I.
Im geteilten Deutschland flüchteten zwischen 1949 und 1988 3,3 Millionen Menschen in die Bundesrepublik. Etwa 400.000 unter ihnen kamen wieder zurück in die DDR. Dahinter standen, zumindest seit der wirtschaftlichen Konsolidierung der Bundesrepublik gegen Mitte der fünfziger Jahre, wohl weniger ökonomische oder politische als vielmehr private Motive. Hinzu kamen noch etwa 200.000 im Westen geborene Bürger, die in den anderen Teil Deutschlands wechselten - so genannte Erstzuziehende, wie sie Ostberlin in Abgrenzung zu den Rückkehrern nannte. Diese Wanderungsbewegung blieb nach der Pionierarbeit von Andrea Schmelz lange Zeit unerforscht; erst Bernd Stöver, Ulrich Stoll und Kim Priemel schenkten ihr wieder Beachtung.
Weil die DDR beim wirtschaftlichen Aufschwung mit der Bundesrepublik nicht mithalten konnte, kamen ab Mitte der fünfziger Jahre immer weniger Menschen. Wenn jedoch die "Abstimmung mit den Füßen" schon nicht zu gewinnen war, wollte das SED-Regime die neuen DDR-Bürger zumindest streng überprüfen, um Spione, politisch Missliebige und Kriminelle herauszufiltern. Seit 1957 sollte daher jeder West-Ost-Übersiedler zunächst in einem Lager oder Aufnahmeheim untergebracht werden; dies betraf etwa 96 Prozent der West-Ost-Migranten des Jahres 1960. 1958 stellte eine Neufassung des Passgesetzes das "illegale Verlassen der DDR" ausdrücklich unter Strafe. Zwar sicherte der Staatsrat im August 1964 den meisten Rückkehrern Straffreiheit zu, doch kamen zwischen Mauerbau und Jahresende 1965 insgesamt nur noch 65.803 West-Ost-Migranten - was etwa dem Durchschnitt eines Jahres vor dem Mauerbau entsprach. Dabei wurden 27 Prozent der Rückkehrer und 58 Prozent der Zuziehenden abgelehnt. Dieses war ein Ausdruck einer strengeren Auswahl als vor dem Mauerbau. Als die DDR dann 1966 das Passierscheinabkommen auf dringende Familienfälle beschränkte, wurde die West-Ost-Migration weitgehend zur Einbahnstraße - die nur noch 2.000 bis 3.000 Personen im Jahr zu nehmen wagten.
Aufnahmeheime bestanden Mitte der sechziger Jahre auf zentralstaatlicher Ebene in Barby, Eisenach, Pritzier und Saasa sowie auf bezirklicher Ebene in Velgast, Militzsee, Loburg, Schmalkalden, Kraftsdorf, Karl-Marx-Stadt, Zirkelschacht, Leipzig, Dresden, Kablenz, Fürstenwalde, Potsdam und Berlin-Weißensee. Dieses Netz ließ sich die DDR mehr als 3 Millionen Mark im Jahr kosten. 1969 waren in den Aufnahmeheimen 285 Mitarbeiter beschäftigt, die als Angestellte der Heime die Migranten versorgten, sie als Mitarbeiter des Pass- und Meldewesens erfassten, sie als Angehörige der Kriminalpolizei vernahmen oder sie als Mitarbeiter des Betriebsschutzes bewachten. Nicht mitgerechnet sind hierbei die Mitarbeiter der Staatssicherheit, die Migranten vernahmen sowie Spitzel anwarben. Obwohl die Heime ihre Plätze bereits reduziert hatten (so etwa das größte, Barby, von 650 auf 260 Betten), waren die Heime mit ihrer Gesamtkapazität von 1.500 Plätzen nicht einmal zu einem Fünftel ausgelastet. Die Migranten mussten dabei durchschnittlich 24 Tage in den zentralen und 38 Tage in den regionalen Aufnahmeheimen bleiben.
