Gründung des Kuratoriums "Unteilbares Deutschland"
Es war vor 60 Jahren, am 14. Juni 1954 in Bad Neuenahr, südlich von Bonn, da trafen sich etwa 130 Honoratioren, um unter dem Namen "Unteilbares Deutschland" das Kuratorium einer "Volksbewegung für die Wiedervereinigung" zu gründen. Eingeladen hatte der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser (CDU, 1888-1961), und wenngleich etwa Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss fehlten, liest sich die Liste der Gründungsmitglieder wie ein "Who is Who" der jungen Bundesrepublik Deutschland. Sie umfasste Persönlichkeiten aus allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Die im Bundestag vertretenen Parteien waren mit Prominenz aus der ersten Reihe dabei: die CDU/CSU unter anderem mit ihrem Fraktionsvorsitzenden Heinrich von Brentano und dem Bundesminister für besondere Aufgaben Franz Josef Strauß, die SPD mit ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer und Herbert Wehner, dem Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen. Die FDP war durch ihren Vorsitzenden Thomas Dehler vertreten. Der Name "Unteilbares Deutschland" ging auf einen Vorschlag von Bundespräsident Theodor Heuss zurück. Am 18. Juli 1954 wurde im Charlottenburger Schloss zu Berlin der frühere langjährige Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD, 1875-1967) zum Präsidenten der Organisation gewählt.
Vorbilder und Vorläufer
Die Gründung des Kuratoriums 1954 hatte eine längere Vorgeschichte und auch organisatorische Vorläufer. Schon kurz nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR gab es Ansätze; dazu zählte etwa die "Gesellschaft für die Wiedervereinigung Deutschlands", welche 1950 von Angehörigen der CDU und FDP gegründet wurde und deren Vorsitzender Andreas Hermes war, der ehemalige Vorsitzende der Ostzonen-CDU. Die Resonanz blieb jedoch schwach. Eine im Frühjahr und Sommer 1950 im Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen erörterte "Gesamtdeutsche Aktion" kam ebenfalls kaum über ehrgeizige Planungen hinaus. Ziel dieser Organisationsansätze war es jeweils, den Willen der bundesdeutschen Bevölkerung zur deutschen Einheit zu mobilisieren, ihm sichtbaren und demonstrativen Ausdruck zu geben, um eine auf die Wiedervereinigung Deutschlands ausgerichtete Politik der Bundesrepublik zu unterstützen.
Erfolgsfaktoren und Frontstellungen
Im Gegensatz zu allen anderen Vorhaben glückte die Gründung von 1954, und ihr war – bis zur Auflösung 1992 nach der deutschen Einheit – dauerhafter organisatorischer Bestand beschieden. Zwei Faktoren sind ausschlaggebend dafür:
Erstens: Das Kuratorium Unteilbares Deutschland (KUD) war ein Reflex auf die große Enttäuschung, welche das Scheitern der Berliner Konferenz von 1954 in Bezug auf die deutsche Frage ausgelöst hatte. Mit diesem Treffen der Außenminister der vier Siegermächte, welches vom 25. Januar bis zum 18. Februar stattfand, hatte nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch der "gesamtdeutsch" orientierte CDU-Kreis um Bundesminister Jakob Kaiser große Hoffnungen verbunden. Zahlreiche Spitzenpolitiker waren nach Berlin gekommen, einige von ihnen mit der Erwartung, die deutsche Frage werde auf der Konferenz gelöst werden.
Zweitens: Die Trägerschaft des Kuratoriums Unteilbares Deutschland beschränkte sich nicht auf Personen aus dem "bürgerlichen" Lager. Diesmal – und das war ein Novum in der deutschen Geschichte – war die Sozialdemokratie von Anfang an gleichberechtigt dabei. Dies geht in erster Linie auf Herbert Wehner zurück. Der in Dresden geborene Vorsitzende des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen pflegte ein enges, nahezu freundschaftliches Verhältnis zu Kaiser. Am Rande der Berliner Konferenz von 1954 hatte er sich mehrfach mit dessen deutschlandpolitischem Berater Wilhelm Wolfgang Schütz (1911-2002) getroffen. Schütz jedenfalls war im Gespräch mit mir am 19. April 1995 überzeugt: "Die Gründer des Kuratoriums sind Herbert Wehner und ich gewesen. Alles andere sind Märchen."
