Am 7. Oktober veranstaltete die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb eine Konferenz zum Thema "Geschichte als Instrument". Anlass war das Erscheinen der gleichnamigen Ausgabe ihrer Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ). Diskutiert wurde über den Stand und die Zukunftsperspektiven der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auch die Pläne des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU), Roland Jahn, auf dem Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale einen "Campus der Demokratie" einzurichten, wurden kontrovers debattiert.
Aufarbeitung: Eine "unendliche" Geschichte?
Den Auftakt bildete der Philosoph und Theologe Richard Schröder, der in seiner Keynote auf den Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur einging. Der Begriff "Aufarbeitung", so Schröder, dürfe nicht zu dem Trugschluss führen, dass die Hinterlassenschaften der Diktatur endgültig bewältigt werden könnten. Zwar gebe es eine Reihe "endlicher" Aufgaben der Aufarbeitung wie die juristische Bestrafung der Täter, die Rehabilitierung und Entschädigung von politisch Verfolgten oder die Rückgabe von Eigentum, die im Großen und Ganzen abgeschlossen seien. Auch die Korrektur des offiziellen Geschichtsbildes der SED, also die Aufklärung darüber, "wie es wirklich war", sei – unter Berücksichtigung konkurrierender Betrachtungen und Perspektiven – letztlich eine "endliche" Aufgabe. Darüber hinaus identifizierte Schröder aber auch drei "unendliche" Aufgaben der Aufarbeitung. Hierzu gehörten erstens die "Unterrichtung der heranwachsenden Generationen". Zweitens der Streit über die Einordnung der SED-Diktatur, also die Auseinandersetzung darüber, "was an der SED-Herrschaft das Verkehrte war", wobei die "echte Schönfärberei eine Angelegenheit von sehr kleinen Randgruppen" geworden sei. Drittens sei die Forschung eine potenziell "unendliche" Aufgabe, auch wenn keine fundamental neuen Erkenntnisse zu erwarten seien, auf deren Grundlage der historische Narrativ komplett umgeschrieben werden müsse.
Ein zentraler Aspekt in der Aufarbeitung sei die Anerkennung und Rehabilitierung der Opfer. Allerdings machte Schröder auf die Zweideutigkeit des Wortes "Opfer" aufmerksam und schlug eine Unterscheidung in die englischen Begriffe "victim" und "sacrifice" vor. Einem "victim" widerfahre ein Leid, das nicht selbst gewählt sei und keinen "Verdienst" an sich darstelle, das aber Anlass zu Anteilnahme und gegebenenfalls Entschädigung gebe. Dahingegen sei unter "sacrifice" ein "Opfer im Sinne der Aufopferung oder des Verzichts" zu verstehen, welches "Anerkennung und Bewunderung" verdiene. Während in früheren Zeiten "victims" wie die gefallenen Soldaten im Krieg zu "sacrifices" stilisiert worden wären, die ihr Leben für das Vaterland gegeben hätten, obwohl sie in Wirklichkeit elendig zu Grunde gegangen waren, geschehe heute gelegentlich die umgekehrte Verwechslung. So sei Peter Fechter, der am 17. August 1962 vor den Augen der Weltöffentlichkeit im "Todesstreifen" der Berliner Mauer verblutete, ein "victim", der unsere Anteilnahme verdiene, aber er sei kein "Held". Wer wegen eines Fluchtversuches eine Haftstrafe absitzen musste, habe Anspruch auf eine Entschädigungszahlung, so Schröder, nicht aber auf einen "lebenslangen Ehrensold".
Abschließend sprach sich Richard Schröder als Vorsitzender des BStU- Beirats gegen die von Roland Jahn geplante Einrichtung eines "Campus' der Demokratie" auf dem Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Lichtenberg aus. Zwar habe er keine Einwände gegen die ebenfalls geplante Zusammenlegung der Außenstellen. Allerdings könne ein Ort, der sich der Aufarbeitung der Diktatur widme, nicht zwangsläufig für sich in Anspruch nehmen, auch die Demokratie zu befördern. Zudem könne ein "Campus der Demokratie" an diesem "authentischen und symbolisch hoch aufgeladenen Ort" den Trugschluss befördern, dass die Stasi, und nicht die SED, das eigentliche Macht- und Entscheidungszentrum der DDR gewesen sei.
Unmittelbare Folgen der SED-Diktatur sind aufgearbeitet
Im Anschluss an Schröders Keynote griff ein hochkarätig besetztes Podium zum Thema "Praxis der Aufarbeitung" die zentralen Thesen des Vortrags auf. Wolfgang Thierse, der sich nach 23 Jahren aus dem Deutschen Bundestag verabschiedet, stimmte mit Richard Schröder darin überein, dass die Aufarbeitung der unmittelbaren Folgen der SED-Diktatur insgesamt gelungen sei. Auch der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Aufarbeitung, Rainer Eppelmann, unterstrich den "Grundkonsens" nach 1989, der sich in einem breiten politischen Willen zur Aufarbeitung und Schaffung institutioneller Strukturen wie der BStU und der Stiftung Aufarbeitung ausgedrückt habe.
