Eines steht fest: Dieser Parteitag wird noch lange im Gedächtnis der "Linken" bleiben. Einen solchen Showdown hatte die Partei noch nicht erlebt. Man konnte es hautnah spüren und miterleben, die gesamte Spanne emotionaler Erregungen, von Tränen der Trauer, Siegesgeheul und Häme, Inszenierung: die ganze Niedertracht politischen Spiels. Eine Partei, die vorgibt, konsequente Friedenspartei zu sein, führt, wie Petra Pau, die stellvertretende Bundestagspräsidentin der "Linken", es formulierte, "innerparteiliche Kriege".
Das Motto des Parteitages war: "Solidarisch, Gerecht, Demokratisch, Friedlich". Es wirkte wie der blanke Hohn. Langjährige Mitarbeiter der Parteizentrale räumten ein, noch nie in einer solchen Atmosphäre der Beschimpfungen, der Denunziation, der Drohung, der offenen Einschüchterung gearbeitet zu haben wie in den letzten Wochen und Monaten vor "Göttingen".
Das alles bot reichlich Stoff für eine Tragödie, für ein Drama. Nun ist das anderen Parteien nicht ganz fremd, nur war die gesamtdeutsche "Linke" ja mit dem Anspruch angetreten, es besser als die anderen machen zu wollen, sich wirklich solidarisch zu vereinigen, "auf gleicher Augenhöhe". Nun stellt sich heraus, dass es eine "Lebenslüge" war, wonach schon zusammengewachsen wäre, was, wie man meinte, doch zusammengehöre. So die bittere Einschätzung Paus.
Vorspiele
Der Parteitag war turnusgemäß zusammengekommen, um das Führungspersonal neu zu wählen: zwei Parteivorsitzende, einen Bundesgeschäftsführer, einen Schatzmeister, vier stellvertretende Parteivorsitzende. Es spitzte sich alles auf die Frage zu, wer die neuen Parteivorsitzenden sein werden, nachdem Gesine Lötzsch ihre abermalige Kandidatur aus privaten Gründen zurückgezogen hatte und Klaus Ernst nicht mehr antrat. Beide waren im Januar vor zwei Jahren unter dem Druck von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi gegen den Widerstand vieler (Ost )Verbände in das Amt gehievt worden, um Ost wie West abzubilden, in der Hoffnung, dass damit "Die Linke" besser zusammenwachsen werde. Das erwies sich als Strukturfehler, Ernst und Lötzsch erwiesen sich als Fehlbesetzungen.
Zuvor war Dietmar Bartsch auf Druck Lafontaines wegen einer angeblichen Illoyalität aus dem Amt des Bundesgeschäftsführers gedrängt worden. Gysi hatte diese undankbare Aufgabe übernommen, weil für ihn damals Lafontaine als politisches Schwergewicht im Westen wichtiger war als sein alter Freund Bartsch. Dass er sich damit zum Handlanger des Saarländers hatte machen lassen, ist ihm im Osten nicht verziehen worden. Seitdem galt das Verhältnis zwischen Lafontaine und Bartsch als unversöhnlich und kaum reparabel, die Freundschaft zwischen Gysi und Bartsch hatte einen tiefen Riss erhalten.
Nunmehr hatte Bartsch bereits im November 2011 seine Kandidatur für den Parteivorsitz erklärt, die von den Ostverbänden unterstützt wurde.
Da Bartsch aber für viele Westverbände unwählbar war, wurde Lafontaine gedrängt, ebenfalls seine Kandidatur zu erklären. Er tat dies – zum Unverständnis vieler Genossen – erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen, die mit 2,5 Prozent krachend verloren ging. Seine späte Kandidatur knüpfte der Saarländer an Bedingungen, die für die Ostverbände unerträglich waren. So wollte er nicht in einer Kampfabstimmung gegen Bartsch antreten und seine Führungsmannschaft selbst bestimmen. Das schloss ein, seine Lebensgefährtin Sahra Wagenknecht sozusagen in direkter Erbfolge zur gleichberechtigten Vorsitzenden der Bundestagsfraktion neben Gregor Gysi zu machen, was nur als dessen allmähliche Entmachtung verstanden werden konnte. Für Bartsch war kein Platz vorgesehen. Die vorgesehene absolutistische Art der Krönung empfanden die Ostverbände als Demütigung, als Unterwerfung – eine Erinnerung an alte SED-Zeiten. Mit dem einsetzenden offenen Protest hatte Lafontaine so nicht gerechnet. Ein letzter Versuch der Aussprache mit den beiden Kontrahenten schlug fehl, worauf Lafontaine seine Kandidatur beleidigt zurückzog. Bartsch hatte sich kompromissbereit gezeigt, aber von Lafontaine kein Angebot erhalten, sodass sich Gysi öffentlich auf die Seite Bartschs schlug. Lafontaine hatte sich offensichtlich verzockt und wurde vom Osten nunmehr aufs politische Altenteil geschickt.
Nach seinem Rückzug, den er nur als Niederlage empfinden konnte, setzte eine Kampagne ein, wie sie "Die Linke" noch nicht erlebt hatte. "Was da jetzt passiert, offenbart eine Respektlosigkeit, die ich mir nicht hatte vorstellen können. Wir streiten nicht mehr um Inhalte. Es geht darum, den innerparteilichen Konkurrenten fertig zu machen", so Halina Wawzyniak, stellvertretende Parteivorsitzende.