Die Zielstellung der Gründung, darin waren sich Schütz und Wehner einig, war, "durch die Äußerung des deutschen Volkes" die Unterstützung "vor allem der Amerikaner" für die Forderung nach der deutschen Einheit zu erzwingen.
Ausgesprochen wurde es nicht, aber diese Klage galt nicht nur der Bevölkerung, sondern auch dem Adenauer-Lager in CDU/CSU und Bundesregierung. Und Konrad Adenauer, für den das Primat Westbindung vor Wiedervereinigung galt, betrachtete die Aktivitäten des Kuratoriums seinerseits von Anfang an mit Misstrauen. Die Unterstützung seitens der CDU/CSU blieb jedenfalls auf den Kreis um Kaiser beschränkt. Und, so erinnerte sich Schütz, "der Widerstand von Ade-nauer und seinen Leuten war sofort ziemlich vehement."
Der Versuch, das Volk zu bewegen
Der Namenszusatz "Volksbewegung für die Wiedervereinigung" geriet nach der Gründung recht schnell in Vergessenheit. Das Kuratorium Unteilbares Deutschland war und blieb ein Zusammenschluss von Honoratioren, sowohl auf Bundesebene als auch vor Ort, in den Ländern, Kreisen, Städten und Gemeinden, wo sich Hunderte von Landes-, Kreis- und Ortskuratorien bildeten. Diese allerdings bemühten sich – mindestens bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre – darum, die Bevölkerung für das Wiedervereinigungsziel in Bewegung zu setzen.
Dazu griff das Kuratorium auf alte, schon im 19. Jahrhundert begründete Traditionen des Ausdrucks von Nationalismus zurück. Schon damals hatte das Bürgertum den Wunsch nach einer einheitlichen deutschen Nation in öffentlichen Festen und Feierlichkeiten zum Ausdruck gebracht.
Feierlichkeiten zum 17. Juni
Unmittelbar nach dem Aufstand von 1953 wurde der 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" zum nationalen Feiertag der Bundesrepublik erhoben. Der Name des Tages stammt von Herbert Wehner; in der parlamentarischen Beratung über die Einführung des Feiertags fand der Ausschussvorsitzende in Bundesminister Jakob Kaiser einen Verbündeten gegen die Skepsis aus dem Adenauer-Lager.
Plakat des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum "Tag der deutschen Einheit" am 17. Juni, undatiert (© Bundesarchiv, Plak 005-045-002)
Plakat des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum "Tag der deutschen Einheit" am 17. Juni, undatiert (© Bundesarchiv, Plak 005-045-002)
Zu den Aktivitäten zum 17. Juni zählten zwischen 1959/60 und 1967 auch die "Fahnenstaffeln der deutschen Jugend zur Zonengrenze". Sie starteten bereits mehrere Wochen vor dem Feiertag. Jeweils 25 Kinder beziehungsweise Jugendliche trugen dabei ein Spruchband mit der Aufschrift "Unteilbares Deutschland", eine Pergamentrolle sowie die Fahnen aller deutschen Länder unter Einschluss der östlich der Oder-Neiße-Grenze gelegenen ehemals preußischen Provinzen von einem Ort zum nächsten. Dort fand dann eine – teils feierliche – Übergabekundgebung statt, auf welcher sich die örtlichen Honoratioren mit Geleitworten und Sinnsprüchen zur deutschen Einheit in der Pergamentrolle verewigten. Zehntausende Aktive zählten die Veranstalter Jahr für Jahr. Die Zuschauerzahlen sollen sich jeweils auf etwa eine halbe Million belaufen haben.
