Das 'Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder' in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung | Deutschland Archiv | bpb.de
Das 'Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder' in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung
Christopher Banditt
/ 20 Minuten zu lesen
Link kopieren
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes bei. Alternativ wäre auch die Verabschiedung einer neuen Verfassung durch das gesamte deutsche Volk nach Artikel 146 möglich gewesen. Inhaltliche Impulse hierfür legte das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" vor. Christopher Banditt über den ambitionierten Verfassungsentwurf und dessen Scheitern.
In der allgemeinen Erinnerung ist von der Verfassungsdiskussion, die sich zur Zeit der Wiedervereinigung entspann, vornehmlich der "Artikelstreit" im Gedächtnis geblieben. Dabei ging es um die Frage, ob die Einheit über Grundgesetzartikel 23, der den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vorsah, oder Artikel 146, und somit auf der Grundlage einer neuen Verfassung, zu vollziehen sei. Dass insbesondere von Akteuren, die eine Vereinigung allein nach Artikel 23 ablehnten, auch bereits inhaltliche Impulse für eine neue Verfassung ausgingen und wie diese aussahen, soll im Folgenden skizziert werden.
Artikel 23 GG
Der Artikel 23 formulierte, dass das Grundgesetz "[i]n anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei. Dieser war bereits 1957 beim Beitritt des Saarlands zur Bundesrepublik zur Anwendung gekommen. Die Befürworter eines Beitritts der DDR zur Bundesrepublik argumentierten, dass so das Grundgesetz als "erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte" erhalten werden könne. Die vom Grundgesetz ausgehende Stabilität sei von besonderer Bedeutung für den gesamten Einigungsverlauf, da sich auf diesem Verfassungsfundament die "außergewöhnliche Anstrengung auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Währungspolitik und der Gesetzgebung […] besser bewerkstelligen läßt, als wenn erst einmal ein neues rechtliches Fundament für alles gesucht wird".
Die Zustimmung zum Grundgesetz, die von den Westdeutschen durch die Partizipation am politischen System – als ein plébiscite de tous les jours – demonstriert werde, hätten auch die Ostdeutschen mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 gegeben, bei der schließlich die Allianz für Deutschland durch ihr Eintreten für eine Vereinigung nach Artikel 23 gewonnen habe. Somit wachse dem Grundgesetz Legitimität von allen Deutschen zu. Das Grundgesetz sei ohnehin "von Anfang an auch als Verfassung für das ganze deutsche Volk entworfen" worden. Jene Deutschen aus der DDR würden nun "dem Grundgesetz beitreten und mit diesem freiwilligen Akt ihre damals verhinderte Mitwirkung nachholen". Auch in außenpolitischer Hinsicht sei der Weg nach Artikel 23 der richtige: Um Nachbarn und Bündnispartnern zu versichern, dass mit der Vereinigung kein aggressiver deutscher Nationalstaat wieder erstehe, könne mit der verfassungspolitischen auch außenpolitische Kontinuität demonstriert werden. Ferner habe die gegenwärtige außenpolitische Situation ein günstiges Zeitfenster für eine Wiedervereinigung geöffnet, das nicht ungenutzt bleiben dürfe. Und nur nach Artikel 23 sei eine zügige Vereinigung möglich, worauf insbesondere die CDU/CSU insistierte.
Artikel 146 GG
Artikel 146, nach dem das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert "an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist", war für seine Befürworter die lex specialis, also gegenüber Artikel 23 die vorrangige Bestimmung zum Vollzug der Einheit. So habe schließlich der Parlamentarische Rat nur eine provisorische Verfassung für die Übergangszeit der Teilung geschaffen. Durch den seinerzeitigen Verzicht auf eine verfassunggebende Versammlung und eine Volksabstimmung über die Annahme des Grundgesetzes besitze dieses "keine ausreichende Legitimität im Sinne einer modernen demokratischen Verfassungstheorie". Dieses Defizit könne nun mit der Ausarbeitung und Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung, die "in weiten Teilen auf dem Bewährten des Grundgesetzes aufbauen kann", beseitigt werden. Ferner könnten somit die Wiedervereinigung demokratisch abgesichert und Impulse für das Zusammenwachsen generiert werden; der historische Augenblick dürfe nicht vertan werden, "den Prozeß der staatlichen Vereinigung im klaren politischen Bewußtsein der Konstituierung einer Staatsbürgernation zu vollziehen". Insbesondere der Leistung der DDR-Bürgerinnen und Bürger, die sich eben noch ihre Freiheit und mithin das Recht auf Teilhabe und Mitsprache in einer Friedlichen Revolution erkämpft hatten, müsse mit einem gleichberechtigten konstitutionellen Neubeginn Rechnung getragen werden. Über den Weg einer gemeinsamen verfassunggebenden Versammlung könne möglicherweise Bewahrenswertes von ostdeutscher Seite eingebracht werden.