Kampfansagen
Zunächst begann der Göttinger Parteitag recht sachlich, ruhig und unaufgeregt. Klaus Ernst hielt seine letzte Rede als Vorsitzender, ließ aber nur einmal aufhorchen, als er einräumte: "Auch die Führung hat Fehler gemacht. Ja, auch ich habe Fehler – ohne jeden Zweifel." Wer indes eine schonungslose Analyse erwartet hatte, wurde enttäuscht. Stattdessen erging sich Ernst in Medienschelte und im Gejammer um fehlende Solidarität in der Partei.
Die Diskussion plätscherte dahin, obwohl die unterschiedlichen Positionen durchaus erkennbar wurden. Vertreter der Ostverbände diskutierten pragmatisch, wie beispielsweise die Nordhäuser Landrätin Birgit Keller, die darum warb, "Die Linke" solle mit ihr zeigen, dass sie "nicht nur Opposition kann", sondern auch Verantwortung für die Gesellschaft übernehme. Demgegenüber erklärte die radikale Christine Buchholz aus Hessen im Vollbesitz der alleinigen Wahrheit: "Wir wissen es …", und forderte eine "Koalition des Widerstandes".
Für eine Strategiedebatte war keine Zeit. Eingeladen dazu hatte das Reformlager um Jan Korte, der einen alternativen Leitantrag eingereicht hatte. Der des Parteivorstandes war ihm zu inhaltsarm, berücksichtige nicht ausreichend, dass sich die Bedingungen seit 2009 für "Die Linke" verändert hätten, und reflektiere die tiefe Krise der Partei ungenügend. Als dann verschiedene Änderungswünsche in den Leitantrag des Vorstandes Eingang gefunden hatten, zogen die Reformer ihren zurück.
Insgesamt verlief die Diskussion in geordneten und bekannten Bahnen, wurde eine Zuspitzung vermieden. Bis kurzfristig zwei längere Redebeiträge von Gysi und Lafontaine in die Tagesordnung aufgenommen wurden. Per Münzwurf (!) wurde entschieden, wer zuerst redet.
Als Gysi als erster ans Rednerpult trat, wurde es still im Saal. Gysi las von einem wortwörtlich ausgearbeiteten Manuskript ab – für ihn, einen Meister der freien, geistreichen und humorvollen Rede, außergewöhnlich. Jedes Wort war wohlüberlegt, die Rede sehr ernsthaft, mit Bedacht vorgetragen, dem krisenhaften Zustand in der Partei angemessen.
Gregor Gysi nach seiner Rede beim Bundesparteitag in Dresden. (© picture-alliance/dpa)
Gregor Gysi nach seiner Rede beim Bundesparteitag in Dresden. (© picture-alliance/dpa)
Gysi zog die Reißleine: bis hierher und nicht weiter. Er zog Bilanz nach der fünfjährigen Vereinigung von PDS und WASG und musste gestehen, dass dieser Prozess "nicht gelungen" sei. Gysi verteidigte die Ostverbände, vor allem die Berliner und Brandenburger, vor permanenter Kritik aus dem Westen, weil sie Koalitionen mit der SPD eingegangen waren. Bestimmte Kritik aus den Westverbänden erinnere ihn an "die westliche Arroganz bei der Vereinigung unseres Landes … Wenn man eine Integration will, muss man auch die Seele der ostdeutschen Mitglieder verstehen." Dabei verwies er auf den Erfolg der "Linken" bei der Bundestagswahl 2009, bei der die Partei im Westen auf 8,7 Prozent, im Osten aber auf stolze 28,5 Prozent der Stimmen gekommen war. Den Westverbänden hingegen fehle "ein Hauch von Selbstkritik", noch dazu angesichts der Wahlniederlagen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. In der Bundestagsfraktion herrsche auch Hass, der Zustand sei pathologisch. Vieles führe in der politischen Kultur nicht zusammen, es bleibe gegenseitige Fremdheit. Falls sich die Lager nicht verständigen könnten, sei "es besser, sich fair zu trennen als weiterhin unfair, mit Hass, mit Tricksereien, mit üblem Nachtreten eine in jeder Hinsicht verkorkste Ehe zu führen."
Gysis Rede wurde mit großem Beifall bedacht. Alle waren irgendwie betreten über diese rigorose Zustandsbeschreibung der eigenen Partei und Fraktion. Es war wohl ein einmaliger Akt in der jüngeren deutschen Parteiengeschichte. Es wäre auch durchaus verständlich und auch in der Logik seiner Ansprache gewesen, wenn er zum Schluss erklärt hätte: Ich trete zurück. Stattdessen kam aber ein unfügsames "Trotz alledem!".
"Es war höchste Zeit, dass das mal gesagt wurde. Er hat uns aus der Seele gesprochen", so die Meinung vieler Ostdeutscher. Westler hingegen hatten Gysis Statement eher als Drohung, als ungerechtfertigt und als einseitige Parteinahme für den Osten verstanden. Man konnte diese Abrechnung jedoch auch als Eingeständnis werten, den Laden nicht im Griff zu haben. Gysi hatte das bedeutungsschwere Wort "Trennung" in den Mund genommen. Es war nicht das erste Mal, dass in ostdeutschen Landesverbänden darüber nachgedacht worden war, aber da Gysi als Fraktionsvorsitzender und als Autorität es offen aussprach, bekam die Sache eine ganz andere Bedeutung: Das war die Notbremse.