Einigkeit herrschte auf dem Podium auch darüber, dass sich die Aufarbeitung lange Zeit zu sehr auf die Staatssicherheit zentriert habe. So konstatierte die Brandenburgische Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Ulrike Poppe, dass eine Diskrepanz zwischen den lebensweltlichen Erfahrungen vieler DDR-Bürger und dem medial vermittelten Bild der DDR als Überwachungsstaat bestehe. Um diese Diskrepanz zu überbrücken sei es erforderlich, den Diktaturcharakter jenseits von Staatssicherheit und Grenzregime aufzuzeigen und zum Beispiel den menschenverachtenden Umgang des Regimes mit psychisch Kranken, Alten oder gesellschaftlich unangepassten Menschen zu thematisieren. Auch der Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit, Roland Jahn, betonte, dass die DDR "keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur" gewesen sei. Nichtsdestotrotz seien die Akten der Staatssicherheit eine sehr gute Quelle, um die Herrschaftsmechanismen des Systems herauszuarbeiten.
Markus Meckel, Ratsvorsitzender der Stiftung Aufarbeitung und Mitglied im Beirat des BStU, meldete sich aus dem Publikum zu Wort und verwies nochmals auf die von Richard Schröder vorgenommene Unterscheidung des Opferbegriffes. Es sei ein Defizit, so Meckel, dass es in der Gedenkstättenlandschaft keinen angemessenen Ort zur Erinnerung an Opposition und Widerstand in der DDR gebe.
"Campus der Demokratie" oder "Politbüro der Aufarbeitung"
Ein solcher Ort könnte demnächst auf dem Gelände der ehemaligen MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg entstehen. Roland Jahn plant, die Stasiunterlagenbehörde zu einem "Campus der Demokratie" zu erweitern, in dem Bildungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern sowie Multiplikatoren stattfinden soll. Unter anderem ist angedacht, dass die Robert-Havemann-Gesellschaft, die das Archiv der DDR-Opposition betreibt, ihre erfolgreiche Ausstellung zur Friedlichen Revolution von 2009 auf dem Gelände dauerhaft unterbringt. Dadurch würde sichtbar, dass die ehemalige Stasi-Zentrale nicht nur ein Ort der Repression, sondern auch ein Ort der Friedlichen Revolution sei, erklärte Roland Jahn mit Verweis auf die Erstürmung des Ministeriums für Staatssicherheit durch Bürgerinnen und Bürger im Januar 1990.
Rainer Eppelmann wollte sich dieser Argumentation nicht anschließen. Für ihn sei die ehemalige Stasi-Zentrale vor allem ein Ort der Repression. Er befürchtete, dass die Zentralisierung der Erinnerung letztlich zu einem "Politbüro der Aufarbeitung" führe und plädierte stattdessen für Vielfalt in der Gedenkstättenlandschaft. Auch Wolfgang Thierse gehörte zu den Kritikern des Projekts. Gewiss könne ein Ort der Repression den Besucherinnen und Besuchern ein geradezu "existentielles Gefühl für die Kostbarkeit von Demokratie und Freiheit" vermitteln, aber er sei kein Lernort der Demokratie.
Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, widersprach seinen Vorrednern. Seinen Erfahrungen nach seien Schülerinnen und Schüler am authentischen Ort der Unterdrückung emotional viel eher dazu bereit, sich mit Demokratie auseinanderzusetzen. Auch eine Trennung der Erinnerung an Täter und Opfer sei nicht immer ohne Weiteres möglich. So seien die Besucherinnen und Besucher der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt daran interessiert, an diesem Ort auch mehr über die Täter zu erfahren. Umgekehrt sei es kaum möglich über die Stasi zu sprechen, ohne dabei ihre Opfer im Blick zu haben. Darüber hinaus spreche ein pragmatisches Argument für einen ganzheitlichen Ansatz: Die Besucherinnen und Besucher betrieben in der Regel kein "Gedenkstätten-Hopping", sondern entschieden sich für nur einen Ort, an dem sie nach Möglichkeit eine Gesamterzählung geboten bekommen sollten, die aber bestimmte Schwerpunkte setze.
Knabes Vorschlag "begrifflich abzurüsten" und statt eines "Campus‘ der Demokratie" zum Beispiel ein "Dokumentationszentrum SED-Diktatur" einzurichten, konnte keinen Konsens auf dem Podium herbeiführen. So blieb trotz aller Einigkeit über das Erreichte, ein Dissens über die Zukunft der "Aufarbeitung".
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion interviewte der Präsident der bpb, Thomas Krüger, den ehemaligen Gedenkstättenreferenten in der Kulturverwaltung Berlin, Rainer E. Klemke, sowie Tom Sello von der Robert Havemann Gesellschaft. Beide Gesprächspartner verteidigten die Entscheidung der Robert Havemann Gesellschaft, ihre Ausstellung zur Friedlichen Revolution in der ehemaligen Stasi-Zentrale unterzubringen. Rainer E. Klemke betonte, dass es sinnvoll sei, die Perspektiven der Opfer und der Täter an diesem Ort zusammenzubringen. Es dürfe nicht sein, "dass die Stasi das letzte Wort auf diesem Gelände hat." Tom Sello verwies darüber hinaus auf die rein pragmatischen Gründe, denn es würden sich wichtige "Synergieeffekte" ergeben mit der BStU und dem Verein "Antistalinistische Aktion" (ASTAK e.V.), der das Stasi-Museum in der Normannenstraße betreibt.