Inbesondere weil der erhoffte Zuspruch ausblieb, wurden etliche Lager und Heime geschlossen, so im Sommer 1972 Blankenfelde und Pritzier. Die deutsch-deutschen Grundlagenverträge führten nicht automatisch zu mehr West-Ost-Migranten, doch gingen jährlich 1.000 bis 1.200 schriftliche Voranfragen aus der Bundesrepublik ein. Um die Kräfte zu bündeln, wurde dann im April 1979 das Zentrale Aufnahmeheim Röntgental (mit einer Kapazität von 117 Betten) eröffnet. Im Gegenzug wurden dann auch Saasa und Barby geschlossen; neben einigen Bezirksheimen blieb auf zentraler Ebene lediglich Molkenberg bestehen, bis es 1986 in das neue Haus 11 in Röntgental verlegt wurde.
Tabelle
II.
Auch das neue Aufnahmeheim unterstand zwar dem Ministerium des Innern, doch hinter den Kulissen zog die Staatssicherheit die Strippen. Sie hatte zur Errichtung von Röntgental beigetragen und steuerte das Reglement vor Ort. Leitende Kader im Ministerium des Innern kooperierten mit der Geheimpolizei, und als Leiter Röntgentals fungierte ein Offizier in besonderem Einsatz, Roland Stegbauer. Bei einer Belegung mit durchschnittlich nur 12 West-Ost-Migranten unterstanden ihm 114 Mitarbeiter, die der Hauptabteilung Kriminalpolizei, dem Bereich Innere Angelegenheiten und dem Betriebsschutz angehörten. Stegbauer nicht untergeordnet waren die 19 Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die in Röntgental Vernehmungen führten und unter den vorgenannten Beschäftigten 26 Zuträger führten (22,8 Prozent). In dieser Stärke waren die verschiedenen Abteilungen der Staatssicherheit sonst nur in besonders bedeutsamen Diensteinheiten des Ministeriums des Innern präsent.
Die Beschäftigten sollten dem SED-Regime treu ergeben sein sowie möglichst keine "Westverwandtschaft" besitzen. Weil die Praxis oft eine andere war, führte die zuständige Hauptabteilung VII in den achtziger Jahren etwa 25 Überwachungsmaßnahmen (in Form einer Operativen Personenkontrolle/OPK) jährlich überwiegend gegen die Mitarbeiter Röntgentals durch. Und 1977 liefen gegen die seinerzeit 72 Mitarbeiter Barbys immerhin sieben OPKs. So wurde beispielsweise ein Vernehmer der Kriminalpolizei ab 1987 in OPK bearbeitet, weil er trotz eines Gehalts von 1.700 Mark wegen Unterhaltszahlungen in finanziellen Schwierigkeiten steckte und deswegen als erpressbar galt. Es wurden dann sieben Inoffizielle Mitarbeiter (IM) auf ihn angesetzt, Zweitschlüssel von Dienstzimmer und Wohnung gefertigt sowie sein Telefon abgehört - letztlich ergebnislos. Dagegen wurde selbst ein Kraftfahrer Röntgentals entlassen, da er in "negativen Kreisen" verkehrte. Und die Staatssicherheit überprüfte selbst zeitweilig eingesetzte Handwerker sowie sämtliche 700 Einwohner der Gemeinde Röntgentals.
III.
Wenn potentielle DDR-Bürger aus den Westen bei verschiedenen Stellen von Staat und Partei um Aufnahme ersuchten, wurden der Staatsrat oder das Büro Honecker, das Ministerium des Innern sowie die Staatssicherheit involviert. Förmlich formulierte dann das Ministerium des Innern Antwortschreiben, während zugleich eine Rückinformation an das Zentralkomitee der SED erfolgte. Ersuchten Personen um Wiederaufnahme, die von Westreisen nicht zurückgekehrt waren, war die für strafrechtliche Untersuchungen verantwortliche Linie IX des Ministeriums für Staatssicherheit zu beteiligen.