Gysi hatte fast bis zur Selbstaufgabe immer wieder Ost und West zusammenführen wollen. Keinen Parteitag hatte er ausgelassen, um darauf hinzuweisen, dass mit der Selbstbeschäftigung Schluss sein müsse und dass Ost und West aufeinander zugehen müssten. Mit seiner Rede in Göttingen hatte sich Gysi nicht länger als Makler zwischen Ost und West positioniert, sondern auf eine Seite geschlagen. Mit dieser Rede, mit seiner Haltung hatte er sich den menschlichen Respekt zurückgeholt, den er nach dem erzwungenen Bartsch-Rücktritt verloren hatte. Und Gysi hatte auch klar gemacht, wer seiner Meinung nach die Schuld trüge, wenn es zur Trennung käme.
Für einen kurzen Moment erhielt "Die Linke" eine Chance, innezuhalten im innerparteilichen Zwist. Aber die Chance wurde grandios vertan. Lafontaine wirkte sichtlich überrascht und genervt. Gysis Rede war nicht mit ihm abgesprochen. Er konnte sie nur als Angriff auf sich selbst und auf die Westverbände verstehen. Als Lafontaine ans Mikrofon ging, wollte er, mit hochrotem Kopf, von Zorn getrieben und schreiend, Gysi nur in einem einzigen Satz zustimmen: "Wir haben kein Recht, diese linke Partei zu verspielen." Doch, so entgegnete er Gysi, es gebe "keinen Grund, das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen." Lafontaine räumte ein, dass es auch in linken Parteien "immer mal wieder Eitelkeiten, Rangeleien, Missgunst und Neid" gebe. Er verwahrte sich gegen den Vorwurf, im Osten gebe es die Reformer und die Regierungswilligen und im Westen die Fundis und die Regierungsunwilligen. "Wenn solche Verleumdungen und Hetzkampagnen von der Presse gegen uns gerichtet werden …, dann müssen wir das nicht auch noch akzeptieren oder sogar nachbeten", schoss Lafontaine zurück: "Warum dieses dumme Gerede von Regierungsunwilligkeit?" Gysis Bedenken wischte er mit der Bemerkung weg, man solle "Befindlichkeiten" nicht mit "programmatisch gravierenden Differenzen" verwechseln. Schließlich sei das Parteiprogramm in Erfurt mit 95 Prozent Zustimmung beschlossen worden. Das sei entscheidend. Wenn nur von den Misserfolgen im Westen die Rede sei, so wolle er doch auf die stolzen 16 Prozent hinweisen, die er im Saarland erreicht hätte.
Lafontaine hatte seinen Redebeitrag mit den Sätzen eröffnet: "Ich habe mit Gregor Gysi lange Jahre gut zusammen gearbeitet. Für diese Zusammenarbeit danke ich ihm." Das klang schon wie ein Nachruf.
Lafontaines zornige Rede kam bei den Westverbänden an. Sie johlten und trampelten. Die Gräben waren zu besichtigen. Die beiden Alphatiere hatten sich positioniert, ihr Streit stand stellvertretend für die Grundströmungen in der Partei. Lafontaine hatte "Die Linke" mehrfach als "politisches Projekt" bezeichnet, bei dem für ihn persönliche Rachgelüste gegenüber der SPD eine Rolle spielen dürften. Gerade deshalb wäre auch für Lafontaine ein Scheitern dieses Projekts ein Trauma.
Durch die beiden Reden wurde kein Graben zugeschüttet, sondern der vorhandene weiter ausgehoben. Das Tischtuch zwischen Gysi und Lafontaine war (vorläufig) zerschnitten. "Die Linke" reduzierte sich auf eine Zweckgemeinschaft, eine Notgemeinschaft, eine Hassliebe. Keiner kann vom anderen lassen.
Wahlen
In dieser aufgeladenen, merkwürdig geisterhaften Atmosphäre schritt man zur Wahl der neuen Parteiführung. Es gab keinen Personalvorschlag, auf den man sich im Vorfeld verständigt hätte. Das machte sowohl deutlich, wie festgefahren die Situation war, als auch, dass es keine Mitte und auch kein Zentrum in dieser Partei gibt. Beide großen Lager, Lafontaine und Bartsch beäugten sich misstrauisch.
Die Satzung der Partei schreibt eine Doppelspitze vor. Im ersten Wahlgang für die Parteivorsitzenden musste eine Frau gewählt werden, im zweiten gab es eine gemischte Liste. Insgesamt lagen elf Bewerbungen vor.
Im Vorfeld hatte die Dresdnerin Katja Kipping den Vorschlag eines "dritten Weges", einer weiblichen Doppelspitze mit Katherina Schwabedissen aus Nordrhein-Westfalen, unterbreitet, um strömungsübergreifend einen Ausweg aus der festgefahrenen Lage zu finden. Der Vorschlag einer weiblichen Doppelspitze hatte seinen Charme, war aber wenig realistisch. Kipping erkannte ihre Chance und kandidierte für den aussichtsreichen Frauenplatz. Schwabedissen, die gerade die Wahl in NRW verloren hatte, hatte dann auf der gemischten Liste antreten wollen, zog aber ihre Bewerbung zurück. Die Westverbände wollten eine Richtungsentscheidung gegen Bartsch erzwingen, da passten Schwabedissen und der Gedanke einer weiblichen Doppelspitze nicht ins Konzept.
Katja Kipping trat gegen Dora Heyenn, 63-jährige Fraktionschefin aus Hamburg an. Heyenn wäre die ideale Partnerin für Dietmar Bartsch gewesen. Sie könne mit jedem zusammenarbeiten, betonte die eher pragmatische Politikerin. Aber ihre Bewerbungsrede war schwach, sie wirkte unkonzentriert und müde. Die 34-jährige Kipping dagegen wirkte frisch, eloquent, humorvoll – und kam gut an bei den Delegierten. Sie hatte außerdem bei den Westverbänden die besseren Karten, weil sich mit der Wahl einer Ostfrau die Chancen für einen (zweiten) Ostmann, eben Bartsch, verschlechterten. Kipping wurde mit 67,1 Prozent gewählt. Damit stand sie als erste Vorsitzende fest.
