Als Repräsentantinnen und Repräsentanten der Bundesrepublik oder der Deutschen Demokratischen Republik war das am 9. November 1989 im Ausland eingesetzte diplomatische Personal den Reaktionen auf die sich überstürzenden Ereignisse in Berlin in ihren Residenzländern direkt ausgesetzt. Die globale mediale Vermittlung von Nachrichten über den Fall der Mauer und die damit einhergehende Verbreitung von Deutungsangeboten zur Zukunft der innen- und außenpolitischen Entwicklungen in Europa lösten in nahezu allen Regionen der Welt Anteilnahme aus. Dabei wirkten die Auslandsvertretungen als Anlaufstellen zur Information für die Regierungen der Gastländer, wirtschaftliche und kulturelle Kooperationspartner sowie als Kontaktstellen für die nationalen Medien. In autobiografischen Publikationen und Interviews haben ehemalige Diplomatinnen und Diplomaten ihre Erinnerungen an diese Zeit festgehalten. Diese Erinnerungstexte liefern Hinweise auf die inneren und äußeren Faktoren, welche die Wahrnehmung der deutschen Einheit in den jeweiligen Residenzländern beeinflusst haben.
Im Folgenden soll anhand ausgewählter Fallbeispiele ein erster nicht-repräsentativer Eindruck der weltweiten Resonanzen auf die deutsch-deutschen Entwicklungen der Jahre 1989 und 1990 vermittelt werden. Um empirisch abgesicherte und verallgemeinerbare Aussagen zu treffen, bedarf es in Zukunft noch intensiver Untersuchungen auf diesem bisher noch kaum bearbeiteten Forschungsfeld.
Die Nacht des 9./10. November 1989 als weltweites Medienereignis
Wie unterschiedlich die Wahrnehmung und Informationslage war, lässt sich an verschiedenen Beispielen verdeutlichen. Die Pressekonferenz von Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 und die Berichterstattung von den Berliner Grenzübergängen verfolgte der damalige Botschafter der DDR in Algerien, Gerhard Haida, in seiner Residenz im Fernsehen live auf RTL.
Diese Beispiele veranschaulichen, dass insbesondere Rundfunk und Fernsehen eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Nachricht vom Mauerfall spielten.
Allerdings wurden nicht nur Informationen, sondern auch gleichzeitig Interpretationen über Ursachen und mögliche Folgen des Mauerfalls durch die Medien transportiert. Häufig wurde der Fall der Berliner Mauer als ein historischer Vorgang gedeutet, dem, zumindest von westlichen Nachrichtenredaktionen, das Potenzial zugeschrieben wurde, "geschichtliche Veränderungen herbeizuführen und sinnbildend an der Entstehung von Geschichte mitzuwirken."
Hanns Joachim Friedrichs beispielsweise begann seine Moderation in den ARD-Tagesthemen am Abend des 9. November mit den Worten: "Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten […] Dieser neunte November ist ein historischer Tag."
Der globale Verbreitungsgrad, die mediale Interpretation sowie die Wahrnehmung des Mauerfalls als ein historisches und im Rahmen der Blockkonfrontation des Kalten Krieges potenziell jeden betreffendes Ereignis machten die am 9. November 1989 im Ausland stationierten deutschen Diplomatinnen und Diplomaten zu begehrten Gesprächspartnern.
DDR-Diplomatinnen und Diplomaten
Fernab vom Geschehen musste die DDR-Auslandsvertretung in Venezuela, wie der Botschafter Joachim Naumann berichtet, auf die Berichterstattung von Radio Berlin International (RBI), der Deutschen Welle (DW) und US-amerikanischen Fernsehsendern zurückgreifen, um als Ansprechpartner für die Vertreterinnen und Vertreter des Gastlandes und die nationalen Medien zur Verfügung stehen zu können.
In den Tagen nach dem 9. November 1989 erkundigten sich vor allem venezolanischen Regierungsstellen und Mitglieder der Nationalen Freundschaftsbewegung nach der Zukunft der bilateralen Beziehungen zwischen der DDR und Venezuela. In der breiten Öffentlichkeit, so Neumann, lösten die Nachrichten aus Europa jedoch kaum spürbare Reaktionen aus, zumal sich das Land zu dieser Zeit selbst in einem krisenhaften Prozess wirtschaftlicher Umgestaltung befand.
Die zu dieser Zeit in Madagaskar stationierte DDR-Botschafterin Elenora Schmid berichtet in ihren Erinnerungen über ähnliche Erfahrungen.
Der geografisch näher am Geschehen eingesetzte Joachim Mitdank, damals DDR-Botschafter in Großbritannien und Irland, berichtet in seinen autobiografischen Aufzeichnungen "Berlin zwischen Ost und West" von seinen Aufgaben als Begleiter britischer Delegationen, die infolge des Mauerfalls in die DDR reisten.
In den USA avancierte der DDR-Botschafter Gerhard Herder, aufgrund des dortigen medialen und gesellschaftlichen Interesses an den Entwicklungen in Mitteleuropa zu einem bevorzugten Ansprechpartner.