Ergänzt wurde der Feiertagskanon des Kuratoriums Unteilbares Deutschland durch weitere Aktionen. Im Vorfeld erschien jedes Jahr ein Merkblatt zur Organisation. Schon am Vorabend des 17. Juni entzündeten die Ortskuratorien auf markanten Erhebungen, besonders jedoch an der innerdeutschen Grenze sogenannte "Mahnfeuer". Es fanden Fackelmärsche statt. Höhepunkt war der Feiertag selbst. Vereine und Trachtengruppen wurden mobilisiert, Gesangsvereine und Musikkapellen spielten in zahlreichen Orten zur Kundgebung auf (das Bundeskuratorium berichtete meist von "über 3.000 Veranstaltungen"), Gedichte, Filme oder Theaterstücke mit thematischem Bezug wurden rezitiert beziehungsweise aufgeführt. Auf den Kundgebungen sprachen häufig Redner aus West-Berlin, deren Einsatz das Kuratorium organisierte.
Zum Abschluss fand alljährlich eine zentrale Kundgebung in West-Berlin statt, welche auch über Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde. Eine eigens eingeflogene Abordnung der Fahnenstafette übergab dem Regierenden Bürgermeister (zwischen 1958 und 1966 also Willy Brandt) eine Pergamentrolle, und neben Brandt hielt ein prominenter Politiker aus der Bundesrepublik die Kundgebungsrede vor dem Schöneberger Rathaus. Dort fanden sich am frühen Abend des 17. Juni zu Beginn der 1960er Jahre meist über 100.000 Menschen ein.
Weitere Manifestationen des Wiedervereinigungswillens
Sammelbüchse des Kuratoriums Unteilbares Deutschland (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Michael Jensch, Axel Thünker)
Sammelbüchse des Kuratoriums Unteilbares Deutschland (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Michael Jensch, Axel Thünker)
Neben dem 17. Juni gab es eine ganze Reihe von weiteren öffentlichen Manifestationen, welche das Kuratorium Unteilbares Deutschland unterstützte beziehungsweise anstrengte. In der Frühphase sind eine Schillerfeier im Berliner Sportpalast 1955 zu nennen oder das Sammeln eines "Wiedervereinigungspfennigs", also von Kleinspenden für karitative Zwecke durch westdeutsche Schüler. Die Aktion "Macht das Tor auf!" startete im Herbst 1958 zufällig gleichzeitig mit der Verkündung des Chruschtschow-Ultimatums, welches die zweite Berlinkrise (1958-1963) einleitete. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit und aufgrund der massiven Unterstützung der Springer-Presse gelang dem Kuratorium die Initialzündung, mit seinen Aktionen sowohl breite, überparteiliche Anerkennung als auch Massenresonanz zu finden. Der Verkauf von Anstecknadeln mit dem Symbol des Brandenburger Tors wurde fortan alljährlich im Vorfeld des Tages der deutschen Einheit durchgeführt, also in den Fundus der Aktionen zum 17. Juni übernommen. Bis Mitte der 1960er Jahre wurden insgesamt über 33 Millionen Abzeichen verkauft.
Dafür, dass es dem Kuratorium gelang, die Organisation der jährlichen Feierlichkeiten zum 17. Juni zu dominieren, wird eine "konzertierte Aktion" verantwortlich gemacht, welche zu einem "Burgfrieden von 1958" geführt habe.
Als Zeichen ihrer Verbundenheit mit den Menschen in der DDR stellt eine junge West-Berliner Familie am Weihnachtsabend 1968 Kerzen ins Fenster. Zu dieser Aktion aufgerufen hatte das Kuratorium Unteilbares Deutschland (© dpa)
Als Zeichen ihrer Verbundenheit mit den Menschen in der DDR stellt eine junge West-Berliner Familie am Weihnachtsabend 1968 Kerzen ins Fenster. Zu dieser Aktion aufgerufen hatte das Kuratorium Unteilbares Deutschland (© dpa)
Auch zum Weihnachtsfest wurde das Kuratorium aktiv. Schon kurz nach der Gründung rief Präsident Paul Löbe 1954 die westdeutsche Bevölkerung dazu auf, "Heimatlose aus Mittel- oder Ostdeutschland" zum Essen oder zu kulturellen Veranstaltungen einzuladen, ihnen Geschenke zu machen oder auch Aufführungen von Chören und Musikvereinigungen in Flüchtlingslagern zu organisieren. Ab 1956 rief das Kuratorium im Rahmen der Aktion "Jugend beschenkt Jugend" dazu auf, Weihnachtspakete an Adressen "in der Zone" zu schicken, welche beim Bundeskuratorium gesammelt werden sollten.
