Rahmenbedingungen
Mit dem Beginn der 1980er Jahre verschlechterten sich die wirtschaftlichen, technischen und energetischen Kennziffern der DDR zusehends. Der Hauptlieferant für Erdöl, die Sowjetunion, hatte die Preise für den Rohstoff den Entwicklungen auf dem Weltmarkt folgend stark erhöht. Die SED-Führung versuchte daraufhin, den Verbrauch von Öl und dessen Verarbeitungsprodukten wie Benzin und Diesel im Inland extrem zu senken. Zum Ausgleich wurde fortan in riesigem Ausmaß auf den Energieträger Braunkohle gesetzt, was verheerende ökologische Auswirkungen hatte.
Im Verkehrswesen verlagerte man zahlreiche Gütertransporte von der Straße auf die Schiene, um Benzin zu sparen. Das von der SED über vierzig Jahre präferierte Verkehrsmittel, die Eisenbahn, betrieben durch die Deutsche Reichsbahn (DR), musste Lieferungen im Nahverkehr übernehmen, die zuvor von Lkw gefahren wurden. Die DR wiederum sollte Dieselkraftstoff einsparen, indem sie ihre Strecken forciert elektrifizierte, das heißt auf den Betrieb mit durch Braunkohle erzeugten Strom umzuorientieren hatte.
Das MfS und die Kampagne "Erhöhung der Ordnung, Disziplin und Sicherheit"
Ganz ihrem institutionellen Selbstbild verhaftet, "Schild und Schwert" der Partei zu sein, schaltete sich auch die Staatssicherheit in diese von der SED bei der Reichsbahn initiierte Propaganda zur "Erhöhung der Ordnung, Disziplin und Sicherheit" ein. In einem Plan des MfS stand dazu eine bessere Schadensvorbeugung im Mittelpunkt. Das Ministerium spielte auf der Klaviatur, die es für die verkehrlichen, wirtschaftlichen und technischen Felder vorgesehen hatte. Die Mitarbeiter der beim MfS für den Verkehrssektor zuständigen Hauptabteilung XIX (HA XIX) sollten künftig stärker auf die staatlichen Leiter aller Ebenen Einfluss nehmen und mit ihnen kooperieren, das Inspektionssystem der DR aktiv nutzen und die Einhaltung der Dienstvorschriften überprüfen. Ebenfalls zu kontrollieren war, ob in Forschung und Entwicklung vorzugsweise an der Erhöhung der Betriebssicherheit gearbeitet und die Ergebnisse kurzfristig in die praktische Anwendung überführt würden. Der Geheimdienst wollte stets bei schweren Unfällen und Störungen schnell vor Ort sowie an der Untersuchung ihrer Ursachen beteiligt sein.
Ende des Jahres 1981 verfasste der Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der HA XIX, Oberstleutnant Koch, ein Dossier zur Erfüllung des eben erwähnten Plans.
Fehleinschätzungen der Staatssicherheit
Des Weiteren führten nach Meinung von Koch im eben angeführten Dossier von Ende 1981 die Analysen der HA XIX zu einer außerordentlichen Dienstberatung des Ministeriums für Verkehrswesen (MfV), deren Festlegungen wiederum in die Vorlage für die Sitzung des zweithöchsten SED-Gremiums, dem Sekretariat, vom 12. August 1981 eingegangen seien. Koch suggeriert damit, das MfV und die SED-Führung hätten sich nur aufgrund der Erkenntnisse der Staatssicherheit mit den Notständen beim Oberbau und deren Beseitigung beschäftigt. Beim MfV ist das gewiss auszuschließen. Für das Sekretariat finden sich zwar einige wenige der Hinweise der HA in der Vorlage für die Sitzung wieder.
Für die übermäßig positive Selbsteinschätzung des MfS bietet sich ein Erklärungsansatz an: Auch der Geheimdienst musste quantitative und qualitative Nachweise seiner Arbeit erbringen und möglichst große Erfolge vorweisen. Das konnte das Spionageorgan zu Manipulationen an den eigenen Ergebnissen verleiten.
Der neue Chef der AKG der HA XIX, Oberst Edgar Braun, wertete Ende 1985 die SED-Kampagne im Hauptdienstzweig Bahnanlagen aus.
Technikspionage
Über die gesamten 1980er Jahre hinweg war die SED-Führung in ihrer Technologie- und Wirtschaftspolitik stark auf die Senkung des Energieverbrauchs im Verkehrswesen und auf die Mikroelektronik fixiert.
