Die Auswirkungen des Kolonialismus
Der arabische Raum wird bis heute durch die Folgen der Politik der Kolonial- und Mandatsmächte Frankreich und Großbritannien geprägt. London und Paris einigten sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im sogenannten Sykes-Picot-Abkommen
Getrieben von den neuen urbanen, z.T. an europäischen Universitäten ausgebildeten Eliten entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit (1919-1939) ein arabischer Nationalismus, der sich am europäischen Vorbild dieser Zeit und teilweise sogar – wie im Irak – am deutschen Nationalsozialismus orientierte. Mit der Zuspitzung der sozialen Gegensätze wandten sich in den 1950er bis 1970er Jahren arabische Politiker, Offiziere und Intellektuelle dann verstärkt der Sowjetunion und ihren Verbündeten sowie sozialistischen Gesellschaftskonzepten zu. In Ägypten, Algerien, Syrien, Irak und Südjemen gelangten sie – meist durch Militärputsche – an die Macht.
Auf der Suche nach einer arabischen Identität: Vom "Nasserismus" zum Islamismus
Einer dieser jungen, linksgerichteten Offiziere war Gamal Abd al-Nasser, der nach dem Putsch von 1952 zunächst ägyptischer Ministerpräsident und 1954 Staatspräsident geworden war. Er strebte u.a. danach, die lokalen und regionalen Unterschiede innerhalb der arabischen Welt zu überwinden und unter seiner autoritären Führung einen Pan-Arabismus sozialistischer Prägung durchzusetzen. Nasser, der in weiten Teilen der arabischen Welt als Held verehrt wurde, gelang es zwischen 1958 und 1961, Ägypten und Syrien in der "Vereinigten Arabischen Republik" (VAR) zusammenzuführen. Auch stellte er sich gegen den wachsenden Einfluss der beiden Supermächte USA und Sowjetunion im Kalten Krieg. Sein Ziel war es, möglichst viele ehemalige Kolonialländer in der Bewegung der "Blockfreien" als einen möglichst unabhängigen Faktor in der Weltpolitik zu positionieren.
Die vernichtende Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 versetzte den regionalen Ambitionen Ägyptens allerdings einen Dämpfer und entzauberte Nasser als Führer der arabischen Welt.
Das Epochenjahr 1979: die Geburtsstunde des militanten Islamismus
Die Geburtsstunde des militanten Islamismus sehen viele Beobachter im Jahr 1979, das auch als Epochenjahr der arabischen Welt bezeichnet wird. 1979 fand nicht nur die Besetzung der Großen Moschee im saudi-arabischen Mekka, sondern auch die "islamische Revolution" in Iran sowie der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan statt. Obwohl alle drei Ereignisse keine direkte Verbindung untereinander aufwiesen, beeinflussten sie jedes für sich den Aufschwung des Islamismus in der arabischen Welt.
Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka erschütterte nicht nur das saudische Königshaus, sondern die gesamte islamische Welt: Eine Gruppe militanter Islamisten hatte zur Gebetszeit die Moschee, eines der wichtigsten Heiligtümer des Islams, mit Waffengewalt besetzt. Ihr Anführer forderte den Sturz des "unislamischen", dekadenten und korrupten Königshauses, welches als Verbündeter der "heidnischen USA" vom "wahren Glauben" abgefallen sei. Die saudischen Sicherheitskräfte reagierten mit aller Härte, waren aber erst mithilfe französischer Spezialeinheiten in der Lage, unter hohem Blutzoll die Eindringlinge zu besiegen und die Moschee zurückzuerobern.
Daraufhin begann das Königshaus, Milliardensummen in den Ausbau des religiösen Bildungssystems zu investieren. Seit 1986 nennt sich der König "Hüter der beiden Heiligen Stätte". Das Königshaus wollte beweisen, dass es sich den islamischen Werten und der Ideologie des saudischen Wahhabismus verpflichtet fühlt. Das Resultat war eine Re-Islamisierungspolitik im eigenen Land, welche den Klerus aufwertete und gesellschaftliche Freiheiten – vor allem für Frauen – beschnitt, sowie eine Missionierungskampagne im Ausland. Mit saudischem Geld aus den Öleinnahmen wurden Moscheen in Pakistan, dem Westlichen Balkan und Afrika gebaut, Koranexemplare verteilt und Prediger entsandt. Damit wurde Saudi-Arabien zum einflussreichen Verbreiter einer erzkonservativen und puristischen sunnitischen Islamauslegung.
War die religiöse und politische Legitimität des saudischen Königshauses durch militante Islamisten im Inland herausgefordert worden, bedrohte die Revolution in Iran die Sicherheit aller pro-westlichen arabischen Monarchien von außen. Die Iranische Revolution, die zu Beginn von unterschiedlichen religiösen, aber auch säkularen Kräften getragen worden war, ehe sie zu einer von Ayatollah Khomeini geführten schiitischen Bewegung wurde, führte vielen Arabern vor Augen, dass verhasste autoritäre prowestliche Regimes, wie das des Schahs, durch die Kraft einer breiten Massenbewegung gestürzt werden können. Mit der Islamischen Republik Iran erwuchs den arabischen Diktatoren und Königen ein neuer Widersacher. Immerhin zielte der von Khomeini proklamierte "Export der Revolution" ganz offen darauf ab, auch die arabische Welt zu erreichen. Als im September 1980 mit einem großangelegten Angriff des Irak gegen den benachbarten Iran der Erste Golfkrieg begann (1980-88), stellten sich die meisten arabischen Staaten auf die Seite des irakischen Präsidenten Saddam Hussein.