Der zweite Wahlgang auf der gemischten Liste geriet zum Duell Dietmar Bartsch gegen Bernd Riexinger. Zuvor gab Sahra Wagenknecht – ohne dazu aufgefordert zu sein – in einer persönlichen Erklärung bekannt, dass sie nicht gegen Bartsch antreten wolle. Gleichzeitig empfahl sie, den Ost-West-Proporz einzuhalten, was nur hieß, Bartsch nicht zu wählen. Das hatte alles etwas Gespenstisches an sich. Riexinger, Landesvorsitzender aus Baden-Württemberg, kannte allerdings vorher kaum jemand. Aber er ist mit Lafontaine befreundet und war von diesem zusammen mit Ernst und Maurer drei Tage vor dem Parteitag aus dem Hut gezaubert und gedrängt worden, gegen Bartsch anzutreten. Das Pikante daran: Im Machtkampf zwischen Lafontaine und Bartsch 2009 hatte Riexinger offen die Ablösung Bartschs als Bundesgeschäftsführer gefordert.
Bartsch hielt eine fulminante Bewerbungsrede. Selbst Mitarbeiter aus der Parteizentrale hatten den eher sachlichen Norddeutschen noch nie so kämpferisch erlebt. Inhalt und Form stimmten optimal überein. Riexinger sprach anschließend, war sichtlich beeindruckt, wirkte rhetorisch wie auch inhaltlich überfordert. Aber mit einigen revolutionär klingenden Worthülsen wie: "Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte", brachte er die Westverbände zu frenetischem Beifall. Bartsch erhielt 45,2, Riexinger 53,5 Prozent. Große Enttäuschung im Bartsch-Lager, es floss auch manche Träne; Scharfmacher aus den Westverbänden johlten, stimmten die Internationale an und skandierten: "Wir haben den Krieg gewonnen!" Eine unglaubliche Stimmungsgemengelage. Bartsch erwies sich als fairer Verlierer, gratulierte seinem Kontrahenten und zog sich dann zurück.
Die beiden neuen Vorsitzenden der "Linken", Katja Kipping und Bernd Riexinger, auf dem Göttinger Parteitag (© picture alliance / Sven Simon )
Die beiden neuen Vorsitzenden der "Linken", Katja Kipping und Bernd Riexinger, auf dem Göttinger Parteitag (© picture alliance / Sven Simon )
Damit waren die beiden Vorsitzenden gewählt, doch hinterließ die Wahl einen Nachgeschmack. Kipping muss mit dem Vorwurf leben, den aussichtsreicheren Bartsch verhindert zu haben. Und Riexinger damit, von Lafontaine und seinen Strippenziehern in Stellung gebracht worden zu sein – nicht wegen Kompetenz und Können, sondern eigentlich nur, um Bartsch zu verhindern. Für Riexinger sprachen lediglich sein westdeutscher Hintergrund, seine feste Verankerung in den Gewerkschaften und seine eher ruhige Art.
Die selbst- und offensichtlich auch machtbewusste Kipping kennt sich aus im Geflecht der Partei. Als Dresdner Stadträtin, Mitglied des sächsischen Landtages, stellvertretende Parteivorsitzende seit 2003 und Bundestagsabgeordnete seit 2005 bringt sie eine Menge politischer Erfahrung mit. Für sie spricht ihre Jugend, ihre Frische, sie verkörpert einen Generationswechsel, hat sich nicht in Flügelkämpfen aufgerieben und war auch für die Westverbände wählbar, zumal ihre Kandidatur die Chancen für Bartsch reduzierten. Eine rein ostdeutsche Doppelspitze Kipping/Bartsch wäre nicht durchsetzbar gewesen. Insofern hatte Bartsch ein respektables Ergebnis erzielt.
Dietmar Bartsch war auch im Osten nicht unumstritten. So gab es eine merkwürdige Gemengelage, jenseits mancher persönlicher Animositäten. Manche Kritiker meinten, Bartsch sei ein sehr guter Organisator, aber ob er eine Partei führen könne, sei fraglich. Er sei nicht in den Gewerkschaften verankert, ein Mann des Apparates, zu SPD-freundlich. Mit Bartsch an der Spitze würden sich die Grabenkämpfe erst recht fortsetzen. Nicht zuletzt hatte Bartsch mit seinem Festhalten an seiner Kandidatur die Wiederkehr Lafontaines an die Parteispitze verhindert. Gleichwohl, Bartsch hatte Haltung und Selbstbewusstsein gezeigt, den Ostlern demonstriert, dass man sich nicht dem Westen, sprich Lafontaine, unterwerfen müsse.
Nachdem Bartsch als Parteivorsitzender verhindert worden war, konnte wieder jemand aus dem ostdeutschen Reformlager in die Parteispitze: Bei der Wahl zum Bundesgeschäftsführer erzielte der Magdeburger Landesvorsitzende Matthias Höhn, der durchaus zum Bartsch-Lager gerechnet werden darf, als einziger Kandidat 80,9 Prozent der Stimmen. Höhn wirkt so zwar wie ein Zugeständnis, aber mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf Stabilisierung.