In den nächsten drei Jahren beschloss die Reichsbahn, noch drei weitere Anlagen mit der vom Sicherheitsministerium beigebrachten Technik aus dem NSW anzuschließen. Sie sollten am Standort Halle (Saale) und zweimal in Berlin ans Netz gehen, also allesamt auf der für den Binnen- und Transitverkehr so wichtigen Magistrale Berlin-Erfurt. Für die RDZ am Standort Halle waren rund 1,5 Millionen Mark an westlichen Devisen erforderlich. Es ist davon auszugehen, dass für die RDZ in Erfurt ähnlich viel Geld beschafft werden musste.
Aktive Hilfe bei der Elektrifizierung der DR-Strecken
Im Juli 1982 fasste das Politbüro (PB) der SED den Beschluss, die Schienenwege beschleunigt zu elektrifizieren, um bei der Bahn den Diesel zunehmend durch Strom als Antriebsenergie ersetzen zu können.
Auf dem Bahnhof Berlin-Schöneweide trifft im Juni 1984 der erste von einer Elektrolok gezogene Reisezug ein. Im Raum Berlin wirkte das MfS mit einer aus dem Wachregiment gebildeten Kompanie bei der Elektrifizierung mit. (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0602-012, Foto: Gabriele Senft)
Auf dem Bahnhof Berlin-Schöneweide trifft im Juni 1984 der erste von einer Elektrolok gezogene Reisezug ein. Im Raum Berlin wirkte das MfS mit einer aus dem Wachregiment gebildeten Kompanie bei der Elektrifizierung mit. (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-0602-012, Foto: Gabriele Senft)
Ab dem Frühjahr 1983 wurden 25 Soldaten auf Zeit des MfS-Wachregiments "Feliks E. Dzierzynski", weitere 50 Arbeitskräfte und mehrere lediglich beaufsichtigende Offiziere des Ministeriums für die Montage von Fahrleitungen des Volkseigenen Betriebs (VEB) Kombinat Elektroenergieanlagenbau Starkstrom-, Fahr- und Freileitungsbau Halle herangezogen.
Der Stammbetrieb des Kombinates, für den der Einsatz erfolgte, und das Spionageorgan trafen eine Vereinbarung über die Konditionen der Tätigkeit der 75 Arbeitskräfte. Der VEB war für den Ablauf, die Organisation und die Ausrüstung (Werkzeug) der Arbeiten der MfS-Leute zuständig. Ebenfalls hatte der VEB die Kosten für Transport und Unterkunft zu übernehmen. Als Lohn stellte die Staatssicherheit dem Betrieb elf Mark pro Mann und Stunde in Rechnung. Bei zwingenden dienstlichen Gründen konnte sie die Kompanie temporär oder endgültig abziehen, ohne dafür in Haftung genommen zu werden. Das waren keine sehr vorteilhaften Vertragsbedingungen für den Montagebetrieb. Dessen eigener Vertragsentwurf hatte vorgesehen, die Arbeitskräfte nur mit neun Mark pro Person und Stunde zu entgelten und Unterbringung sowie Beschaffung des Werkzeugs in die Hände des MfS zu geben.
Für das Jahr 1984 ist durch eine Analyse des Sekretariats der SED eine überdurchschnittliche Arbeitsleistung der Kompanie belegt.
Originäre Geheimdienstfunktion bei der Elektrifizierung
Freilich verfolgte das MfS bei einem volkswirtschaftlich so wichtigen und umfangreichen Projekt wie der Elektrifizierung gleichzeitig seine genuinen Aufgaben: Die Observation und das Absichern aller Stadien des Unternehmens, die Kontrolle der Einhaltung der Planziele, das Vorbeugen und die Examinierung von Schäden und anderes mehr. Mit einer neuen Dienstanweisung vom März 1982 wendete sich die Staatssicherheit in allen wirtschaftlichen Bereichen zudem stärker der Aufklärung gegnerischer Pläne und der Enttarnung "feindlich-negativer" Aktivitäten zu.
In der Folgezeit orientierten sich die zuständigen Einheiten des MfS in ihren Analysen zur Elektrifizierung insbesondere an den genannten Aufgaben und den neuen Richtlinien vom März 1982. Doch gab es beispielsweise von Herbst 1984 bis Frühjahr 1985 keinerlei Hinweise auf "feindlich-negative" Aktionen oder vorsätzlich verursachte Schäden und Störungen. Bei der konkreten Auswertung des Großvorhabens musste die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Staatssicherheit (ZAIG) feststellen, dass 1984 der Plan nur durch die Bündelung der Kräfte der DR sowie mithilfe bewaffneter Einheiten (Kompanie des MfS; Nationale Volksarmee) realisiert wurde. Das brachte aber wiederum die Vorlaufarbeiten (Gründungen der Betonmasten für die Fahrleitungen, Tiefbau für Verkabelungen) für 1985/86 in Verzug. Auf die Nachteile der überdimensionierten Elektrifizierung kam die Gruppe danach zu sprechen. Dabei berief sie sich auf Aussagen von bei der Reichsbahn angeworbenen inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Die staatliche Führungs- und Leitungsebene war mit dem gewaltigen Arbeitspensum überfordert. Gerade die Leiter des Bahnbetriebs waren auch aufgrund von Unterbesetzung schon mit dem normalen Tagesgeschäft mehr als ausgelastet. Zudem stieß man mit dem hohen Tempo an die Grenzen der materiellen und technischen Ressourcen. Die Volkswirtschaft konnte eine Elektrifizierung von 300 Kilometern Strecke im Jahr nicht bewältigen.