Unterbringung und "Durchleuchtung" in einem Heim blieb kaum einem Betroffenen erspart. Alle Migranten mussten bei Ankunft ihre Devisen ganz oder teilweise den DDR-Behörden überlassen, wodurch die Staatskasse der DDR zwischen 1981 und 1985 fast 7,5 Millionen D-Mark einnahm. Die Migranten durften während ihres Aufenthaltes das Aufnahmeheim nicht verlassen, mit Ausnahme etwa eines Arztbesuchs, wobei ein Mitarbeiter Röntgentals den Betreffenden nicht aus den Augen ließ.
Der Tagesablauf begann mit Wecken um 6:30 Uhr, ab 8 Uhr folgten Vernehmungen und Nachtruhe war für 22 Uhr angeordnet. Von verheerender Wirkung waren besonders die Verhöre durch Volkspolizei und Staatssicherheit. So wurden die Angehörigen einer Familie nach Möglichkeit getrennt voneinander, gleichzeitig und mehrfach hintereinander befragt um Widersprüche aufzudecken. Zuletzt wurden außerdem zwei von drei Aufnahmeersuchenden abgehört. Diese "Durchleuchtung" war derart bedrückend, die Lebenssituationen teils so ausweglos und die Migranten mitunter psychisch derart instabil, dass sich in den achtziger Jahren sich mindestens fünf Personen das Leben nahmen und drei weitere dies versuchten.
Ausweislich der oben stehenden Tabelle bearbeitete die Staatssicherheit 3,2 Prozent der West-Ost-Migranten des Jahres 1969 operativ, verhaftete 0,5 Prozent sofort und wollte 2 Prozent als IM anwerben. Nicht erfasst sind die Zurückweisungen sowie spätere Verhaftungen. Im Jahr 1987 bearbeitete der Mielke-Apparat demgegenüber 6,4 Prozent aller West-Ost-Migranten und warb (in den ersten neun Monaten des Jahres 1986) fast 3 Prozent der Migranten als IM (13 von 453 Personen). Sofern diese Momentaufnahmen aussagekräftig sind, zogen die wenigeren Aufnahmeersuchenden offenbar eine immer intensivere Überwachung auf sich. Deswegen - und weil offenbar nur noch aussichtsreiche Kandidaten kamen - wurden 1986 auch höchstens 16 Prozent abgelehnt.
In einer OPK wurde beispielsweise eine 26-jährige Frau bearbeitet, deren Mann als entschiedener Gegner des SED-Regimes galt - weswegen sie in Röntgental verhört wurde. Um noch mehr zu erfahren, wurde sie in die DDR aufgenommen, mehrere Tage observiert und durch mindestens vier weitere IM beobachtet; die friedliche Revolution verhinderte die Klärung der Vorwürfe. Da West-Ost-Migranten in den späten achtziger Jahren meist nur noch 14 Tage in Röntgental blieben, wurden ohnehin viele erst am neuen Wohnort "durchleuchtet". Und gerade weil sie so genau beobachtet wurden, gingen in den sechziger Jahren durchschnittlich 8,5 Prozent aller registrierten Straftaten auf West-Ost-Migranten zurück, obwohl ihr Bevölkerungsanteil nur 3,2 Prozent betrug.
IV.
Schon die Abwanderung vor dem Mauerbau ließ sich propagandistisch kaum verwerten. Vorzüglich passte es hingegen in das Weltbild des Regimes, wenn geflohene DDR-Bürger zurückkehrten oder geborene Bundesbürger zuzogen. West-Ost-Migranten wurden daher offensiv umworben und konnten geschönte Autobiographien veröffentlichen. Rückkehrer berichteten der Tagespresse etwa, sie hätten "die ganze Härte des Bonner Regimes zu spüren" bekommen und "immer Hunger" gehabt. Solche Propagandaschriften wurden trotz sinkender Zahlen von West-Ost-Migranten bis in die sechziger Jahre produziert. Und 1963 sowie 1965 drehte die DEFA sogar Kurzfilme, in denen beispielsweise eine 21-Jährige im Aufnahmeheim Eisenach erzählt, dass sie im Westen als Animierdame in einer Bar arbeiten musste. Demgegenüber seien die ostdeutschen Aufnahmeheime, so hieß es in einschlägigen Ratgebern, "in keiner Weise eine Parallele zu den berüchtigten westdeutschen 'Flüchtlingslagern'."
