Ob "braun" vor 1945 oder "rot" nach 1945 – die Lebenswege vieler Menschen wurden nachhaltig durch die politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich instabilen Jahre der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus mit ihren völlig konträren Systemen führten zuweilen zu erstaunlichen biografischen Brüchen. Einige Menschen stellten sich zur "richtigen" Zeit und mit voller Überzeugung auf die Seite der politischen Machthaber und wurden so zu Nutznießern der politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Der Lebenslauf des Juristen Walter Neye ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.
Forschungsstand und Forschungsinteresse
Während der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit trotz einiger Forschungslücken als breit analysiert und erforscht gelten kann, ergibt sich für die Verarbeitung des NS-Faschismus und seiner Folgen in der DDR ein anderes Bild: Westliche Historiker hatten vor der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 keinen Zugang zu den Quellen der Nachkriegsgeschichte in den Archiven der DDR – ihre Forschungen beschränkten sich daher auf das Gebiet der Bundesrepublik. Für DDR-Historiker dagegen bestand bis zu den 1980er-Jahren offensichtlich – zumindest offiziell – kein Forschungsbedarf, da angenommen wurde, dass die Entnazifizierung auf dem Gebiet der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik erfolgreich verlaufen war. Der Prozess der Entnazifizierung erschien lange Zeit als vollständig gelungener Akt der Eliminierung des Faschismus. Doch das Ergebnis war nicht die Befreiung der ostdeutschen Bevölkerung von rassistischen und autoritären Überzeugungen, sondern die Konstituierung einer kleinbürgerlichen Gesellschaft, in der Angehörige der vormals faschistischen Eliten funktionaler Bestandteil der von Kommunisten dominierten Eliten wurden. Die Führung der SED stellte die ostdeutsche Bevölkerung an die Seite der siegreichen UdSSR. Diese Entwicklung hatte für das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein der Mehrheit der Ostdeutschen tiefgreifende Folgen.
Durch den Umbruch im Jahr 1989 stellten sich im wiedervereinigten Deutschland neue Fragen und ergaben sich neue Perspektiven zur gemeinsamen NS-Geschichte. Im Kontext der DDR-Geschichte wurden alte Selbstverständlichkeiten infrage gestellt. Insbesondere hat trotz gewichtiger Erkenntnisse zu einzelnen Berufsgruppen bis in die Gegenwart kaum eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung über die "funktionalen und positionellen Eliten" in der gesamtdeutschen Geschichte stattgefunden. Weshalb die Geschichtswissenschaft diesen Teilbereich der Forschung nur sehr zögerlich aufgegriffen hat, lässt sich auch damit erklären, dass diejenigen Historiker, die den NS-Faschismus inhaltlich und organisatorisch unterstützt haben, mit den von ihnen ausgebildeten Historikern ein langewährendes "Schweigekartell" eingegangen sind.
Der beschriebene Forschungsstand begründet auch das Forschungsinteresse der vorliegenden Fallstudie. Sie versteht sich als ein Beitrag zur Gesamtheit der biografischen Studien über funktionale und positionelle Eliten in der gesamtdeutschen Geschichte. Personelle Kontinuitäten mit gravierenden biografischen Brüchen durchzogen alle gesellschaftlichen Bereiche der Bundesrepublik und der DDR: Dies galt gleichermaßen für die Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und die Wissenschaft.
Rechtsanwalt und NSDAP-Mitgliedschaft: Neyes Werdegang bis 1933
Walter Eduard Hermann Neye wurde am 24. Juli 1901 in Arnsberg/Westfalen geboren.
Die "Arisierung" der Gartenstadt Atlantic AG
Walter Neye wurde am 17. November 1933 zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Gartenstadt Atlantic, einer Wohnanlage in Berlin-Wedding, die als Aktiengesellschaft firmierte, gewählt.