Spannend wurde es noch einmal, als es um den wichtigen Posten des Bundesschatzmeisters ging. Als bis dahin einziger Kandidat stellte sich Raju Sharma der Wiederwahl. Obwohl er aus Hamburg kommt ist er eindeutig dem Bartschen Reformlager zuzuordnen. Um Sharmas Wiederwahl zu verhindern, brachte das Lafontaine-Lager in letzter Minute dessen Vertrauten Heinz Bierbaum in Stellung. Sharma gewann mit 59,9 Prozent. Bei der Wahl der vier stellvertretenden Parteivorsitzenden wiederum erzielte Sahra Wagenknecht aus dem Lafontaine-Lager das beste Ergebnis mit 57,1 Prozent.
Mit der Verhinderung von Bartsch hatte das Lafontaine-Lager sicherlich einen Sieg errungen, aber in der Summe hatte der Parteitag doch recht rational entschieden und die Verhältnisse auch wieder ausbalanciert. Abstoßend wirkte die Strippenzieherei, die Art und Weise, wie offen und unverblümt sich Lafontaine, Wagenknecht, Ernst und Maurer versammelten, die Stimmung testeten und auskungelten, wann sie wen in Stellung bringen müssten. Dem schauten die Ostverbände mehr oder weniger hilflos, aber frustriert zu.
Gedankenspiele
Was wäre gewesen, wenn der Münzwurf anders entschieden hätte? Dann hätte Lafontaine zuerst gesprochen, eine seiner üblichen Reden gehalten, über seine klugen Vorschläge zur Bekämpfung der Auswüchse des Finanzkapitalismus, über die Krise des Euro und Europas, über seinen Lieblingsfeind, die SPD, und darüber, dass er doch alles schon vorher gewusst hätte. Gysi hätte mit seiner schonungslosen Analyse das letzte Wort gehabt. Wie hätte der Parteitag reagiert? Mit mehr Besonnenheit und Nachdenklichkeit? Und wie hätte das die anschließende Wahl beeinflusst? – So aber hatte Lafontaine das letzte Wort, und er nutzte die Gelegenheit, gegen Gysi anzureden und den Saal aufzuputschen.
Was wäre, wenn der Delegiertenschlüssel die Mitgliedschaft 1:1 abgebildet hätte und die Westverbände ihre "Karteileichen" aussortiert hätten? Dann hätten die Ostverbände weit über hundert Delegierte mehr zum Parteitag entsenden können – und Bartsch hätte wohl die Wahl zum Parteivorsitzenden gewonnen.
Was wäre, wenn Bartsch gewählt worden wäre? Dann hätten das Lafontaine-Lager und die Westverbände eine empfindliche Niederlage hinnehmen müssen. Aber sie hätten sicherlich nicht Ruhe gegeben und ständig gegen Bartsch intrigiert und seine auf Ringen um Mehrheiten zielende Politik torpediert. Mit Sicherheit wären die Gräben weiter vertieft worden, der Streit hätte sich verfestigt.
Was wäre, wenn es zur Trennung gekommen wäre? Spätestens seit Gysi das Wort "Trennung" in den Mund nahm, schwebte das Gespenst über der "Linken". Es wäre zu gegenseitigen Schuldzuweisungen mit einer verheerenden Außenwirkung gekommen und das Eingeständnis gewesen, dass das Projekt einer gesamtdeutschen "Linken" gescheitert wäre. Jene, die es besser machen wollten als die "etablierten Parteien", wären kläglich gescheitert. Die Ost-"Linke" würde wieder als ostdeutsche Regionalpartei firmieren, hätte aber als ostdeutsche Volkspartei auf Landesebene eine mittelfristige Zukunft gehabt. Die West-"Linke"/WASG würde sich selbst zerlegen und als Splitterpartei weiter existieren. Lafontaine wäre politisch am Ende gewesen. Bei einer Trennung würden beide Seiten verlieren, aber für die West-"Linke" wäre es die Katastrophe.
Probleme
Der Parteitag hat ein neues Führungspersonal gewählt. Man hofft, dass dadurch Ruhe einkehrt – gleichwohl bleiben die Probleme. Die Botschaft: "Wir wollen jetzt alle lieb zueinander sein und einander zuhören", reicht nicht, sondern verhindert erneut eine Analyse der eigentlichen Problemlage. Indem Lafontaine herausbrüllte, keiner solle das Wort Spaltung in den Mund nehmen, verhängte er faktisch ein Verbot, über die tatsächlichen Probleme zu reden.
Zu diesen gehört zunächst die kulturellen Differenz zwischen Ostlern und Westlern. Was bei Gysi zu Seelenschmerz und Wutausbruch führte, tat Lafontaine mit "Befindlichkeiten" ab. Die Ost-"Linken", wie viele Ostler allgemein, fühlen sich von den Westlern "über den Tisch gezogen" und von "westlicher Arroganz" dominiert. Tatsächlich profitieren die Westverbände finanziell und strukturell von denen im Osten. Bei der Vereinigung von WASG und PDS erwies sich letztere als der weitaus stärkere Partner als überaus großzügig. Man wollte den "Aufbau West", der schleppend verlief, vorantreiben, sich auf Augenhöhe vereinigen. Das hieß praktisch, die WASG auf Augenhöhe zu heben. Dabei nutzte die WASG die reichlich vorhandenen Ressourcen und Strukturen der PDS weidlich aus.