In seinem Eingangsstatement äußerte sich Herder zunächst zur Zukunft der DDR: "Zweifelsohne werden künftige Aktivitäten zur Stärkung unserer sozialistischen Gesellschaft ein Ergebnis der aktiven Mitbestimmung aller Bürger sein und in erster Line ihre Interessen widerspiegeln."
Die Erfahrungen von Elenora Schmid, Joachim Neumann und Gerhard Herder dokumentieren, dass große Teile der eingesetzten DDR-Diplomatinnen und Diplomaten in dieser schwierigen Situation auf sich allein gestellt waren und ohne politische Handlungsanweisungen agierten.
Bundesdeutsche Diplomatinnen und Diplomaten
Um die Botschafterinnen und Botschafter anzuleiten erging am 10. November 1989 durch das Bonner Auswärtige Amt an alle diplomatischen Vertretungen ein Runderlass in dem es hieß: "Der weitere Verlauf der Ereignisse liegt in der Hand der Deutschen in der DDR. Der Respekt vor ihrem Freiheitswillen gebietet es, daß wir nicht vorwegnehmen, was sie wollen, wie sie es wollen und wann sie es wollen."
Ähnlich wie Venezuela für die DDR gehörte Paraguay Ende der 1980er Jahre nicht zu den zentralen außenpolitischen Betätigungsfeldern der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen 1989 und 1993 amtierte dort als Botschafter der Bundesrepublik Dr. Heinz Schneppen. Am Abend des 9. November 1989 veranstaltete er ein dienstliches Abendessen in der Botschaft. Erst als ihm der spanische Botschafter während des Empfangs zum Fall der Berliner Mauer gratulierte, erfuhr er von den Ereignissen. Der tägliche Informationsfunk des Bundespresseamtes (BPA) war bereits am Mittag des 9. November 1989, also kurz vor der Pressekonferenz von Schabowski, gesendet worden, sodass Dr. Schneppen von den Neuigkeiten überrascht wurde.
Nähere Informationen erhielt er zunächst jedoch nicht, und auch das lokale Fernsehen zeigte kaum Nachrichten über die Vorgänge in Berlin. Auf der am folgenden Tag veranstalteten Pressekonferenz spekulierten paraguayische Medienvertreterinnen und Medienvertreter über eine etwaige Wiedervereinigung Deutschlands. Dr. Schneppen verneinte dies jedoch und erklärte, dass mit einer Wiedervereinigung zu seinen Lebzeiten vermutlich nicht zu rechnen sei.
In Paraguay selbst wurden die politischen Veränderungen in Europa zwar verfolgt, doch in der öffentlichen Berichterstattung spielten Fragen der deutsch-deutschen Teilung eine eher untergeordnete Rolle, zudem hatte die erst im Februar 1989 nach 35 Jahren durch einen Militärputsch entmachtete autoritäre Regierung von Alfredo Stroessner die DDR nie offiziell anerkannt. Die in Paraguay angesiedelten russlanddeutschen Bevölkerungsgruppen sowie die in konzentrierten Siedlungskomplexen lebenden Menschen mit deutscher Herkunft zeigten sich an Nachrichten aus Deutschland ebenfalls nicht besonders interessiert.
Anders stellte sich die Situation in Polen dar: Die im Sommer 1989 demokratisch neugewählte Regierung begrüßte – wenn auch zunächst zurückhaltend – die Reformbewegung in der DDR.
Aktive Einwirkung auf die öffentliche Meinung und machtpolitischen Eliten zählt der bundesrepublikanische Botschafter in Frankreich, Franz Pfeffer, rückwirkend zu seinen zentralen Aufgaben in dieser Zeit.
Von gemischten Reaktionen auf die deutsch-deutsche Annäherung infolge des Mauerfalls berichtet der damalige Generalkonsul der Bundesrepublik im US-amerikanischen Miami, Dietrich Granow: Die dort ansässige große Gemeinde jüdischer Amerikaner habe den Entwicklungen eher skeptisch gegenübergestanden. Auf zahlreichen Vorträgen und Diskussionsrunden in Synagogen und Gemeindezentren wurde er mit Befürchtungen vor einer Wiederbelebung nationalistischen Gedankenguts in Deutschland konfrontiert.
DDR-Diplomaten in sozialistischen Staaten und das Ende der antiimperialistischen Solidarität
In der Erwartung exklusiv von möglichen Protesten gegen die Regierung Fidel Castro berichten zu können, versammelten sich Ende des Jahres 1989 zahlreiche internationale Medienvertreter in den Hotels von Havanna, wie sich der damalige DDR-Botschafter Karlheinz Möbus erinnert.
In der geografisch ähnlich weit entfernten und politisch sowie wirtschaftlich ebenso eng mit der DDR verbundenen Mongolei wurde DDR-Botschafter Lothar Zöllner nach eigenem Bekunden und im Gegensatz zu den Erinnerungen seiner Botschafterkollegen vom MfAA "akribisch über die Vorgänge in der DDR" informiert.