Karl Wolffsohn (1881–1957), Aufnahme Ende der 1930er-Jahre. (© Institut für Zeitgeschichte)
Karl Wolffsohn (1881–1957), Aufnahme Ende der 1930er-Jahre. (© Institut für Zeitgeschichte)
Karl Wolffsohn, geboren 1881 in Wollstein/Posen, war unternehmerisch in der Film- und Kinobranche tätig. 1911 übernahm er in Berlin die Leitung des Verlages der Lichtbild-Bühne (LBB), der wesentliche Fachmedien der Branche publizierte. Der Verlag wurde 1936 von den Nationalsozialisten "arisiert".
1919 gründete Wolffsohn mit acht weiteren Geschäftspartnern das Theater "Scala", das schnell zu einem über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Varieté wurde. Das Unternehmen baute 1929 den alten Berliner Ostbahnhof um und errichtete darin das imposante "Plaza"-Theater, welches 3.000 Zuschauer fasste. Ende der 1920er-Jahre traf die Weltwirtschaftskrise den im Aufbau befindlichen Konzern hart und bedingte unüberwindbare Zahlungsschwierigkeiten. Mit der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten gerieten die jüdischen Eigentümer immer mehr unter Druck. Der Hauptkreditgeber, die Dresdner Bank, die aufs engste mit dem NS-Regime kooperierte
Bereits seit 1928/29 hatte Karl Wolffsohn unter dem Namen "Lichtburg" eine Kinokette in Deutschland aufgebaut. Die Suche nach geeigneten Gebäuden, um Kinos zu betreiben, führte ihn in den Berliner Wedding, wo gerade der Wohnkomplex mit Ladengeschäften der Gartenstadt Atlantic gebaut wurde.
Lichtburg Berlin, Postkarte aus den 1930er-Jahren.
Lichtburg Berlin, Postkarte aus den 1930er-Jahren.
Der mehrere Millionen Mark teure Bau wurde durch die Berlinische Boden-Gesellschaft (BBG) geplant und ausgeführt. Das Wohnprojekt war in den Jahren 1926–1929 von der Handelsgesellschaft Atlantic errichtet worden, die dazu die Gartenstadt Atlantic AG gegründet hatte. Im Dezember 1929 wurde die in die Wohnanlage "Atlantic" integrierte "Lichtburg" eröffnet, ein Vergnügungskomplex mit über 2.000 Sitzplätzen, Kino- und Varietétheater, Tanz- und Festsälen, Restaurants, Bars, Cafés, Kegelbahnen und Vereinszimmern. Pächter der "Lichtburg" wurde Karl Wolffsohn. Der langfristige, auf 50 Jahre abgeschlossene Pachtvertrag vom 22. Januar 1929 gewährte Wolffsohn weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten sowohl für den Bau des Lichtspielhauses als auch für dessen Betrieb.
Hauptaktionär der Gartenstadt Atlantic AG wurde Anfang der 1930er-Jahre der jüdische Unternehmer Bernhard Sperber, der 1936 verstarb und von seinem Bruder Max Sperber beerbt wurde. Alleiniges Vorstandsmitglied der Gartenstadt Atlantic AG war seit dem 17. November 1933 der Bankier Wolf Freiherr von Massenbach. Der Aufsichtsrat bestand neben Walter Neye als Vorsitzendem aus seinem Schwager, Rechtsanwalt Schiller, und seinem Bruder Hermann Neye. Walter Neye ließ sich nach Bernhard Sperbers Tod 1936 von dessen Erben Max Sperber in Wien eine Vollmacht zur Wahrnehmung seiner sämtlichen Interessen in Deutschland erteilen.
Bernhard und Max Sperber als natürliche Personen wie auch die Gartenstadt Atlantic AG als juristische Person befanden sich seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Anfang 1933 in einer zunehmend bedrohlichen Zwangslage. Die Berliner Jüdische Gemeinde war mit ca. 160.000 Mitgliedern und ca. 28.000–30.000 jüdischen Betrieben zu dieser Zeit die größte Gemeinde Deutschlands.