Weiterhin zu nennen sind die 1959 und 1965 veranstalteten "Deutschlandwettbewerbe der Jugend", welche in Zusammenarbeit mit den Schulen organisiert wurden. Gesammelt, ausgestellt und prämiert wurden künstlerische Darstellungen mit Bezug auf die deutsch-deutsche Thematik von Schülern aller Altersgruppen. Aus rund 80.000 Arbeiten wurden jeweils etwa hundert in farbigen Bildbänden veröffentlicht.
Ohne Unterstützung durch die Bundesebene des Kuratoriums startete das Landeskuratorium Unteilbares Deutschland Westfalen-Lippe eine Aktion, welche eigentlich auf eine Initiative der Landsmannschaft Pommern zurückging: Innerorts sowie an Ortsaus- und -eingängen wurden schwarz-weiß-rote Schilder aus Blech mit der Parole "3geteilt? – niemals!" aufgestellt, welche eine Karte Deutschlands in den Grenzen von 1937 abbildeten. Die Anbringung dieser Schilder war in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen zwischen 1961 und 1963 sogar behördlich veranlasst worden. In diesen Bundesländern lebten sehr viele Vertriebene. Doch diese Aktion stieß auf Kritik, beispielsweise seitens des West-Berliner Senats, und ab 1964 machte Wilhelm Wolfgang Schütz für das Bundeskuratorium deutlich, dass es "für die fraglichen Plakate keine Verantwortung" übernehme. Etwa um die gleiche Zeit wurde der Vertriebenenfunktionär Herbert Hupka als Pressereferent des Kuratoriums Unteilbares Deutschland entlassen. Hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der vergleichsweise starken Präsenz von Vertriebenenvertretern in den lokalen und regionalen Gliederungen des Kuratoriums und ihrer schwachen Position auf Bundesebene. Die verlorenen Ostgebiete blieben bis Ende der 1960er Jahre Teil der offiziellen Landkarte; gegenüber dem Bemühen um Ost-Berlin und die DDR gerieten sie jedoch – im Kuratorium ebenso wie in der Regierungspolitik – zunehmend ins Abseits.
Kritik an den öffentlichkeitswirksamen Aktionen des Kuratoriums
Plakat zu einer Weihnachtsaktion des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, undatiert (© Bundesarchiv, Plak 005-045-032)
Plakat zu einer Weihnachtsaktion des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, undatiert (© Bundesarchiv, Plak 005-045-032)
Allen Anstrengungen zum Trotz stellte sich nie eine allgemeine Zufriedenheit mit den Aktivitäten des Kuratoriums ein, vor allem mit den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit. Die Kommentatoren der Presse, Politiker und viele der Aktiven bemängelten die fehlende Beteiligung an den Veranstaltungen. Trotz der beachtlichen Teilnehmerzahlen
Ab Mitte der 1960er Jahre stagnierte die Beteiligung an den Aktionen, um dann kontinuierlich zurückzugehen. Im Wechselspiel von meteorologischen Zufällen (35°C am 17. Juni 1966), der einsetzenden Jugendrevolte und verstärkten Diskussionen um eine Abschaffung des Feiertages wurden die Aktionen zerrieben. Sie wurden politisch zunehmend überflüssig, denn die Demonstration gegen die DDR, für die der Feiertag allein schon aufgrund seines Anlasses ein Ärgernis war, passte nicht in den Rahmen der Entspannungspolitik. So wurden die Aktionen gegen Ende der 1960er Jahre weitgehend aufgegeben.