Kurze Zeit nach dem Beschluss des Politbüros vom Juli 1982, die Elektrifizierung zu forcieren, hatte Erich Mielke am 1. September 1982 einen Befehl (12/82) "Fahrstrom" für das MfS erlassen. Darin erteilte er besonders den Auftrag, die termin- und qualitätsgerechte Fertigstellung der Elektrifizierung zu kontrollieren und personelle Sicherheit in für das Vorhaben wichtigen Einrichtungen und Bereichen zu garantieren. Letzteres bedeutete das Überprüfen von staatlichen Kadern und anderen Beschäftigten wie Ingenieuren und Wissenschaftlern auf ideologische Zuverlässigkeit. Zugleich blieb weiterhin für die Wirtschaft die neue MfS-Dienstanweisung vom März 1982 gültig, die auch beinhaltete, die innere Stabilität des Landes zu stützen. Darunter wurde subsumiert, Westkontakte zu prüfen und Antragsteller auf Ausreise aus der DDR zu überwachen. Allgemein sollte mit "Operativen Vorgängen" (OV) und "Operativen Personenkontrollen" (OPK) noch stärker personenbezogen vorgegangen werden – vorrangig bei Reisekadern und Geheimnisträgern.
Im Frühjahr 1988 konnte die HA XIX weder Aktivitäten von innen noch von außen vermerken, die das Schwerpunktprojekt geschädigt hätten. Die OPK von Mitarbeitern bei der Elektrifizierung hatten dahingehend keine Veranlassung zu Misstrauen gegeben. Unter die OPK zählten Leute aus der Bauvorbereitung und -ausführung, die in das NSW übersiedeln wollten bzw. für das MfS relevante und verdächtige Kontakte dorthin unterhielten. Bei den Kontrollen vergrößerte sich für die HA der Aufwand, da die Zahl der Besuchsreisen in den Westen und der Ausreiseanträge von in der Elektrifizierung Tätigen wie allgemein in der DDR zu dieser Zeit anwuchs.
Resümee
Die Staatssicherheit beteiligte sich im letzten Jahrzehnt der DDR bei der Eisenbahn an großen Kampagnen der Partei, beschaffte mit geheimdienstlichen Methoden einzelne Technik aus dem westlichen Ausland und stellte in begrenztem Umfang Arbeitskräfte für das Großvorhaben der Elektrifizierung bereit. Wie in den Jahrzehnten zuvor sammelte es darüber hinaus auf einigen Gebieten Informationen über den Zustand der Anlagen, übte Kontrolle über das Personal aus und infiltrierte die Reichsbahn mit inoffiziellen Mitarbeitern. Jedoch relativieren sich diese Leistungen in der Gesamtsicht und in ihren Auswirkungen sehr stark. So konnte das MfS keinen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der katastrophalen Lage bei den Gleisanlagen, Brücken, Gebäuden und der Sicherungs- und Signaltechnik der DR in den 1980er Jahren leisten. Daran trug es mit seinen teilweise falschen Selbsteinschätzungen, Analysen und Vorwürfen an die Reichsbahner eine Mitschuld. Ferner trat das MfS zumeist erst auf Wunsch oder Vorgabe der SED-Spitze und auf den wenigen Feldern bei der Eisenbahn in Erscheinung, die die Parteiführung als wichtig ansah. Es folgte der SED-Elite kritiklos in dem Kurs, das gesamte Verkehrswesen als zu unproduktiv und demnach als nicht so relevant für die Wirtschaft anzusehen. Der marode Zustand des Eisenbahn- und Transportbereichs in den 1980er Jahren war dann eine von vielen, aber eine nicht zu unterschätzende Ursache für den ökonomischen Kollaps der DDR. Daher ist im Fazit am Beispiel der Infrastruktur der DR für dieses Jahrzehnt die Fähigkeit des MfS, einen Beitrag zur Stabilisierung der SED-Herrschaft zu leisten, als eher gering zu bewerten.
Zitierweise: Ralph Kaschka, Einfluss der Staatssicherheit auf das Vorhaben der Elektrifizierung der DDR-Eisenbahn in den 1980er Jahren, in: Deutschland Archiv Online, 03.12.2013, http://www.bpb.de/174195