Um den Artikelstreit, der bald wie ein "Glaubenskrieg" anmutete, zu entspannen, wurde von verschiedenen Seiten ein kombinierter Weg entworfen: erst ein Beitritt nach Artikel 23 und dann die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146. Damit sollte der Zeitvorteil des Beitritts verbunden werden mit der Identitäts- und Legitimitätsfunktion einer neuen vom Volk verabschiedeten Verfassung.
Union für Vereinigung nach Artikel 23 GG
Am 11. Februar 1990 erklärte der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende Helmut Kohl nach einer Moskaureise dem ZDF:
"Wir werden eine neue Verfassung zu schaffen haben […] Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluß hinausgeht." Man kann nur spekulieren, ob dies eine Konzessionsaussage gegenüber den östlichen Verhandlungspartnern war. Denn wenig später nahm Kohl einen anderen Standpunkt ein. Fortan blieb für ihn und die Union der Beitritt nach Artikel 23 der "Königsweg zur deutschen Einheit". Am 6. März 1990 hatte sich die Bonner Regierungskoalition unter Führung der CDU "darauf geeinigt, den Weg zur Einheit nach Artikel 23 GG zu gehen". Kurz darauf entschied das Parteienbündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) die ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR mit beinahe absoluter Mehrheit für sich. Diese "Allianz für Deutschland" trat ebenfalls für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 ein, der schließlich am 23. August 1990 von der Volkskammer mit 294 zu 62 Stimmen bei 7 Enthaltungen beschlossen wurde. Dagegen votierten die für eine weiterhin souveräne DDR einstehende PDS-Fraktion, die Hälfte der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, ein Fraktionsloser und zwei SPD-Abgeordnete.
SPD, FDP und Grüne im Artikelstreit
Wenngleich die Ost-SPD den Vereinigungsweg nach Artikel 146 verfolgte, hatte diese sich nach dem ernüchternden Ergebnis der Wahlen vom 18. März 1990 in eine Koalition unter Führung der CDU begeben und bekannte sich notgedrungen zu Artikel 23, um Einfluss auf die Aushandlung von Beitrittsmodalitäten nehmen zu können. Die West-SPD folgte nicht uneingeschränkt ihrem Ehrenvorsitzenden Willy Brandt in seinem Werben für die deutsche Vereinigung. Deren Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine personifizierte die gemischten Gefühle zur Einheit, womit er auch dem Grundgefühl der westdeutschen Mehrheit entsprach. Zwar lehnte die West-SPD die deutsche Vereinigung mitnichten ab, aber sie verfolgte einen längerfristigen Weg des Zusammenwachsens – priorisierte also insgesamt eher Artikel 146. Als sich die Vereinigung via Beitritt abzeichnete, plädierte sie für den "Weg des gestreckten Artikels 23 mit der Folge des Artikels 146". Durch das politische Gewicht, das sie in Volkskammer, Bundestag und Bundesrat hatte, konnte die SPD Artikel 146 in leicht abgewandelter Form erhalten und die Empfehlung zur späteren Beschäftigung mit seinen Möglichkeiten im Einigungsvertrag festschreiben lassen.
Die westdeutsche FDP folgte prinzipiell ihrem Regierungspartner auf dem Vereinigungsweg nach Artikel 23. Gleichwohl stand sie einer Überarbeitung des Grundgesetzes nicht ablehnend gegenüber, erachtete aber eine "grundsätzliche Neugestaltung" als "nicht notwendig". Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher plädierte nach Vollzug des Beitritts für eine Volksabstimmung über das Grundgesetz als Verfassung des geeinten Deutschlands auf der Grundlage des Artikels 146 neuer Fassung.