Obwohl es sich dabei um die seinerzeit größten Massenkundgebungen in der Bundesrepublik handelte: Die Geschichte des Versuches des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, mit seinem nationalen Demonstrationstag 17. Juni und anderen Aktionen eine "Volksbewegung für die Wiedervereinigung" zustande zu bringen, ist zunächst die Geschichte eines Scheiterns.
Wilhelm Wolfgang Schütz – Jugend und Exil
Anders sieht es dagegen mit dem zweiten Aspekt der deutschlandpolitischen Doppelstrategie des Kuratoriums aus, nämlich mit dem Versuch, nicht nur die deutsche Bevölkerung, sondern auch die offizielle Deutschlandpolitik der Bundesrepublik in Bewegung zu bringen. Neben den vielen politischen Entscheidungsträgern, welche auf der Bundesebene im Kuratorium mitwirkten, ist hierfür vor allem Wilhelm Wolfgang Schütz verantwortlich, der Geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums von 1957 bis 1972.
Am 14. Oktober 1911 wurde Schütz in Bamberg geboren. Als junger Mann trat er vom Judentum zum evangelischen Christentum über. Er promovierte 1934 in Heidelberg bei Arnold Bergsträsser als Staatswissenschaftler.
In England lernte Wilhelm Wolfgang Schütz viele prominente Emigranten kennen, darunter auch die Schriftsteller Stefan Zweig und Arthur Koestler sowie den späteren SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer. 1946 traf er bei einem Besuch in Berlin zum ersten Mal Jakob Kaiser. Auch zu Konrad Adenauer kam er in Kontakt. Er versuchte, den Bundeskanzler zu Gesprächen mit sowjetischen Diplomaten zu bewegen, scheiterte damit aber, weil, so Schütz später, Adenauer sich davor fürchtete, damit das Vertrauen der Westmächte zu enttäuschen.
Vordenker für Jakob Kaiser, Gegner Adenauers
Jakob Kaiser sorgte für die Rückkehr von Schütz nach Deutschland. Im Herbst 1951 stellte er ihn als seinen außenpolitischen Berater an. Zwischen 1951 und 1954 ver-fasste Schütz für den Minister eine Vielzahl von Berichten und Memoranden zur Deutschlandpolitik.
Die Geschichtsschreibung hat den großen Einfluss von Schütz auf die politischen Positionen des Adenauer-Widerparts in der CDU ausgeblendet. Ein besonders wichtiges Beispiel: Am 10. März 1952 bot Stalin in einer Note die Einheit Deutschlands als Preis für die militärische Neutralisierung an. Zwei Tage später hielt Kaiser eine Ansprache im Rundfunk, ein "Meisterstück abgewogenen, besonnenen politischen Reagierens."
Adenauer wurde nun auf Schütz aufmerksam. Er beschwerte sich bei Kaiser darüber, dass "die publizistischen Äußerungen des Herrn Dr. Schütz mit den po-litischen Anschauungen der Bundesregierung nicht übereinstimmen." Durch seine Beschäftigung beim Ministerium sei die Geheimhaltung gefährdet. Damit erreichte Adenauer, dass Schütz seinen Arbeitsraum im Ministerium räumen musste – bis auf weiteres blieb er aber auf der Gehaltsliste der Behörde.
Das Volk als Träger der Außenpolitik
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb Schütz zudem eine ganze Reihe von Büchern zur Außen- und Deutschlandpolitik. 1951 veröffentlichte er "Organische Außenpolitik". Darin lehnte er eine "absolutistische These, sei es für, sei es wider die Neutralität", ab.
1952 erschien "Deutschland am Rande zweier Welten", eine programmatische Schrift. Hier wendete Schütz seine vorjährigen Theorien auf die aktuelle Situation in Mitteleuropa an. Deutschland sei bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zum Untergang verurteilt. Das spreche gegen die amerikanische Politik der Stärke, welche einen Krieg als Möglichkeit zur Lösung des Ost-West-Konflikts einkalkuliere.