"Die Linke" hat zurzeit 68.200 Mitglieder, davon 41.484 im Osten und 26.716 im Westen. Eine genaue Abbildung dieses Verhältnisses ergäbe 304 Parteitagsmandate für die östlichen und 196 für die westlichen Gliederungen. Tatsächlich setzte sich der Parteitag jedoch aus 272 Ost- und 228 Westdelegierten zusammen. Hinzu kamen 50 Delegierte aus bundesweiten Zusammenschlüssen und 20 für den Jugendverband "Solid". Rechnete man die "Karteileichen" (Beitragsrückstände Ost: 6,6, West: 19,3 Prozent) heraus, reduzierte sich die Zahl der Westmandate nochmals.
PDS und WASG taten sich am Anfang sehr schwer, miteinander überhaupt ins Gespräch zu kommen. Bisky und Ernst trauten sich gegenseitig nicht über den Weg. Für Ernst war die PDS die alte SED, und Bisky sah in der WASG eine linke gewerkschaftsdominierte Chaotentruppe. Erst als Lafontaine aufsprang, nahm das Projekt Fahrt auf.
Wie tief die kulturellen Gräben heutzutage noch sind, offenbarte sich im kompletten Rücktritt der Bundesschiedskommission am Rande des Parteitages. Die Kommission sah sich nicht in der Lage, die Menge der Verfahren zu bewältigen, mit denen Parteimitglieder andere Parteimitglieder überzogen. "Unsere Bemühungen haben nicht zur Befriedung der Partei geführt", so Sibylle Wankel seitens der Kommission.
Schaut man genauer hin, so geht es meist um Parteiausschluss und Wahlanfechtung. Schaut man in die Länder, so stehen an der Spitze Westverbände wie Bayern, Saarland, Nordrhein-Westfalen, fast marginalisiert dagegen am Ende überwiegend die Ostverbände. Diese Art von Streit-"Kultur" ist vornehmlich ein westdeutsches Problem. Aber, so hatte Ernst seinerzeit auf dem Dortmunder Vereinigungsparteitag getönt, man wolle den Ostlern eine ordentliche Streitkultur beibringen. Und so verhielt Ernst sich bis zum Schluss. Kaum einer in der Parteizentrale ist traurig über seinen Weggang. Die Ostler verstörte sein Statement nachhaltig.
So vereinigten sich zwei Parteien, die nicht recht zueinander passten. Die WASG hatte ganz andere Wurzeln als die PDS, die PDS war eine Volkspartei im Osten mit Politikanspruch, die WASG definierte sich aus ihrem Kontra zur SPD. Die PDS wollte mit den Sozialdemokratien um neue Mehrheiten ringen, die WASG hatte gerade deren Reihen verlassen.
Seit die Einheitseuphorie in der "Linken" verflogen war, setzte sich im Osten ein Gefühl der schleichenden Übernahme durch die West-"Linken" durch. Ostdeutsche Gutgläubigkeit stand gegen harte westdeutsche Interessenvertretung. Auf dem Essener Parteitag 2009 wurden die PDS-Urgesteine und Europaexperten, André Brie und Sylvia-Yvonne Kaufmann, beide Kritiker Lafontaines, aussortiert, im Januar 2010 der Reformer Bartsch auf dessen Geheiß zum Rücktritt als Bundesgeschäftsführer gedrängt, auf dem Erfurter Parteitag schließlich ein Programm beschlossen, das in seinem Realitätsgehalt hinter dem Chemnitzer Programm der PDS zurückbleibt und deutlich die Handschrift des Saarländers trägt. Die West-"Linke" mit Lafontaine und Wagenknecht an der Spitze drängt auf Fundamentalopposition, während die Ost-"Linke" als eine 20-Prozent-Partei Politik gestalten will.
Dieser Unterschied macht sich hauptsächlich an der früheren deutsch-deutschen Grenze fest, aber nicht nur. Man sieht das an dem Wahlergebnis von Bartsch. Es gibt keinen einheitlichen "Ostblock". Auch hier gibt es die "Kommunistische Plattform", das "Marxistische Forum", den "Geraer Dialog", die auf Fundamentalopposition setzen. Andererseits gibt es auch keinen einheitlichen "Westblock". Spricht man mit Leuten, die dort in den Kommunen Verantwortung tragen, so ergeben sich viele Gemeinsamkeiten mit den Ost-"Linken".
In programmatischer Sicht gibt es offensichtlich mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes zwischen den Lagern. Die große Zustimmung auf dem Erfurter Parteitag verdeckt allerdings, dass nicht einmal die Hälfte der Mitglieder an der darauf folgenden Urabstimmung teilgenommen hat und die eigentlichen Probleme bis heute überhaupt nicht ausdiskutiert sind. Gleichwohl diente die hohe Zustimmungsrate dazu, den Flügelkampf für beendet zu erklären. Welch ein Irrtum!
Offensichtlich liegt das zentrale Problem in der strategischen Umsetzung. Wie sollen die großen Ziele der Partei mittel- und langfristig in konkrete Politik umgesetzt werden? Und vor allem: mit wem? Die Haltung zur SPD erweist sich als entscheidende strategische Differenz. Hier gehen die Meinungen weit auseinander, und hierauf gab der Parteitag in Göttingen keine Antwort. Es fehlt eine Strategiedebatte mit konkretem Ergebnis. Das Angebot von Kipping und Riexinger, zuhören zu wollen, kann Ruhe in die Partei bringen, ist jedoch keine Antwort auf drängende strategische Fragen. Stattdessen übt sich die Partei in avantgardistischer Pose und verkündet, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein, und ist stolz auf ihr Alleinstellungsmerkmal "Wir gegen alle".