Bei den westdeutschen Grünen verursachte ein links-intellektuelles Widerstreben gegen einen vereinten deutschen Nationalstaat, das etwas abgeschwächter auch in Teilen der SPD zu finden war, eine abwehrende Einstellung zur deutschen Einheit – bis schließlich "nicht mehr das Ob der Vereinigung […], sondern nur noch das Wie" diskutiert wurde. Dann forderten sie die "Volksabstimmung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und verfassunggebende Versammlung statt Anschluß der DDR", so der Titel eines Antrags im Bundestag. Auch über den 3. Oktober 1990 hinaus postulierten sie die Anwendung des Artikels 146. Anlässlich dieses Datums fragte Joschka Fischer ostentativ: "[W]arum fürchten dann Herr Kohl und seine Koalition einen Verfassungsprozeß zur demokratischen Gestaltung der Einheit nach dem Beitritt der DDR wie der Teufel das Weihwasser? Traut man dem Volk und seiner Demokratie nicht viel Gutes zu?" Und er gab den Ostdeutschen lakonisch mit auf den Weg, dass nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik "kaum etwas von Euerm Beitrag übrigbleiben [wird] zu diesem Deutschland".
Bei den ostdeutschen Grünen und der DDR-Bürgerbewegung sorgte man sich insbesondere um den Beitrag, der von der Friedlichen Revolution im wiedervereinigten Deutschland erhalten bleiben würde. Das Bündnis 90, das als Listenverbindung der Bürgerbewegungen Demokratie Jetzt, Neues Forum und Initiative Frieden und Menschenrechte für die Volkskammerwahl gegründet wurde, warb zusammen mit den Grünen im Wahlkampf mit der Losung: "Artikel 23: Kein Anschluß unter dieser Nummer!" Eine Wiedervereinigung sollte überhaupt erst nach der Demokratisierung der DDR und somit zwischen gleichberechtigten Verhandlungspartnern nach Artikel 146 vollzogen werden.
Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder
Wie erwähnt, hatte Artikel 146 in neuer Fassung über den Tag der Wiedervereinigung hinaus Bestand und sah (beziehungsweise sieht noch immer) das Ende des Grundgesetzes bei Verabschiedung einer neuen Verfassung vor. Ungeachtet der Tatsache, dass damit eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit abgebildet wird, denn das Volk als Träger des pouvoir constituant, sprich als konstituierende Gewalt, kann sich jederzeit eine neue Verfassung geben, stellte der Fortbestand dieser Regelung gewissermaßen den Rettungsanker für diejenigen dar, die weiter für eine neue Verfassung eintraten.
So legte etwa die feministische Initiative "Frauen für eine neue Verfassung" Vorschläge für eine neue Konstitution vor, deren Bestreben vornehmlich die Verbesserung der Frauenrechte war. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) war es "eine politische Aufgabe ersten Ranges, soziale Rechte für eine gemeinsame deutsche Verfassung durchzusetzen". Mit entsprechenden Leitlinien und Bausteinen für eine gesamtdeutsche Verfassung versuchte der DGB, der Diskussion einen entsprechenden Impuls zu geben.
In exponierter Stellung befand sich hierbei das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", das am Vorabend des 17. Juni 1990 – dem damaligen Feiertag in Gedenken an den Volksaufstand von 1953 – in Berlin als erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative gegründet wurde, "um eine breite öffentliche Verfassungsdiskussion zu fördern, deren Ergebnisse in eine verfassunggebende Versammlung einmünden sollen", wie es im Gründungsaufruf hieß. Bei dessen Gründung gehörten dem Kuratorium knapp 200 Mitglieder an. Zu ihnen zählten zahlreiche Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur, wie Wolf Biermann, Marianne Birthler, Jürgen Habermas, Fritz Pleitgen, Bärbel Bohley, Otto Schily, Angelica Domröse und Helmut Simon. Nach Tine Stein, der damaligen Geschäftsführerin, ging der etwas umständliche Name des Kuratoriums auf Günter Grass zurück, der aus Ablehnung eines deutschen Nationalstaats eher eine Föderation der deutschen Länder befürwortete. Eine neue Verfassung für Deutschland sollte, wie im Gründungsaufruf anklang, westdeutsche Verfassungstraditionen und ostdeutsche Verfassungsvorstellungen verschmelzen. Dazu sollte auf das Grundgesetz zurückgegriffen werden und, da die DDR-Verfassung von 1968/74 freilich nicht als Ideenquelle in Frage kam, auf den Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches der DDR – als letztem "Schnappschuss" ostdeutscher Verfassungsvorstellungen –, der aufgrund der frühen Volkskammerwahl 1990 keine Berücksichtigung mehr gefunden hatte.