Nach der Gründung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland 1954 wurde, wohl um Adenauer nicht zu provozieren, zunächst nach einem anderen Geschäftsführer für das Kuratorium gesucht. Doch alle Kandidaturen zerschlugen sich. Am Ende lag die Leitung des Kuratoriums de facto doch in den Händen von Schütz. Der offizielle Titel "Geschäftsführender Vorsitzender" folgte 1957.
"Neue Ostpolitik" und "Politik der kleinen Schritte"
Im Jahr 1958 kam "Das Gesetz des Handelns" auf den Markt, ein weiteres Buch zur deutschen Frage. Es sei "brennende Aufgabe deutscher Politik und deutschen Verhaltens", so Schütz in dem Buch, "das Los der Bevölkerung in Mitteldeutschland zu erleichtern, die Teile Deutschlands menschlich, geistig, technisch zu verklammern, die Bedrückung zu mildern."
Dass dies bis heute allenthalben übersehen worden ist, erstaunt, weil Wilhelm Wolfgang Schütz ständig im Dialog mit den politisch Handelnden stand. In den Akten des Kuratoriums im Bundesarchiv finden sich zahlreiche Gesprächsnotizen. Zu den Gesprächspartnern gehörte während der zweiten Berlinkrise auch der zuweilen ratlose Bundeskanzler Adenauer. Einmal, 1962, notierte Schütz resi-gnierend: "Es bleibt nach diesem Gespräch der deprimierende Eindruck, dass grosse und weitreichende Entschlüsse bei aller Schnelligkeit der Auffassung und des Urteils, die dem alten Herrn nach wie vor zu eigen sind, doch nicht mehr erwartet werden kann [sic]."
Gerade zur Zeit des Mauerbaus kam Schütz mit seinem Drängen auf aktivere Politik bei Adenauer nicht durch. Die Zeit für die von Schütz angemahnte "Reform der Deutschlandpolitik" – so der Titel seines Buches von 1965
Abschied vom Konsens: Zwei Staaten – eine Nation
Ein weiterer Meilenstein war in dieser Zeit Schütz‘ Denkschrift "Was ist Deutschland?" vom Herbst 1967. Hierin schrieb er, die Bundesrepublik und die DDR seien Gliedstaaten auf dem Gebiet des geteilten Deutschland. Dieses bestehe als Nation fort. Sowohl die Zweistaatlichkeit als auch die Einheit der Nation seien Realitäten. Beide gelte es anzuerkennen, so dass die deutschen Staaten gleichberechtigte Beziehungen zueinander aufnehmen könnten. Denkschrift und Debatte fanden weite Verbreitung als Taschenbuch.
Einige Politiker der Union warfen Schütz nun vor, die überparteiliche Plattform des Kuratoriums verlassen zu haben. Auf der Berliner Jahrestagung im Dezember 1967 kam es zu hitzigen Diskussionen. Darin zeichneten sich die deutschlandpolitischen Streitlinien der 1970er Jahre bereits ab. Das Jahr 1967 war der Wendepunkt sowohl in der Geschichte des Kuratoriums Unteilbares Deutschland als auch in Schütz‘ politischer Laufbahn. Nun gab es kein Zurück mehr zu einer Beschränkung auf überparteiliche Bekundungen des Wiedervereinigungswillens.
Deutlich zeigte sich dies viereinhalb Jahre später, als am 24. April 1972 die CDU/CSU-Opposition ihr Misstrauensvotum gegen Willy Brandt einbrachte. Schütz nahm dies zum Anlass eines Schreibens an den Bundeskanzler, in dem er sich hinter dessen Ostpolitik stellte. Am folgenden Tag erklärte er seinen Beitritt zur SPD, verband diesen mit seinem Rücktritt als Geschäftsführender Vorsitzender des Kuratoriums und begründete diesen demonstrativen Schritt ostpolitisch: "Die Selbstbestimmung der Deutschen und eine aus freier Entscheidung hervorgehende Einigung in Deutschland und Europa hängen von allmählicher Verringerung von Gegensätzen und von schrittweiser Verständigung ab. Hier darf kein Risiko eingegangen werden."