Gartenstadt Atlantic, Anfang der 1930er-Jahre. (© Institut für Zeitgeschichte)
Gartenstadt Atlantic, Anfang der 1930er-Jahre. (© Institut für Zeitgeschichte)
Die Grundstücke der Gartenstadt Atlantic waren mit Hypotheken der Wohnungsbaukreditanstalt (WBK), einer nationalsozialistischen öffentlichen Behörde der Stadt Berlin, belastet. Diese setzte die jüdischen Eigentümer mit immer schärferen Maßnahmen unter Druck, ihre Forderungen in Höhe von ca. drei Millionen Reichsmark zu erfüllen.
Um seinen wertvollen, langjährigen Pachtvertrag über das Kinotheater "Lichtburg" zu retten und die Pläne Walter Neyes zu durchkreuzen, fuhr Karl Wolffsohn am 21. Februar 1937 nach Prag, wo er sich mit Max Sperber traf. Dort einigten sich beide, dass Wolffsohn das Aktienpaket für 20.000 Reichsmark kaufte und Sperber alle hierfür erforderlichen Erklärungen zur Tarnung der Transaktion abgab.
Am Tag darauf entzog Sperber, der empört war über das unangemessen niedrige Kaufangebot Neyes, diesem das Mandat in allen Angelegenheiten und übertrug es dem Rechtsanwalt Wolffsohns, Wolfgang Schirmer.
Die Gartenstadt Atlantic war 1935 mit der beauftragten Baufirma, der Berlinischen Boden-Gesellschaft, wegen erheblicher baulicher Mängel in einen Rechtsstreit getreten.
Als die öffentlich rechtliche Wohnungsbaukreditanstalt einen alten, bei der Gartenstadt Atlantic längst als nachgelassen abgeschriebenen Zinsen- und Amortisationsbetrag von rund 92.500 Reichsmark neu geltend machte, zeigten sich abermals die Arisierungsabsichten des nationalsozialistischen Apparats Berlins. Wolfgang Schirmer und Alfred Mock gelang es zwar am 8. Oktober 1937, die WBK zum Stillhalten zu bewegen, indem der Rückstand an bevorzugter Stelle im Grundbuch zusätzlich hypothekarisch gesichert, langfristig amortisiert und mit den üblichen Hypotheken der WBK verzinst werden sollte.
Schirmer und Mock, erbost über ihre Abberufung, legten der WBK umgehend nahe, keinerlei Rücksicht auf die Gartenstadt Atlantic und deren jüdische Eigentümer zu nehmen. Die WBK widerrief daraufhin die am 8. Oktober getroffene Abmachung.
Damit geriet Karl Wolffsohn eine aussichtslose Situation. Er sah sich konfrontiert mit unannehmbaren Forderungen einerseits der nationalsozialistischen Behörde WBK und andererseits der inzwischen vollständig "arisierten" BBG. Zudem wurde Wolffsohn bereits am 15. August 1938 von der Gestapo in "Schutzhaft" genommen, weil er sich bei der Überführung der Atlantic-Aktien in "arische" Hände arglistig verhalten habe.
Neun Tage später kam es zu einem zweiten Vergleich mit der BBG, den die WBK erzwungen hatte
Karl Wolffsohn wurde mit der Auflage, innerhalb von vier Wochen Deutschland zu verlassen, am 13. Februar 1939 aus der "Schutzhaft" entlassen. Als ihm zugetragen wurde, dass ein Devisenverfahren gegen ihn drohe, traf er überstürzt alle Vorbereitungen für eine Emigration nach Palästina. Jedoch konnte er die erforderlichen Ausreiseunterlagen nicht mehr rechtzeitig vor Ablauf der Einreisegenehmigung nach Palästina erhalten und floh mit seiner Familie dorthin, wo er am 6. April 1939 eintraf. Ebenso wie die Familie Wolffsohn flohen von 1933 bis Anfang 1939 insgesamt 80.000 Juden aus Berlin in eine ungewisse Zukunft.