Einige Mitglieder dieser Arbeitsgruppe, wie Tatjana Böhm, Erich Fischer, Ulrich K. Preuß, Wolfgang Templin, Wolfgang Ullmann und Rosemarie Will, fanden sich auch im Arbeitsausschuss des Kuratoriums wieder. Weitere Ausschussmitglieder waren Gerald Häfner, Lea Rosh, Hans-Peter Schneider, Jürgen Seifert oder Tine Stein. Um eine neue Verfassung nicht in isolierten Zirkeln zu entwerfen, veranstaltete das Kuratorium neben zahlreichen kleineren Veranstaltungen drei große Kongresse in Weimar (September 1990), Potsdam (Dezember 1990) und Frankfurt am Main (Juni 1991), an denen insgesamt über 2000 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen und ihre Ideen einbrachten. Die aufgenommenen Anregungen wurden in einen Verfassungsentwurf eingearbeitet. Diesem im Juli 1991 der Öffentlichkeit präsentierten Entwurf des Kuratoriums sollte dennoch "nicht der Charakter des Letztverbindlichen anhaften". "Mit der Vorstellung des Verfassungsentwurfes soll die Verfassungsdiskussion nicht beendet, sondern erst richtig aufgenommen und in eine breite Öffentlichkeit getragen werden", lautete es in einer begleitenden Denkschrift. Im Kuratorium, das ostdeutsche Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler und westdeutsche Verfassungsreformerinnen und Verfassungsreformer vereinigte, erhoffte man sich von einer gemeinsamen Verfassunggebung Impulse für das Zusammenwachsen zu einer Zivilgesellschaft sowie eine politisch-konstitutionelle Standortbestimmung des "neuen" Deutschlands. Ulrich K. Preuß notierte: "Eine Gesellschaft, die sich eine Verfassung gegeben hat, ist politisch intelligenter, wacher und über sich selbst aufgeklärter."
Verfassungsentwurf des Kuratoriums
Implizit die Integrationsfunktion einer neuen Verfassung betonend, wurden in der Präambel des Kuratoriumsentwurfs sowohl die freiheitlich-demokratischen Erfahrungen im westlichen als auch die demokratische Revolution im östlichen Staat angeführt. Der Entwurf verstand sich nicht als Totalrevision, sondern vielmehr als "Aktualisierung und Fortentwicklung des Grundgesetzes". Etwa sollte der Gleichberechtigungsgrundsatz um eine "gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen" (Art. 3) inklusive einer Frauen-Männer-Parität bei der Vergabe öffentlicher Ämter (Art. 33) erweitert werden. Auch wurden Kinder, ihre Interessen, Rechte und Schutzbedürftigkeit mit einer besonderen Verfassungsstellung bedacht (Art. 6). Um Diktaturerfahrungen aus der DDR zu verarbeiten, aber auch um auf neue Überwachungsmöglichkeiten, Datenerhebungs- und -sammeltechniken sowie Kommunikationsmöglichkeiten zu reagieren, war ein Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre und ein das Brief- und Postgeheimnis komplettierendes Kommunikationsgeheimnis angedacht (Art. 10).