"Die Linke" entstand aus einer historischen Ausnahmesituation heraus, sie hat davon profitiert. Nachdem die Westausdehnung der PDS gescheitert war, ergab sich plötzlich eine gesamtdeutsche Perspektive. Anlass war die Agenda-Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die WASG konnte im Umfeld der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 frustrierte linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter einsammeln. Von beidem profitierte die Linkspartei. Sie setzte auf Kernthemen, gegen Hartz-IV, gegen die Rente mit 67, gegen den Afghanistan-Krieg. Sie besaß den Charme des Neuen und entfaltete eine eigene Dynamik.
Das hielt bis zur Bundestagswahl 2009, dann war das historische Momentum vorbei. Die Kernthemen erwiesen sich nicht mehr als zugkräftig, doch "Die Linke" versäumte es, auf neue Themen zu setzten. Das Thema Europa blieb abstrakt, die Finanzkrise ebenso. "Die Linke" beschwor den Untergang, während es den meisten Deutschen gut ging und die Mehrheit der Wähler Merkels Kurs der Stabilität und Sparsamkeit schätzte. "Die Linke" blieb bei ihrem "Kurs halten", obwohl die SPD 2009 in die Opposition geriet, vorsichtig nach links driftete, Themen der "Linken" übernahm und damit deren Kernkompetenz, soziale Gerechtigkeit, wieder an sich zog. Der "Linken" blieb die Funktion, soziale Forderungen radikaler als die Sozialdemokraten zu stellen und somit Druck auf die anderen Parteien, besonders die SPD, auszuüben. So wird sie eher instrumentell, als Korrektiv gegenüber anderen Parteien, wahrgenommen.
"Die Linke" gilt mittlerweile als etablierte Partei, es gelang ihr nicht, auf die "Occupy!"-Bewegung aufzuspringen, die "Piraten" haben sie gänzlich überrascht. Die wirken jung, unverbraucht, unorthodox, modern und nicht angepasst. Alles Attribute, die auf "Die Linke" nicht (mehr) zutreffen. Während sie 2005 und auch noch 2009 das Protestpotenzial an sich ziehen konnte, hat sie mittlerweile diese Funktion zu erheblichen Teilen eingebüßt. Wie die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen gezeigt haben, sind viele Wähler, die vorher "Die Linke" gewählt hatten, zur SPD zurückgekehrt. Nur 194.000 Wähler machten ihr Kreuz bei den "Linken", während mehr als 250.000 Wähler der Partei den Rücken kehrten, davon wanderten 90.000 zur SPD zurück. Bei der Kompetenzzuschreibung "soziale Gerechtigkeit", dem Thema der "Linken", kam die Partei lediglich auf sieben Prozent, die SPD hingegen auf 47. Das ist ein Einbruch, dessen Ursachen überhaupt nicht diskutiert wurden. Stattdessen suchte man die Schuld allein in den Berliner Führungsquerelen und bei den "bürgerlichen Medien".
Die Besetzung der Parteispitze mit Lötzsch/Ernst im Jahre 2000 erwies sich als fataler Fehler. Die Partei bewegte sich auf der Stelle und wurde durch Personalquerelen verzehrt. Statt auf die tatsächlichen Bedürfnisse und Lebenswelten der Menschen zuzugehen, verharrt ein Teil der (West-)"Linken" eher in revolutionärer Rhetorik im Kampf gegen den Kapitalismus schlechthin, in einer Wächterfunktion der reinen antikapitalistischen Lehre. Erst müsse der Kapitalismus beseitigt sein, bevor ein besseres Leben beginnen könne.
Lafontaine hat der "Linken" seinen Stempel aufgedrückt. Er ist für den Zustand der Partei hauptverantwortlich. Er hat grandiose Siege (im Westen) eingefahren, hat aber auch für den Trümmerhaufen gesorgt, vor dem "Die Linke" gegenwärtig steht. Im Grunde kämpft er Schlachten von gestern.
Ausblick
Die Zeit bis zur Bundestagswahl, im Herbst 2013, ist knapp. Die Partei ist dabei, sich neu zu sortieren. Davor liegt die Landtagswahl in Niedersachsen im Januar 2013. Gelingt der "Linken" hier der Wiedereinzug in den Landtag nicht – wonach es gegenwärtig eher aussieht –, sind die Voraussetzungen für den Wiedereinzug in den Bundestag schlecht. Sollte auch dies nicht gelingen, steht das linke Projekt wohl auf der Kippe. Das wäre der "Worst case". In der Partei herrscht viel Verunsicherung und nur verhaltener Aufbruch. Sollte "Die Linke" den Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag schaffen, liegt ein neuer Knackpunkt in der Wahl ihres Fraktionsvorsitzenden dort. Gysi will wieder antreten, wird aber zusehends attackiert von den Linken in der "Linken". Die versuchen, nachdem sie Bartsch losgeworden sind, nun auch Gysi als letzte Bastion der alten PDS zu schleifen. Sie wollen Sahra Wagenknecht als alleinige Fraktionsvorsitzende sehen, was Gregor Gysi bislang verhindert hat. So forderte die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke aus NRW auf der ersten Fraktionssitzung nach dem Göttinger Parteitag unverhohlen, 2013 müsse "es passieren".
Auch die Frage der Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl birgt viel Konfliktpotenzial. Noch völlig offen ist, wer es sein wird und wie das Nominierungsverfahren aussehen soll. Beim Parteitag 2009 waren Gysi und Lafontaine per Akklamation gewählt worden. Gysi hat seine Bereitschaft erklärt, 2013 erneut zusammen mit Lafontaine 2013 kandidieren zu wollen. Nach Lafontaines Rückzug ist indes unklar, ob der noch einmal antreten wird. Dafür meldete "Der Spiegel", dass Wagenknecht als alleinige Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl antreten wolle, was diese zwar umgehend als "absurdes Gerücht" zurückwies, die parteinahe Zeitung "Neues Deutschland" aber zu der Schlagzeile veranlasste: "Wagenknecht dementiert geplante Entmachtung Gysis".