Der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vorgenommene Wechsel in der DDR-Außenpolitik von einer vornehmlich auf Subventionierung und antiimperialistischer Solidarität ausgerichteten Strategie hin zu einer mehr an ökonomischen Eigeninteressen ausgerichteten Entwicklungspolitik machte sich für wirtschaftlich schwache oder in einer Krise befindliche Staaten besonders bemerkbar.
Für die trotz des außenpolitischen Strategiewechsels der DDR noch finanziell und organisatorisch unterstützte politische Bewegung South-West Africa People`s Organisation (SWAPO) in Namibia, war die Entwicklungen ein "Schock", wie sich der damalige Leiter der Diplomatische Beobachtermission genannten DDR-Vertretung, Hans-Georg Schleicher, erinnert.
Fazit und Ausblick
Die angeführte biografische Perspektive ermöglicht zwar einen begrenzten, aber dennoch aussagekräftigen Einblick in die globale Rezeption der deutschen Einheit. In den Erinnerungen deutscher Diplomatinnen und Diplomaten spiegeln sich neben dem selbst Erlebten immer auch die spezifischen innenpolitischen Situationen in den Residenzländern wider. Der jeweilige Verflechtungsgrad der gastgebenden Nation mit der DDR bzw. der Bundesrepublik wirkte sich entscheidend auf die jeweilige Intensität der Reaktionen auf die deutsche Einheit aus.
Angesichts des zunehmenden Verlustes von politischen und wirtschaftlichen Handlungsspielräumen der DDR-Außenpolitik und aufgrund der ungewissen Zukunft sind die von den DDR-Diplomatinnen und Diplomaten geschilderten Reaktionen in ihren Residenzländern häufig geprägt von einer gewissen gespannten Erwartung. Fragen nach der Fortsetzung von universitären und handwerklichen Ausbildungsprogrammen oder der Unterstützung politischer Bewegungen gehörten zu den zentralen Fragen an eine mögliche deutsche Einheit im Ausland. Von emotionalen Vorbehalten oder gar Ablehnung gegenüber den politischen Entwicklungen wird hingegen nur vereinzelt berichtet.
Aufgrund der vom MfAA offenbar nur selektiv versendeten Handlungs- und Verhaltensanweisungen, bemühten sich die DDR-Diplomatinnen und Diplomaten relativ selbstverantwortlich, die Bewertung des deutsch-deutschen Einheitsprozesses in ihren Residenzländern gezielt durch Medienkontakte und Gespräche mit politischen und wirtschaftlichen Funktionsträgern zu beeinflussen. Die Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990 beendeten diese vorübergehende Phase der Ungewissheit und leiteten die endgültige Abwicklung aller DDR-Botschaften und fast vollständige Entlassung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Dienst des MfAA ein. Die Erinnerungen der DDR-Diplomatinnen und Diplomaten sind geprägt von der Erfahrung des umfassenden Zusammenbruchs ihres politischen Lebenswerkes und dem anschließenden Verschwinden in der sozialen und außenpolitischen Bedeutungslosigkeit. Gerhard Haida, DDR-Botschafter in Algerien, arbeitete beispielsweise 1993 bei einem Berliner Taxiunternehmen.
Die hier nur kurz angerissenen Erinnerungen bundesdeutscher Diplomaten decken sich teilweise mit denen ihrer ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Ausmaß der Interdependenz, die politische Situation im Residenzland, die Leitlinien der außenpolitischen Strategien und Handlungsmöglichkeiten bildeten auch hier den Referenzrahmen für das Erlebte. In eben diesen Gemeinsamkeiten liegt gleichzeitig eine der Ursachen der disparaten Erinnerungen an die Rezeption der deutschen Einheit. Für die Diplomatinnen und Diplomaten der DDR war die historische Zäsur des Mauerfalls auch eine biografische, für die bundesrepublikanischen traf dies weniger zu. Die stark variierenden individuellen und außenpolitischen Voraussetzungen sowie die voneinander abweichenden berufliche Entwicklung der Diplomatinnen und Diplomaten in Ost und West führen dazu, dass diese die Reaktionen auf die Einheit Deutschlands in ihren Residenzländern auf ganz unterschiedliche Weise erinnern. Eines verdeutlicht die Auswertung der Erinnerungen: Die umfassende Analyse der (auto-)biografischen Werke und systematisch vergleichende Befragungen des zu dieser Zeit im Ausland eingesetzten diplomatischen Personals halten noch umfassende Potenziale zur Historisierung der Außenpolitik beider deutschen Staaten mit den jeweiligen Residenzländern in der Endphase des Kalten Krieges aus einer akteurszentrierten Perspektive bereit.
Zitierweise: Clemens Villinger, Fern der Heimat - Deutsche Diplomatinnen und Diplomaten erleben den Herbst 1989, in: Deutschland Archiv, 30.05.2014, Link: http://www.bpb.de/184441