1949 kehrte Karl Wolffsohn wieder zurück nach Deutschland, um vor den Behörden seine Ansprüche auf die "arisierten" Besitztümer geltend zu machen. Der Familie gelang es, durch jahrelange Wiedergutmachungsprozesse die Gartenstadt Atlantic in ihr Eigentum zurückzuführen.
Walter Neyes Bedeutung bei der "Arisierung" der Gartenstadt Atlantic blieb zeitlebens für ihn ohne rechtliche Konsequenz. Im Gegenteil: Sein nationalsozialistischer Dienstherr bewertete seine Tätigkeit in Berlin als höchst erfolgreich. Am 15. Juni 1938 wurde er im Amtsgerichtsbezirk Charlottenburg zum Notar bestellt. Der Landgerichtspräsident gab am 30. November 1939 eine Stellungnahme über Neyes Tätigkeit als Notar ab: Neye sei "gewandt und kenntnisreich" und "habe seine Geschäfte ordnungsgemäß geführt und seine Urkunden sachlich einwandfrei abgefasst". Die Beurteilung endete mit dem Satz: "In charakterlicher Hinsicht ist mir Nachteiliges über ihn nicht bekannt", und der damals üblichen Standardformel: "Die Mitgliedschaft in der NSDAP und dem NSRB geben mir die Gewähr für seine politische Zuverlässigkeit."
Vom Reichsluftfahrtministerium nach Eindhoven
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab Neye seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar auf. Am 19. Februar 1940 begann er, als Referent in der Industrieabteilung des Reichsluftfahrtministeriums zu arbeiten,
Anfang 1940 verkaufte Neye sein Grundstück am Kurfüstendamm 181 an die Jüdin Bertha Zwicklitz. Mit dem Kauf der Immobilie brachte Zwicklitz sich in große Gefahr, denn seit Inkrafttreten der "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden" vom 26. April 1938 mussten alle Juden ihr Vermögen über 5.000 Reichsmark auf speziellen Formularen anmelden. Ab dem 30. September 1938 war es Juden zudem verboten, mit Grundstücken zu handeln, und mit der "Verordnung über dem Einsatz des jüdischen Vermögens" vom 3. Dezember desselben Jahres wurde es ihnen schließlich untersagt, Grundstücke durch Rechtsgeschäfte zu erwerben. Die Veräußerung an eine "Nichtarierin" zog für Neye massive Probleme mit dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund nach sich: Gegen ihn wurde ein Ehrengerichtsurteil verhängt. Auf Bitte des Kammergerichtspräsidenten in Berlin gab der Landgerichtspräsident und Dienstherr Neyes am 24. Juli 1940 eine Stellungnahme in der Sache ab. Danach erschien ihm das Ehrengerichtsurteil des NSRB bereits für ausreichend, Neye das "Unzulässige seines Verhaltens" aufzuzeigen. Die Verfehlungen des Notars seien nicht außerordentlich gravierend, weshalb "der Gnadenerlass des Führers für Rechtsanwälte und Notare vom 30. November 1939 Anwendung finde, so daß Maßnahmen der Dienstaufsicht nicht in Betracht kommen."
Zum 30. November 1942 wurde Neye in die Niederlande abkommandiert, wo er mindestens bis zum 21. Januar 1944, dem Datum seiner letzten überlieferten Korrespondenz aus Eindhoven, in der Verwaltung des Philips-Konzerns eingesetzt war.
Zwischen Neuorientierung und Vergangenheitsbewältigung
Am 22. Juni 1945 wurde Neye durch den Präsidenten des Stadtgerichts zu Berlin vorläufig als Rechtsanwalt zugelassen und am 5. Juli vorläufig zum Notar bestellt. Im Personalfragebogen, den Neye für seine Zulassung und Bestellung zum Notar auszufüllen hatte, erklärte er am 4. Juli 1945 an Eides Statt, niemals Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, und im beigelegten Kurzlebenslauf, "keinerlei politischer Betätigung" nachgegangen zu sein.