Politischer Brückenbauer
Wilhelm Wolfgang Schütz, 1995 (© Christoph Meyer)
Wilhelm Wolfgang Schütz, 1995 (© Christoph Meyer)
Nach Parteibeitritt und Rücktritt aus dem Kuratorium siedelte Schütz mit seiner zweiten Frau Sigrid in die Schweiz um und kehrte in seinen alten Beruf als Journalist zurück. Er schrieb eine Reihe von Dramen mit politischen Bezügen wie "Requiem für Clausewitz", "Anleitung für einen Reichsverweser", "Galopp rechts" und "Vom freien Leben träumt Jan Hus".
Am 4. Mai 1972 hatte Schütz ein mehrseitiges Memorandum an Herbert Wehner geschickt. Darin hieß es unter anderem: "Konrad Adenauer, dessen kluge Politik im Westen zur Aussöhnung führte, verließ sich im Osten auf Abwarten. (…) Die Deutschen haben im vergangenen Jahrhundert mit Abwarten entscheidende Möglichkeiten der Sicherung und der Zukunft versäumt. Eingebracht hat solche Politik, die sich an Träumen orientiert, nur Zusammenbrüche und unsagbares Leid."
Das letzte Beispiel unterstreicht: Schütz bildete mit seinem Handeln ebenso wie mit seinen politischen Veröffentlichungen eine Brücke zwischen der Politik Jakob Kaisers in den 1940er und 1950er Jahren und der sozial-liberalen Ost- und Deutschlandpolitik. Schütz, bis ins hohe Alter hinein politisch interessiert aber weitgehend vergessen, starb am 15. April 2002 im Alter von 90 Jahren. Anhand seiner Biografie wird deutlich, dass die Ostpolitik nicht einfach nur eine Ergänzung zu Adenauers Politik der Westbindung darstellte, sondern auch einen deutlichen Bruch mit der damit verbundenen Spaltungstendenz bedeutete.
Fazit
Nach der allmählichen Einstellung der öffentlichkeitswirksamen Aktionen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und endgültig mit Schütz‘ Rückzug von der Spitze im Jahr 1972 verlor das Kuratoriums Unteilbares Deutschland zusehends an Bedeutung. Im Zeichen der Neuen Ostpolitik verlagerte die Organisation ihren Schwerpunkt auf wissenschaftliche Arbeit und politische Bildung. Die großen Parteien waren in der Deutschlandpolitik zerstritten; von Zeit zu Zeit trafen sie sich in den Gremien des Kuratoriums, um deutschlandpolitische Formelkompromisse zu finden. Die Organisation geriet an den Rand des Geschehens. Als CDU-nahe Kreise 1983 nach dem Regierungsantritt von Helmut Kohl das öffentliche Gedenken an den 17. Juni wiederbeleben wollten, spielten die "Überreste des KUD" eine untergeordnete Rolle.
Sowohl die stetigen Manifestationen des Wiedervereinigungswillens in den 1950er und 1960er Jahren als auch die Bildungs- und Forschungsarbeit der 1970er und 1980er Jahre leisteten einen Beitrag zum Erhalt eines gesamtdeutschen Nationalbewusstseins. Daran konnte 1989/90 ebenso angeknüpft werden wie die Früchte der Ostpolitik geerntet wurden. Die Ostpolitik hatte ihre Wurzeln eben nicht nur bei den Sozialliberalen und in Berlin, sondern sie reichten nicht zuletzt über Wilhelm Wolfgang Schütz bis weit in das überparteiliche Adenauer-kritische Lager im Bonn der späten 1940er und der 1950er Jahre zurück. Die Neue Ostpolitik wurde entscheidend motiviert durch den Willen zur deutschen Einheit. Dieser Wille stand ebenso hinter den Massenkundgebungen des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Ein scheinbarer Widerspruch, der in der Person Schütz seine Auflösung findet.
Zitierweise: Christoph Meyer, Deutschland zusammenhalten. Wilhelm Wolfgang Schütz und sein "Unteilbares Deutschland", In: Deutschland Archiv, 25.7.2014, Link: www.bpb.de/188966