Das im Grundgesetz wenig konkretisierte Sozialstaatsprinzip sollte mit sozialen Grundrechten und Staatszielbestimmungen weiter ausgeformt werden: Bildung (Art. 7) und eine angemessene Wohnung (Art. 13a) als Menschenrechte. In Verbindung mit einem Recht auf Arbeit sollte der Staat zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beizutragen haben (Art. 12a). Soziale Sicherung "im Alter und bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Obdach- und Mittellosigkeit" war als Bürgerrecht vorgesehen (Art. 12b). Deutschland war definiert als "ein republikanischer, demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat" (Art. 20). Die ökologische Ausrichtung war eines der Wesensmerkmale des Verfassungsentwurfs. Neben einer Informations- und Dokumentationspflicht für alle die Umwelt berührenden staatlichen Entscheidungen (Art. 20a) wäre die Haushalts- und Ausgabenpolitik von Bund und Ländern dem Schutz der natürlichen Lebensbedingungen unterworfen gewesen (Art. 104a, 109, 115). Ferner sollte der Umweltminister eine Zustimmungspflicht – faktisch also ein Vetorecht – zu ökologisch bedeutsamen Vorhaben erhalten (Art. 65). Ein Bundestagsausschuss zur Technikfolgenabschätzung (Art. 45) war ebenso wie ein Ökologischer Rat von Bundestag und Bundesrat zur Unterstützung der Verwaltung und Gesetzgebung (Art. 53b) vorgesehen.
Stärkung der Legislative und der plebiszitären Demokratie
Generell wurde im Kuratoriumsentwurf die Legislative gegenüber der Exekutive gestärkt. So wurden das freie Mandat der Bundestagsabgeordneten hervorgehoben (Art. 38a) sowie die Rechte von Opposition und parlamentarischen Minderheiten im Hinblick auf die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Akteneinsicht (Art. 43b, 44) ausgebaut, um einer "Ohnmacht des Parlaments [als] Gefahr für die Demokratie" vorzubeugen. Neben der Zustimmung zu Gesetzen sollte auch die Zustimmung des Bundestages zu Verordnungen respektive deren Fortgeltung erforderlich sein, damit die Regierung nicht auf diesem Wege Verfahren am Parlament "vorbeiregeln" könne (Art. 80). Grundsätzlich wurde die Auskunfts- und Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag erweitert (Art. 43a).
Die anzustrebende Betitelung "Bund deutscher Länder" für das neue Staatsgebilde verriet einen weiteren Wesenskern des Kuratoriumsentwurfs: die Stärkung der Bundesländer bei Zurücknahme unitaristischer Entwicklungen in 40 Jahren Bundesrepublik. Die Praxis der konkurrierenden Gesetzgebung sollte durch klare Abgrenzungen zwischen Bund und Ländern minimiert und den Ländern mehr Gesetzgebungskompetenzen zugestanden werden (Art. 72–74a). Demnach wäre der Bundesrat als permanente zweite legislative Kammer bei allen Gesetzesvorhaben des Bundestages zustimmungspflichtig gewesen (Art. 77). Zur Förderung eines Europas der "starken Regionen" hätten auch die "außenpolitischen Kompetenzen" der Länder erweitert werden sollen (Art. 32).
Eine Machtbeschneidung der Exekutive war auch zugunsten des direkten Volkswillens vorgesehen. Nach Meinung der Mitglieder des Arbeitsausschusses "wird die Beschränkung auf den repräsentativen Parlamentarismus der gewachsenen demokratischen Kultur und dem zunehmenden Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach Teilhabe nicht mehr gerecht". Zur Stärkung der "Bürgerlegislative" sollte von jedem Bürger eine Volksinitiative mit mindestens 100.000 Unterstützern in den Bundestag eingebracht werden können. Bei Ablehnung durch diesen hätten die Initiatoren beim Bundestagspräsidium die Durchführung eines Volksbegehrens beantragen können. Bei einer Zustimmung von mindestens einer Million Stimmberechtigten innerhalb eines halben Jahres wäre dieses Gesetzesvorhaben, vorausgesetzt der Bundestag hätte es nach wie vor nicht umgesetzt, den Wahlberechtigten als Volksentscheid vorgelegt worden (Art. 82a). Dem Kuratorium ging es weniger um das Produzieren erfolgreicher Volksentscheide als um den Beitrag des Verfahrens, "das politische System für neue Inhalte und Politikformen zu öffnen" und "politisches Engagement [zu] fördern und damit die Auseinandersetzung und das Gespräch der Menschen über die sie selbst betreffenden gemeinsamen Angelegenheiten [zu] stärken". Nach Wolfgang Ullmann hätten überdies die Erfahrungen der jüngsten DDR-Geschichte gezeigt, "daß basisdemokratische Initiativen außerhalb des Parlamentes auch die gesetzgeberische Arbeit wirksam fördern können". Zudem sollten Bürgerbewegungen und -initiativen Verfassungsrang erhalten und wären – nicht zuletzt im Hinblick auf die mögliche Wählbarkeit bei Wahlen – mit größeren Rechten ausgestattet worden (Art. 9a, 21).