Bewerbung an der Humboldt-Universität zu Berlin
Der Beginn von Neyes bemerkenswerter Wissenschaftskarriere fiel in eine für ihn günstige Zeit, denn in der sowjetischen Besatzungszone herrschte erheblicher Akademikermangel. Auch aufgrund der Entnazifizierungsmaßnahmen in der SBZ stand an den Universitäten wenig Lehrpersonal zur Verfügung. Nur wenige Juraprofessoren konnten aufgrund ihrer NS-Vergangenheit die Lehre fortführen. Die Entnazifizierung in der SBZ wurde angeblich schnell und konsequent umgesetzt. Die DDR-Geschichtsschreibung hat die Entnazifizierung jedoch pauschalisiert und glorifiziert: Insgesamt sollen in der SBZ bis 1948 ca. 870.000 Personen überprüft und 520 734 infolge der Entnazifizierung entlassen worden sein.
Walter Neye in seiner Zeit an der Berliner Humboldt-Universität. (© Humboldt-Universität zu Berlin, Porträtsammlung)
Walter Neye in seiner Zeit an der Berliner Humboldt-Universität. (© Humboldt-Universität zu Berlin, Porträtsammlung)
Trotz der widrigen Umstände bewarb sich Walter Neye 1946 an der Humboldt-Universität für einen Lehrauftrag im Fach "Bürgerliches Recht", den er für das folgende Wintersemester 1946/47 erhielt.
Neyes Tätigkeit als Repetitor war ein wichtiges Einstellungskriterium. In dem Personalbogen vom 30. November 1946 äußerte er sich daher erstmals ausführlicher zu seiner Dozententätigkeit und zu dem Grund, weshalb er ab 1935 nicht mehr als Repetitor arbeitete: "Von 1925–1935 laufend Abhaltung von Kursen. Die Hörerzahl belief sich pro Kursus im Durchschnitt auf 60–80. Die Examenserfolge der Hörer waren gut. […] Seit der Zeit des Studiums überzeugte demokratische und fortschrittliche Einstellung, die sich nie geändert hat. Aus diesem Grunde auch etwa 1935 Einstellung der […] Dozententätigkeit, trotz der durch die Lehrtätigkeit erzielten inneren Befriedigung und dem dadurch gewährleisteten beachtlichen Einkommen."
Dagegen scheint die Universität über Neyes geringe wissenschaftliche Forschungstätigkeiten hinweggesehen zu haben. Neyes Doktorarbeit war die einzige wissenschaftliche Veröffentlichung, die er bei seiner Bewerbung an der Universität benannt hatte.
Das Werben der Universitäten Rostock und Berlin
Auf der Suche nach einer geeigneten Lehrkraft wandte sich die Universität Rostock Mitte August 1947 an die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV) und an den Prorektor der Berliner Universität.
Parallel dazu erhielt Neye für dasselbe Semester einen Lehrauftrag der Berliner Humboldt-Universität für "eine Übung im Bürgerlichen Recht" und für "ein Repetitorium des Bürgerlichen Rechts".
Während seiner Gastvorlesungen ließ Neye den Dekan in Rostock wissen, dass er "trotz seiner Berufung an die Berliner Universität geneigt sein würde, einem etwaigen Ruf nach Rostock folge zu leisten; dies könne allerdings natürlich nur für ein Ordinariat geschehen, da er ja bereits an der – soviel grösseren und bedeutungsvolleren – Universität Berlin Extraordinarius sei." Am 8. Dezember 1947 beschloss die Universität Rostock, Neye "unter Zurückstellung erheblicher, grundsätzlicher Bedenken" als Ordinarius vorzuschlagen.
Zwischenzeitlich sagte Neye der Rostocker Universität am 20. März 1948 für das kommende Semester ab, da "aufgrund einer nochmaligen Rücksprache des Rektors der Berliner Universität mit dem Präsidenten der Zentralverwaltung entschieden sei, dass er in Berlin bleiben müsse." Infolge nochmaliger Verhandlung räumte die Universität Rostock Neye eine Frist bis Mitte Mai 1948 zur Annahme des Rufes ein. Bereits am 16. April 1948 schrieb die DVV an die Landesregierung Mecklenburgs, dass Neye in Berlin "wegen Weggang Professor [Heinrich] Mitteis" unentbehrlich sei.
