Gut drei Wochen sind seit dem „schwarzen Schabbat“ vergangen, wie der 7. Oktober hier in Israel genannt wird. Es hat viele Tage gedauert, bis wir das Ausmaß der Katastrophe verstanden haben. Tage, in denen wir einfach nur funktioniert haben. Wochen, die uns in einen neuen Alltag gebracht haben, Kriegsalltag.
Weiterhin fliegen Raketen aus Gaza nach Israel. Jeden Tag. Mal mehr, mal weniger. Jeden Tag in den Süden, wo sie die wenigen verbliebenen Bewohner bedrohen, die etwa den landwirtschaftlichen Betrieb aufrecht erhalten, die Kühe melken, die Hühner füttern müssen. Jeden Tag auch nach Aschkelon, die Stadt am Meer, nah am Gazastreifen, wo man theoretisch 15 Sekunden hat, um sich in Sicherheit zu bringen. Tatsächlich hört man mit dem Einsetzen des Luftalarms meist schon den ersten Knall. So gut wie jeden Tag auch in die Gush Dan Region rund um Tel Aviv, wo man mehr Zeit hat, um sich in Sicherheit zu bringen, dennoch die Bedrohung allgegenwärtig ist.
Raketen fliegen auch aus dem Libanon. Auch im Norden wurde die Grenzregion evakuiert. Überall hin kommen die Raketen der Hamas, nach Beerschewa, Haifa, letzte Woche gab es Alarm in der drusischen Ortschaft Dalijat al-Carmel, nach Jerusalem und Modiin, und auch nach Eilat, wo glücklicherweise kein Alarm ausgelöst wurde und die Rakete ins Meer stürzte. Glücklicherweise, denn in den leerstehenden Hotels in Eilat sind derzeit viele der schwer traumatisierten Überlebenden und Evakuierten aus der Gaza-Grenzregion untergebracht.
Zehntausende Menschen sind mittlerweile Flüchtlinge in ihrem eigenen Land. In Eilat, am Toten Meer, in Tel Aviv. Überall wurden Hotels zu Auffangorten, in denen sich die Menschen versuchen, einen Alltag einzurichten. Unterstützt werden sie von Tausenden Freiwilligen. Die israelische Zivilgesellschaft, die die letzten Monate massiv gegen die sog. Justizreform der Regierung Netanyahus protestiert hat, ist nun zusammengerückt, um zu helfen. Dazu nutzen die Protestorganisationen, wie etwa Achim leNeshek (Waffenbrüder), das Netzwerk, das sie aufgebaut haben. Auf dem Messegelände in Tel Aviv ist ein riesiges Sammelzentrum der Achim leNeshek entstanden, von wo aus die nötigen Hilfsgüter, von Nahrung, Kleidung über Telefone bis zu Möbeln und Computern, weiter verteilt werden. Überall wird gesammelt, in den Schulen, den Nachbarschaftsgruppen, bei den Pfadfindern. Restaurants in Tel Aviv bereiten jeden Tag Zehntausende Mahlzeiten für Evakuierte und Soldaten zu. Wieder ist es die Zivilgesellschaft, die beeindruckt, während die staatliche Hilfe, beispielsweise in Form finanzieller Zuwendungen, noch auf sich warten lässt.
Nächste Woche soll in den meisten Regionen wieder normaler Schulbetrieb anlaufen. Bisher wurde per Zoom unterrichtet, in der vergangenen Woche hybrid mit Präsenzunterricht und Zoom im Wechsel. Kann das funktionieren? Können 700 Kinder in der Schule in 1,5 Minuten in die Schutzräume gebracht werden? Die neuen Alltagssorgen.
Sorgen, die wie weggewischt sind, wenn man die Gedanken an die Ermordeten zulässt. Wenn man die Bilder und die Filme sieht, wieder sieht, und wieder und wieder und nicht begreifen kann, wie Menschen zu so etwas fähig sind. Wenn man die Gedanken an die Entführten zulässt. 230 Geiseln, 230-mal die schrecklichsten Alpträume für die Familien. Als Geisel in Gaza, 30 unter ihnen sind Kinder und Jugendliche. Der Schmerz der Familien ist mit uns, jede einzelne Minute. Auch der Schmerz der Hinterbliebenen von 1400 Ermordeten. In Israel wird am Schicksal von jedem gefallenen Soldaten und jedem Opfer von Terroranschlägen teilgenommen, Beerdigungen in den Nachrichten gezeigt, die Geschichten der Toten erzählt. Jetzt versinkt das Land in Trauer.
In der Kaplan Straße in Tel Aviv, wo wir monatelang gegen die Pläne der Regierung zum Umbau des Justizwesens demonstrierten, ist jetzt der Schmerz der Familien zuhause. An der Mauer der Kirija, dem Hauptquartier der Armee, das hier mitten in der Stadt untergebracht ist, hängen die Bilder der Entführten. Hier hat mich das Ausmaß der Katastrophe nach tagelangem stumpfen Funktionieren erstmal überwältigt.
Groß ist auch die Sorge, was uns erwartet. Zunächst in unmittelbarer Zukunft. Was bedeutet eine Bodenoffensive für die in Gaza verbleibenden Geiseln? Und die grenzenlose Sorge um unsere Soldaten, unsere Kinder, Eltern, Freunde, die an dieser Bodenoffensive teilnehmen werden. Gespräche mit Freunden, die schon jetzt schlaflose Nächte haben, weil ihr Sohn auf den Einmarsch wartet, stationiert an der Grenze zu Gaza. In einer Kampfeinheit. Der Sohn, den ich gut kenne, vom Fußballspielen in der Nachbarschaft, der gerade noch ein kleiner Junge war und jetzt die große Bürde aufgedrängt bekommt, sein Land vom Terror der Hamas zu befreien.
Und groß die Sorge, wie das überhaupt funktionieren soll. Die Strukturen der Hamas zerschlagen, Hamas aus ihrem Spinnennetz von Tunneln vertreiben? Und danach? Wie kann es einen dauerhaften Frieden für die Menschen in Israel geben?
Aber jetzt ist erstmal Krieg. Kriegsalltag. Im Moment kann man nur den nächsten Tag planen, die Kinder umfangen, helfen, was zu helfen ist.