Kritik und Scheitern des Entwurfs
So ambitioniert der Kuratoriumsentwurf nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der Fülle an Reformanstößen war, so wenig wunder nimmt die Kritik daran. Sein hohes Maß an Verrechtlichung hätte dem politischen Raum einiges an Materie entzogen. Dies brachte dem Entwurf den Vorwurf ein, auf "Verfassungsperfektionismus" zielend zu wenig der öffentlichen Sphäre zu überlassen. Moniert wurde, dass die Autorinnen und Autoren zwar den politischen Prozess pluralisieren wollten, "daß sie aber zur gleichen Zeit das Grundgesetz mit lauter Forderungen aus einem politischen Spektrum für alle verbindlich aufladen und zementieren möchten". Für den Staatsrechtler Klaus Stern gehörte "[a]ll das, was an Veränderungswünschen auf den Tisch gelegt worden ist, soziale Grundrechte, plebiszitäre Komponenten, neue Staatsziele [...] überhaupt nicht in eine Verfassung". Staatszielbestimmungen könnten schließlich nicht über den Charakter von Absichtserklärungen hinausgehen und soziale Grundrechte zeitigten wiederum Eingriffe in Freiheitsrechte. Wolf-Dieter Narr, selbst Mitglied im Arbeitsausschuss des Kuratoriums, der sich nach eigenen Angaben mit seiner Minderheitenmeinung nicht hatte durchsetzen können, kritisierte, dass Staatsziele als nicht einklagbare Rechte den Rechtsanspruch der Grundrechte generell verwässern würden, und sie wirkten "außerdem potentiell undemokratisch, Bürokratie in jeder Hinsicht fördernd". So beklagte er auch die neu zu schaffenden Institutionen wie Ökologischer Rat und Technikfolgenausschuss: "Sachverständige und kein Ende statt Demokratisierung."
Seitens der Bundesregierung trafen die Bestrebungen zu einer neuen Verfassung auf viel grundsätzlicheres Ablehnen. Sie hielt es für schädlich, "unser bewährtes Grundgesetz in Frage zu stellen", denn jenes "dürfte auch für die 16 Millionen Landsleute in der DDR von Vorteil sein". Während SPD und Grüne dem Ansinnen des Kuratoriums wohlwollend gegenüberstanden beziehungsweise es unterstützten, schien es insbesondere der CDU/CSU "geradezu grotesk", dass, nachdem sich das Grundgesetz den sozialistischen Gesellschaftsformen als überlegen erwiesen habe, dieses geändert werden solle. Inmitten der Konfliktlinien der alten – und neuen – Bundesrepublik bewahrheitete sich, dass Verfassungsfragen ursprünglich Machtfragen sind, wie schon Ferdinand Lassalle konstatiert hatte. Und an der dominierenden Kraft im Land gelang auch das Kuratorium mit seinen Bestrebungen, die Wiedervereinigung bei den Menschen konstitutionell zu verankern, nicht vorbei. Am 14. Mai 1991 hatte CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble im Bundestag bekräftigt:
"Wir haben den Weg des bisherigen Art. 23 GG erfolgreich beschritten. Wir werden nicht zur Weggabelung zurückkehren und nachträglich die Option des alten Art. 146 GG ergreifen oder hinterherschalten. Eine Verfassungsneuschöpfung wird es mit uns nicht geben, auch keinen Umbau und keine Totalrevision."