Die Berliner Fakultät beschloss schließlich am 9. August 1948, Neye zum Ordentlichen Professor vorzuschlagen, da er "eine Berufung als Ordinarius an die Universität Rostock erhalten hat und der Fortgang von Prof. Neye angesichts der schwierigen Personallage der Fakultät eine empfindliche Lücke darstellen würde."
Die Politabteilung (PA) gab infolge der Berufung Neyes eine Stellungnahme mitsamt Charakteristik ab. Neye sei durch seine Mitgliedschaft im NSRB ein "Mitläufer des Naziregimes" und daher "politisch nur geringfügig belastet". Seine "klare antifaschistische Haltung" mache ihn zu einem "bürgerlich relativ fortschrittlichen Demokraten." In Anbetracht der "schwierigen Personallage der Fakultät" und Neyes "ungewöhnlicher Lehrerfolge" sei die Entscheidung "tragbar" und werde befürwortet.
Aufstieg zum Dekan
Neyes Erfolg als Dozent und sein Organisationstalent führten dazu, dass er sich der Humboldt-Universität für leitende Tätigkeiten empfahl. Als der amtierende Dekan der Juristischen Fakultät infolge einer Herzerkrankung seine Amtsgeschäfte nicht weiter führen konnte, wählte die Rechtwissenschaftliche Fakultät Walter Neye am 3. August 1950 einstimmig zu ihrem Dekan.
Der neu gewählte Dekan reüssierte durchaus erfolgreich. Ein Gutachten bescheinigt, dass seine Arbeit in den ersten Wochen durchgängig positiv bewertet wurde: "Prof. Neye [hat] eine grundlegende Umgestaltung der Fakultätsarbeit in die Wege geleitet. […] Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass durch diese Maßnahmen, sowie durch eine in die Wege geleitete Strukturänderung der Fakultät, die die Gesellschaftswissenschaften mehr in den Vordergrund der Fakultätsarbeit stellen soll, […] die Fakultät sich in absehbarer Zeit zu einem fortschrittlichen Lehrkollektiv von Professoren und Studenten entwickeln wird."
Ab 1950 setzte durch das Pflichtfach Gesellschaftswissenschaften eine Ideologisierung des Jurastudiums ein. Die ideologische Indoktrination der Studenten sowie die parteikonforme Einstellung galten nun als ebenso wichtig wie fachliches Können. Der Anteil von ideologisch geprägten Veranstaltungen umfasste bis zu 40 Prozent der Lehrveranstaltungen.
Kampf um das Rektorat
Bis Anfang der 1950er-Jahre hatte sich der Dekan Walter Neye vor allem als ausgezeichneter Pädagoge und entschlossener Reformer innerhalb der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität hervorgetan. Daher wurde er seitens der Universitätsleitung als prädestinierter Kandidat für die Wahl zum Rektor gehandelt. Sie bezeichnete ihn als "weitaus besten Pädagogen, über den wir verfügen."
Kuczynski galt als weltgewandter und weit über die Grenzen der DDR bekannter Gesellschaftswissenschaftler. 1904 geboren und jüdischer Herkunft hatte er Philosophie, Statistik und Wirtschaft in Berlin, Heidelberg und in Erlangen studiert, wo er 1925 zum Doktor der Philosophie promoviert worden war. 1930 wurde er Mitglied der KPD.