Wie dem auch sei, nach dem Parteitag ist vor dem Parteitag. Der Streit geht weiter. Personelles Konfliktpotenzial gibt es genug. Tendenziell geht es um eine weitere Entmachtung der Reformkräfte, namentlich um Gysi. Bisky hat sich zurückgezogen, Bartsch ist gescheitert, nun geht es gegen Gysi. Es ist wohl eine Frage der Zeit, wann Wagenknecht übernimmt. Das wäre das Ende der alten PDS.
Aber: 2014 endet die quotierte Bevorzugung der Westverbände. Dann wird sich die Zahl der Delegierten erstmals an der realen Mitgliederzahl ausrichten. Die Ostverbände besäßen dann wahrscheinlich ein Übergewicht von drei Fünfteln. Geht man von den verheerenden Ergebnissen der letzten Landtagswahlen im Westen aus, so ist auch in der Bundestagsfraktion mit einer Verschiebung zu rechnen. Der Osten als relativ stabiler Anker der "Linken" wird die Fraktion dominieren. All das sieht den Osten – und auch Gysi – mittelfristig in einer stärkeren Position.
Kipping und Riexinger verkörpern einen anderen Führungsstil als Gysi und Lafontaine. Sie sind eher von der leisen Art und betonen eine "Kultur des Zuhörens". Will Riexinger politisch überleben, muss er das Stigma loswerden, er sei der neue Klaus Ernst von Lafontaines Gnaden. Er sei "ein eigenständiger Kopf", betonte er sogleich und wandte sich den Ostverbänden zu, zuerst dem Lafontaine-kritischen Berliner Landesverband. Dieser empfing ihn mit freundlichem Applaus. Es scheint so, als wollten die Ostverbände der neuen Führung eine Chance einräumen und als wollte auch Riexinger auf die Ostverbände zugehen. Für ihn ist das ein schwieriger Lernprozess. Geografisch und auch kulturell ist der Schwabe weit entfernt vom Osten. Er führte seinen desolaten 3.000-köpfigen Landesverband in die Landtagswahl 2011 und fuhr magere 2,8 Prozent ein. Wie will er, so manche Kritiker, sich gegenüber den Ostverbänden behaupten, die Ergebnisse über 20 Prozent erzielen? Der Verdi-Gewerkschafter Riexinger war zwar aus Protest gegenüber Schröders Agenda-Politik in "Die Linke" eingetreten, aber nie SPD-Mitglied gewesen. Seine Haltung zu den Sozialdemokraten scheint differenzierter zu sein, was von Vorteil sein dürfte. Der 56-jährige Riexinger ist alles andere als ein begnadeter Redner oder Medienprofi. Sowohl am Rednerpult als auch vor der Kamera wirkt er unsouverän und in seiner Ausstrahlung begrenzt. Das ist sicherlich in der Mediengesellschaft ein Nachteil. Seine eher zurückhaltende, leise, nicht polternde, integrative und bodenständige Art kann aber durchaus von Vorteil für das Zusammenwachsen in der Partei sein. Das wurde allerdings konterkariert durch den Kreisvorstand von Zollernalb in Baden-Württemberg, seiner Heimat. Der erklärte nach dem Göttinger Parteitag seinen Austritt aus der Partei. Mit dem neuen Vorsitzenden und seinem fundamental-oppositionellen Kurs seien keine Wahlerfolge zu erzielen, so die Begründung.
Die 34-jährige Katja Kipping aus Dresden hingegen sollte man nicht unterschätzen. Sie gehört zu den relativ neuen Gesichtern der Partei, gehört keinem Flügel an und kann so integrativ wirken. Sie vertritt eine junge, neue Generation, für die weder DDR noch alte Bundesrepublik, sondern das vereinigte Deutschland signifikante Größen sind. Sie gilt nicht als ostlastig. Sie gilt als sehr ehrgeizig, als talentiert und auch als durchaus machtbewusst. In Göttingen hatte sie im rechten Moment nach dem Vorsitz gegriffen und dabei eben mal schnell ihren Ansatz des "dritten Weges" wie auch ihre Mitstreiterin Katherina Schwabedissen hinter sich gelassen. Die neuen Vorsitzenden haben ihre Wurzeln weder in der SPD noch in der SED. Das kann durchaus eine Chance sein.
Ob die beiden über die nötige Autorität, Kompetenz und auch Führungsqualität verfügen, die Partei aus der Krise und erfolgreich in die Bundestagswahl zu führen, bleibt abzuwarten. "Die Linke" ist aufgewühlt und verunsichert nach zermürbenden Flügel- und Personalkämpfen und Wahlniederlagen in Folge. Hatte sie vor drei Jahren noch zwölf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen können, so verharrt sie gegenwärtig bei fünf Prozent. Das Alarmierende daran ist, dass "Die Linke" ausgerechnet in der gegenwärtigen Kapitalismus- und Eurokrise derart an Zuspruch verliert. Einer Umfrage der "Leipziger Volkszeitung" zufolge trauen nur 14 Prozent der befragten Deutschen Kipping und Riexinger zu, die Parteiflügel zu versöhnen und "Die Linke" aus der Krise zu führen.