport zahlreiche motivierte Nachwuchskräfte verloren, die später auch als Übungsleiter, Kampfrichter oder Helfer des Sports hätten eingesetzt werden können. Zunächst richtete sich der Unmut vor allem aber gegen den DTSB. Als sich dessen Präsident Klaus Eichler am 25. Oktober 1989 in der Leipziger Moritzbastei einer offenen Diskussion mit Sportstudenten und interessierten Bürgern stellte, erhielt er auch kritische Fragen von Radsportanhängern. Thematisiert wurde vor allem die Ungleichbehandlung des BSG-Sports im Vergleich zu den Sportclubs. Wolfgang Schoppe, selbst Mitglied im Präsidium des DRSV und dort zuständig für den BSG-Sport, kritisierte exemplarisch die Diskriminierung von Martin Goetze und Wolfgang Lötzsch. Beide fielen als Klubfahrer aus politischen Gründen in Ungnade und waren aussortiert worden. Lötzsch hatte sich geweigert, in die SED einzutreten und galt als politisch höchst unzuverlässig. 1972 erfolgte seine "Ausdelegierung" aus dem SC Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Goetze wurde 1984 wegen "persönlicher Differenzen" mit seinem Trainer beim SC DHfK Leipzig ausdelegiert. Als nicht besonders geförderte BSG-Fahrer feierten sie dennoch weiterhin Erfolge: Während Lötzsch in den 1970er- und 1980er-Jahren die "DDR-Bestenermittlung" der BSG-Sportler dominierte, wurde Goetze sogar zwei Mal DDR-Straßenmeister. Trotzdem konnten sie weder mit dem Titel "Meister des Sports" ausgezeichnet werden, noch sich für die DDR-Auswahlmannschaften qualifizieren.
Die offen angesprochenen Probleme und vielfältigen Diskussionen über mögliche Lösungsansätze erzeugten eine Aufbruchsstimmung. Nicht nur im Radsport erhofften sich vor allem die aktiven Breitensportler und die seit 1969 vernachlässigten Disziplinen eine bessere Unterstützung. Die betroffenen Radsportler – Radballer, Kunstradfahrer und Radpolospieler – erwarteten eine Aufnahme in das System der Leistungssportförderung und eine Rückkehr auf das internationale Parkett. Von der alten Sportführung wurde eine Demokratisierung der Verbände eingefordert, insbesondere Sportler und Trainer sollten mehr Gehör bekommen. Der Redakteur des Verbandsorgans "Der Radsportler", Werner Ruttkus, forderte am 2. November 1989 in einem Leitartikel indirekt eine Erneuerung der Führungskader auf allen Ebenen: "Wir brauchen in unseren Leitungen Menschen, denen wir vertrauen."
Im zweiten Teil seines Beitrages, der am 18.12.2014 im Deutschland Archiv veröffentlicht wird, beschreibt Berno Bahro den Reformprozess in der Verbandsstruktur des Radsports sowie die Finanzierungsmöglichkeiten in den 1990er Jahren und hinterfragt, ob die Vereinigung der beiden Sportsysteme und somit die "sportliche Einheit" als gelungen bezeichnet werden kann.
Zitierweise: Berno Bahro, Wende und Vereinigung im deutschen Radsport 1989/90 - Der Sport als Sonderfall der deutschen Einheit, in: Deutschland Archiv, 16.12.2014, Link: http://www.bpb.de/197919
Berno Bahro
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Potsdam und dort verantwortlich für die sporthistorische Lehre. Mitbegründer und heute Vorstand des Zentrums deutsche Sportgeschichte e.V. sowie Vizepräsident des Universitätssportvereins Potsdam e.V. Schwerpunkte der Forschung sind: Sport im Nationalsozialismus, jüdische Sportbewegung, Sport, Schulsport und Sportlehrerausbildung in der DDR.
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