Jürgen Kuczynski (1904–1997), Aufnahme von 1952. (© Bundesarchiv, Bild 183-14097-0002)
Jürgen Kuczynski (1904–1997), Aufnahme von 1952. (© Bundesarchiv, Bild 183-14097-0002)
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1946 trat Jürgen Kuczynski der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei. Im selben Jahr übernahm er die Leitung des Lehrstuhls für Wirtschaftsgeschichte an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
Jürgen Kuczynskis zweifelsfrei hervorragenden persönlichen Voraussetzungen für den zu besetzenden Rektoratsposten standen vornehmlich politische Motive der SED-Führung entgegen: Der überzeugte Kommunist Kuczynski brachte das DDR-Regime regelmäßig mit aufrührerischen wissenschaftspolitischen Veröffentlichungen gegen sich auf. Sein Ansehen war damals zwar – im Vergleich zu seinen schweren Zerwürfnissen mit der DDR-Führung in späteren Jahren – noch relativ unbeschädigt, doch betrachtete man ihn schon damals wegen seines eigenwillig-selbstbewussten Wesens mit Vorbehalt.
Der Antizionismus der kommunistischen Bewegung unter Stalin wurde Anfang der 1950er-Jahre zunehmend auch in der DDR propagiert. Für Kuczynski führte das zu unmittelbaren Konsequenzen: Auf Beschluss des SED-Politbüros wurde er am 13. Juni 1950 von seiner Funktion als Präsident der DSF enthoben, denn für die Kämpfer gegen "Kosmopolitismus" und "Zionismus" war es untragbar, dass Kuczynski als Westemigrant und "Nichtdeutscher" die Leitung der DSF ausübte. Walter Ulbricht hingegen teilte Kuczynski unter Verleugnung der wahren Umstände mit, dass "die Gesellschaft jetzt so gewachsen sei, daß ein Politbüromitglied an der Spitze stehen muss." Kuczynski selbst machte für diese außerordentlich kränkende Entlassung seine jüdische Abstammung in einer Zeit wachsenden Antisemitismus unter Stalin verantwortlich.
Neye als "rector magnificus"
Am 3. Juli 1951 wandte sich Kuczynski, zu dieser Zeit Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, in einem Brief an Ulbricht und empfahl sich für die 1952 neu zu besetzende Rektorenstelle: "Lieber Walter, wie man mir sagte, hat mich das Staatssekretariat für Hochschulwesen zum Rektor für die Humboldt-Universität zu Berlin an das Sekretariat des ZK vorgeschlagen. Ich möchte Dir nur sagen, dass ich, wenn die Partei zustimmt, diese Funktion sehr gerne übernehmen würde, zumal an meiner Fakultät, wo ich Dekan bin, alles ganz ordentlich (ohne mein Verdienst) läuft." Ein weiterer Brief Kuczynskis an Ulbricht vier Tage später war merklich zurückhaltender formuliert und voller Selbstkritik. Kuczynski gestand darin ein, dass die "Parteileitung mit Recht festgestellt hat, dass meine Arbeit in vielerlei Beziehung ernste Mängel und Schwächen zeigt: in der Dekanatsführung, in der Kaderpflege, in der Verbundenheit mit der Fakultät. Die subjektiven Ursachen sind natürlich von mir mit Hilfe der Partei zu beseitigen. Du hast in den letzten 15 Jahren all meine Funktionen bestimmt, und ich hoffe, daß es so bleiben wird. Selbstverständlich werde ich jede Entscheidung die Du fällst, ohne Diskussion als die richtige annehmen und dementsprechend handeln."
Kuczynskis aufrührerisches Temperament und die antizionistischen Tendenzen innerhalb der DDR führten beim Staatssekretariat für Hochschulwesen möglicherweise zu einem Umdenken. Das hatte sich – laut Kuczynskis erstem Brief – zunächst für ihn ausgesprochen. Ein Jahr später, am 30. Juli 1952, gab das Staatssekretariat eine positive Beurteilung von Walter Neye ab, wenngleich es diesen nicht ausdrücklich für den Rektorposten vorschlug: Der aus "kleinbürgerlichem Haus" stammende Neye habe sich "ausserordentlich grosse pädagogische Fähigkeiten angeeignet. […] Prof. Dr. Neye hat sich sehr für die Demokratisierung der Universität eingesetzt und ist in Vorlesungen und Übungen ständig sehr scharf und offen parteilich für die antifaschistisch-demokratische Ordnung gegen den Imperialismus aufgetreten."