Neue Formen der Geschichtsvermittlung
Das zweite Podium am Nachmittag setzte sich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen. Im Zentrum der Diskussion standen neue Formen der Geschichtsvermittlung.
Eingangs beklagte der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries (Universität Hamburg) eine "Provinzialität" der Debatte. So würde viel zu häufig ausschließlich von "DDR-Geschichte" gesprochen, ohne dabei die "asymmetrische Interdependenz" zur alten Bundesrepublik zu beachten. So versuchte die DDR sich als antifaschistischer Staat zu legitimieren, der im Gegensatz zur Bundesrepublik nach 1945 ein "ernsthaftes Abschneiden der NS-Eliten betrieben" hätte. Die Geschichte der DDR sei also nicht ohne die wechselhafte und wechselseitig bedingte Entwicklung der beiden deutschen Staaten zu verstehen. Darüber hinaus sei viel zu lange ignoriert worden, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft sei. Inzwischen habe beispielsweise die Mehrheit der Hamburger Erstklässler einen Migrationshintergrund. Für diese Gruppen müssten neue Zugänge in der Geschichtsvermittlung gefunden werden.
Hier knüpfte die Soziologin Sybille Frank (TU Berlin) an, die konstatierte, dass Geschichtsvermittlung zunehmend durch private – kommerzielle sowie gemeinnützige – Akteure geschehe, die erlebnisorientierte Angebote machen und damit auch bildungsferne Schichten erreichen. Ein Beispiel dafür sei der Checkpoint Charlie, an dem sich Touristen mit verkleideten Schauspielstudierenden in Uniform fotografieren lassen oder eine Trabi-Safari durch Berlin starten können. Sie verwies auf die anglo-amerikanische Debatte, in der diese Form der Geschichtsvermittlung schon seit Längerem als "heritage" bezeichnet werde. "Heritage" stehe im Gegensatz zur klassischen "history", die in vielen Museen und Gedenkstätten des öffentlichen Sektors vorzufinden sei und mit originalen Ausstellungsstücken in Vitrinen arbeite, begleitet von fachwissenschaftlichen Erklärtexten.
Irmgard Zündorf, Koordinatorin des Master-Studiengangs "Public History" an der FU Berlin, bezweifelte, dass erlebnisorientierte Angebote für die Vermittlung von Zeitgeschichte immer geeignet seien. So sei ein spielerischer Zugang in einer KZ-Gedenkstätte nicht denkbar. Dennoch zeige der Erfolg von privaten Initiativen wie dem DDR-Museum, dass es eine enorme Nachfrage nach Alltagsgeschichte gebe, die der öffentliche Sektor nicht ausreichend bedient habe. In diese Lücke seien nun private Anbieter gestoßen.
Bodo von Borries stellte fest, dass der "herkömmliche belehrende Unterricht nicht besonders erfolgreich" sei, insbesondere wenn das offiziell vermittelte Geschichtsbild in Widerspruch zu den eigenen "mentalen Bedürfnissen" stehe. "Heritage" sei ein Instrument, um Schichten außerhalb des Bildungsbürgertums zu erreichen. Es müsse jedoch darauf geachtet werden, dass die methodischen Standards der Geschichtswissenschaft erhalten blieben.
Hierin konnte ein Konsens auf dem Podium erzielt werden. So sah es der Historiker Thomas Großbölting (Universität Münster) als Aufgabe der Geschichtswissenschaft an, zu verdeutlichen, dass es sich bei den erlebnisorientierten Angeboten stets um "Konstruktionsleistungen" handele. Sybille Frank bestätigte ihn darin: Beide Modelle der Vergangenheitsbetrachtung – "heritage" und "history" – müssten komplementär angewandt werden.
Thomas Großbölting verwies aber auch darauf, dass der Boom populärer Geschichtsthematisierungen – wie er sich am Erfolg von Timur Vermes' Hitler-Satire "Er ist wieder da" zeige – eine Mahnung an die professionelle Historikerzunft sei, sich Gedanken über die eigene Publikationstätigkeit zu machen. So führt Großbölting in seinem Artikel für die Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte", die Anlass dieser Tagung war, aus: "Die Hoffnung, dass Geschichtsbilder ‚gemacht‘ werden, indem gelehrte Männer und Frauen sich die Köpfe auf Veranstaltungen darüber zerbrechen, wie die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu interpretieren sei, gehört der Vergangenheit an."
Alle Beiträge der Konferenz können als Audio-Podcast hier nachgehört werden: www.bpb.de/170288
Zitierweise: Hendrik Hoffmann, Tagungsbericht, APuZ-Forum "Geschichte als Instrument" am 7.10.2013, in: Deutschland Archiv Online, 15.10.2013, http://www.bpb.de/170470