1965 wurde gar einem britischen Journalisten gestattet, über Barby zu berichten, doch nannte dieser die Motive einiger Migranten (Schulden, Vorstrafen etc.) beim Namen und ließ die Trostlosigkeit des Lagerlebens durchblicken. Möglicherweise durch diesen Misserfolg befördert - und weil immer weniger Personen kamen -, enthielt sich das SED-Regime fortan eines offensiven Umgangs mit dem Thema. Die wichtigste Tageszeitung des Landes brachte fast 15 Jahre lang keinen einschlägigen Artikel, so wie die Grenze überhaupt meist verschwiegen wurde.
Erst am 5. März 1985 berichtete das Neue Deutschland mehrspaltig, 20.000 Übergesiedelte würden in die DDR zurückkehren wollen und nannte einige von ihnen namentlich. Vermutlich ließ sich die Ausreisewelle im Vorjahr nicht leugnen - und ein leichter Anstieg der Rückkehrerzahlen trug wohl dazu bei, dass das SED-Regimes jetzt auf einen Propagandaerfolg hoffte. Dem Artikel "mit besonderer Anstrengung" zugearbeitet und "die Mehrzahl der in der Veröffentlichung [des Neuen Deutschlands] genannten Personen" ausgewählt hatte indes die Staatssicherheit. In den letzten beiden Jahren, so lobte sich die Geheimpolizei, seien "wesentlich bessere Ergebnisse bei der Prüfung auf Eignung von Personen für öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zur Zurückdrängung von Antragstellungen auf Ausreise" erzielt worden.
Als indes westliche Journalisten, u.a. Ulrich Stoll, die angeblichen Rückkehrwilligen interviewen wollten, war (vermutlich von ostdeutscher Seite so instruiert) kein einziger zu Aussagen bereit. Andere verneinten sogar, entsprechende Ersuchen gestellt zu haben. Möglicherweise fürchteten sie berufliche oder private Nachteile. Das DDR-Fernsehen nahm daraufhin davon Abstand, einen Film zu diesem Thema zu drehen. Das "Filmstudio Agitation" der Staatssicherheit drehte 1986 zwar einen Streifen, in dem Zugezogenen schleppend von ihren Motiven berichten, da sie wohl unter Druck standen, doch der Film wurde bis 1989 nicht gesendet.
V.
Bereits vor dem Mauerbau kapitulierte das SED-Regime bei seinem Versuch, mehr geflohene DDR-Bürger und Bundesbürger zur Übersiedlung nach Ostdeutschland zu bewegen. Weit überzogene Feindperzeptionen, insbesondere die Furcht vor dem Einschleusen von Spionen, führten zu einer immer intensiveren Durchleuchtung von immer weniger West-Ost-Migranten. Erst mit enormer zeitlicher Verzögerung wurden Aufnahmeheime in der DDR geschlossen und die Kapazitäten teilweise in Röntgental konzentriert. Die Überwachung und Abschottung des Heimes von Außenwelt und Öffentlichkeit, das Stärkeverhältnisse zwischen den Migranten und ihren Bewachern sowie die Akribie der Überprüfung zeugen einmal mehr von der weit überzogenen Sicherheitsdoktrin des Mielke-Apparates. Obwohl die Ausreisewelle im Vorfeld der friedlichen Revolution auch mehr Rückkehrer mit sich brachte, wollte die Staatssicherheit bis zuletzt den Überblick behalten. Das Ministerium des Innern wies unmittelbar nach dem Mauerfall an, das Aufnahmeverfahren auf maximal drei Tage zu verkürzen und die Staatssicherheit wollte die zuständigen Abteilungen personell aufstocken. Diese Reflexe gingen durch den Fortlauf der Ereignisse freilich ins Leere.
Zitierweise: Tobias Wunschik, Die Aufnahmelager für West-Ost-Migranten. Öffentliche Darstellung und heimliche Überwachung nach dem Mauerbau. In: Deutschland Archiv Online, 07.02.2013,Link: http://www.bpb.de/156215