Letztlich entschieden sich die Abteilung Wissenschaften des SED-Zentralkomitees und Walter Ulbricht trotz persönlicher Bekanntschaft und devoter Bitte gegen den – vermeintlich nicht erpressbaren – jüdischen Altkommunisten Jürgen Kuczynski: Das ehemalige NSDAP-Mitglied Walter Neye wurde zum Rektor gewählt und übernahm die Rektoratsgeschäfte im September 1952.
Walter Neye (3. v.l.) bei einer Feier der Humboldt-Universität anlässlich des 36. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution. 5. v.l.: Robert Havemann. (© Bundesarchiv, Bild 183-22168-0002)
Walter Neye (3. v.l.) bei einer Feier der Humboldt-Universität anlässlich des 36. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution. 5. v.l.: Robert Havemann. (© Bundesarchiv, Bild 183-22168-0002)
Neye behielt den Posten als Rektor der Humboldt-Universität zunächst bis 1954 und blieb nach einstimmiger Bestätigung bis 1957 im Amt.
Schluss
Walter Neyes berufliche Laufbahn und politische Einstellung waren auf den ersten Blick geprägt von Widersprüchen. Eine erste tiefer greifende Betrachtung seiner Biografie offenbart, dass Neye ein opportunistischer Karrierist war, der sich die jeweiligen politischen Systeme geschickt zu Nutze machte.
Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Neye erfolgreich als Rechtsanwalt und war als treues Parteimitglied der NSDAP in die "Arisierung" des Unternehmens von Karl Wolffsohn in Berlin involviert. Offenbar war Neyes Handeln damals von Gewinnstreben bestimmt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Neye, wegen des weitverbreiteten Mangels an Dozenten einen Lehrauftrag an der Berliner Universität zu erhalten. Dabei verleugnete er von Beginn an seine NSDAP-Mitgliedschaft. Sein ausgeprägtes Machtstreben zeigte sich in besonderer Weise, als er die Universitäten Rostock und Berlin gegeneinander ausspielte. Ohne jemals eine Habilitationsschrift verfasst zu haben, wurde er zum Ordentlichen Professor an die renommierteste Hochschule der SBZ berufen. Auch in den folgenden Jahren spielte Neye seine Gabe, sich politische Verhältnisse und Machtstrukturen zunutze zu machen, geschickt aus. Indem er sich öffentlichkeitswirksam zunehmend für das DDR-Regime und für die Idee des Kommunismus einsetzte, empfahl er sich hier für höhere Aufgaben.
Diese wurden ihm Anfang der 1950er-Jahre ermöglicht, als der Posten des Rektors der Humboldt-Universität vakant wurde. Der Machtkampf um das Amt wurde von politischen Bedenken gegen den unkalkulierbaren jüdischen Gegenkandidaten Kuczynski überlagert. Walter Ulbricht entschied sich letztlich gegen seinen jahrelangen Schützling und Freund Kuczynski und beugte sich mit der Wahl Neyes zugleich den antisemitischen Tendenzen der Sowjetpolitik. So erhielt den wichtigen Posten des mächtigsten Hochschulrektors der DDR Walter Neye, der sich zu den Justiz-Reformplänen der Babelsberger Konferenz bekannte.
Nach seiner Amtszeit als Rektor trat Neye 1960 der SED bei. Was genau ihn bewog, erst am Ende seiner Karriere SED-Mitglied zu werden, bleibt ungeklärt. Sein politischer Kompass hatte jedenfalls zwischen den Extremen der NSDAP-Mitgliedschaft einerseits und der SED-Mitgliedschaft andererseits ausgeschlagen. Ob "braun" vor 1945 oder "rot" danach: Walter Neyes Handlungsmotiv war offensichtlich weniger seine politische Überzeugung, sondern vielmehr sein persönlicher Vorteil, den er mit Stringenz und Geschicklichkeit gesucht hat.