Auf der erwähnten Bundestagssitzung wurde die Gründung einer 64-köpfigen Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) mit Mitgliedern zur Hälfte aus Bundestag und Bundesrat beschlossen, die, wie es der Einigungsvertrag (Art. 5) vorsah, notwendige Änderungs- und Ergänzungsarbeiten am Grundgesetz vornehmen sollte. Die Verfassungsdiskussion wurde in eine Reformdebatte kanalisiert. Nach einigem Hin und Her saß mit dem Bündnis 90/Die Grünen-Abgeordneten Wolfgang Ullmann zumindest ein Vertreter der DDR-Bürgerbewegung und des Kuratoriums in der GVK, die am 16. Januar 1992 zusammentrat. Ullmann, für den die Verfassungsfrage "[b]ei weitem die wichtigste aller Fragen der deutschen Vereinigung war", verließ jedoch die Kommission 16 Monate später. Er zeigte sich enttäuscht über die seiner Meinung nach wenig konstruktive Ausrichtung der GVK, die kaum den Austausch suchte mit der Bevölkerung, welche sich immerhin mit 800.000 Eingaben beteiligte. Notwendige Zweidrittelmehrheiten bei gleichzeitiger Dominanz und Parität von SPD- und CDU/CSU-Mitgliedern in der Kommission machten große Verfassungsreformen, die man sich im Kuratorium erhoffte, unwahrscheinlich. Zwar wurden mit der Förderung der geschlechtlichen Gleichberechtigung (Art. 3) und dem Schutz der Umwelt als Staatsaufträge (Art. 20a) Anliegen der Bürgerbewegung aufgegriffen. Jedoch blieb die zaghafte Entflechtung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern (Art. 72, 74f, 93) hinter den Erwartungen des Kuratoriums zurück, und plebiszitäre Elemente wie soziale Staatsziele suchte man vergebens. Als verfassungsrechtliche Grundlage für die Ratifikation des Vertrags über die Europäische Union wurde die Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten im neu (wieder) eingefügten Artikel 23 festgeschrieben. Die wichtigste Grundgesetzänderung betraf also die europäische und nicht die deutsch-deutsche Integration.
Inmitten der Umsetzung der GVK-Empfehlungen leistete übrigens die PDS im Januar 1994 einen verspäteten Beitrag zur Verfassungsdebatte, indem sie einen eigenen Entwurf vorlegte. Dieser sollte im Wesentlichen der Profilierung als linke und als ostdeutsche Regionalpartei dienen und orientierte sich inhaltlich in großen Teilen am Kuratoriumsentwurf – was insofern einer gewissen Ironie nicht entbehrt, als ausgerechnet die SED-Nachfolgepartei Ideen der Bürgerbewegung verfassungspolitisch aufgriff.
Schlussbemerkungen
Eine andere Form der Wiedervereinigung als durch den zügig realisierbaren Beitritt der DDR zur Bundesrepublik scheint in der Rückschau eher unrealistisch. Schließlich drängte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung auf eine schnelle Einheit und das Momentum der außenpolitisch günstigen Situation sollte nicht ungenutzt verstreichen. Dass es aber nicht zu einer Vereinigung unter einem gestreckten Artikel 23 mit einer nachgeschalteten Verfassungsverabschiedung kam, lag zum einen am Unwillen der politischen Entscheidungsträger. Zum anderen gelang es den Befürwortern von Artikel 146 nicht, entsprechende gesellschaftliche Mobilisierungspotenziale zu erschließen. Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder konnte mit einem eigenen Verfassungsentwurf zwar Publizität entfalten und ein gewisses Medienecho hervorrufen. Letztlich gelang es ihm aber nicht, die breite Bevölkerung von seinem Ansinnen zu überzeugen. Zwischen westdeutschem "Zurück zur Normalität" und ostdeutschem beginnenden "Vereinigungskater" wurde die sicherheitsstiftende Funktion des Grundgesetzes einer möglicherweise identitätsstiftenden Funktion einer neuen gemeinsamen Verfassung vorgezogen.
Man mag auch heute noch den Kuratoriumsentwurf angesichts der Vielzahl an aufgenommenen Themen und Reformanstößen als "knallbunte Wundertüte" charakterisieren. Es ist dennoch zumindest einen Hinweis wert, dass dessen sämtliche Kernthemen, wie Gleichberechtigung von Frauen und entsprechende Quotierungsregelungen, die Rolle von Kindern in einer älter werdenden Gesellschaft, Datenschutz, Umweltschutz und Technikfolgen, Föderalismusreform und direkte Demokratie, wieder oder noch immer politisch diskutiert werden.
Zitierweise: Christopher Banditt, Das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung, in: Deutschland Archiv, 16.10.2014, Link: www.bpb.de/193078
Christopher Banditt, geb. 1981; studierte an der Universität Potsdam Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Volkswirtschaftslehre. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Qualitätsentwicklung der Universität Potsdam und assoziierter Doktorand am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Transformationsgeschichte Ostdeutschlands.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.