Der angestoßene Re-Islamisierungsprozess wurde durch den Einmarsch der "gottlosen Sowjets" in das muslimisch geprägte "Bruderland" Afghanistan noch verstärkt: Mit Unterstützung der USA rüstete Saudi-Arabien in den 1980er Jahren die sunnitischen "arabischen Afghanen" auf, die als "heilige Krieger" (Mudschaheddin) gegen die Sowjetunion kämpften. Darunter befand sich auch der spätere Al-Qaida-Führer Osama bin Laden. Bin Laden förderte in den 1980er und 1990er Jahren von der sudanesischen Hauptstadt Khartum aus dschihadistische Gruppen in mehreren arabischen Ländern und organisierte Attentate (z.B. Jemen, Algerien, Libanon und Saudi-Arabien). Von Afghanistan aus initiierte er dann die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon.
Der Nahostkonflikt: Instrumentalisierung der palästinensischen Sache
Ohne den seit 1948 andauernden Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina kann die Politik der arabischen Staaten sowohl in der Region als auch gegenüber externen Mächten nicht verstanden werden. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, den Konflikt militärisch zu entscheiden (1948, 1967 und 1973), ist in der arabischen Welt ein zunehmend instrumenteller Umgang mit dem Konflikt zu beobachten. So schlossen Ägypten 1979 und Jordanien 1994 Frieden mit Israel, um die Rückgabe eroberter Territorien sowie Gratifikationen seitens westlicher Staaten in Form von Statusgewinnen und Finanzhilfen zu erreichen. Andere arabische Regime beschränkten sich mehr und mehr darauf, den Konflikt und das israelisch-zionistische Feindbild zur Mobilisierung ihrer Anhänger und für den eigenen Machterhalt zu nutzen. Allerdings gab es auch immer wieder arabische Vermittlungsversuche wie den saudischen "Abdullah-Plan" von 2002, der das Angebot der Normalisierung der Beziehungen zu Israel als Gegenleistung für den Rückzug aus allen 1967 besetzten Gebieten und die Anerkennung eines palästinensischen Staates enthielt. Auch bei der Beendigung des libanesischen Bürgerkriegs 1989 hatte Riad eine konstruktive Rolle gespielt.
Iran präsentiert sich dagegen seit der Revolution von 1979 als Gegenpol zu den "heuchlerischen" arabischen Staaten. Der Kampf gegen Israel ist Staatsdoktrin. Teheran nutzte gezielt die Krisen und geopolitischen Verschiebungen in der Region, um seinen Einfluss auf die arabischen Nachbarstaaten auszuweiten. Ziel ist die Schaffung eines schiitisch geprägten und vom Iran kontrollierten Korridors, der vom Irak über Syrien und Libanon bis an die israelische Grenze reicht. Iran profitierte zunächst davon, dass die amerikanischen Besatzungsbehörden im Irak nach 2003 eine schiitisch geprägte Regierung unter Nuri al-Maliki installierten, die die sunnitische Minderheit im Land systematisch ausgrenzte. Seit 2011 ist Iran als enger Verbündeter und Finanzier des syrischen Regimes unter Baschar al-Assad und der islamistischen Hisbollah im Libanon endgültig zu einem mächtigen regionalen Akteur in der arabischen Welt aufgestiegen.
Gewandelte Führungsmacht in der arabischen Welt: stabile Monarchien und geschwächte Präsidialdiktaturen
Die einstigen arabischen Regionalmächte Syrien, Irak und Ägypten sind heute vor allem mit internen Problemen beschäftigt:
Im Gegensatz zu den Präsidialdiktaturen haben sich die arabischen Monarchien Saudi-Arabien, die kleinen Golfstaaten, Marokko und Jordanien als deutlich widerstandsfähiger gegenüber politischen Krisen und oppositionellen Bewegungen gezeigt. Seit dem "Arabischen Frühling" versuchen sie, mit autoritärer Modernisierung die sozioökonomischen Herausforderungen zu meistern, ohne die eigene Herrschaft zu gefährden. Damit scheinen sie bislang (noch) erfolgreich zu sein. Die Gründe dafür sind einerseits, dass sie dank ihrer Öl- und Gasvorkommen über deutlich mehr Ressourcen verfügen und andererseits, dass sie infolge der traditionellen Verankerung der Königshäuser und dominierenden Herrscherfamilien mehr Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung besitzen.
Auch hier stellt der Iran eine Ausnahme dar. Die neuen Eliten, die infolge der ursprünglich sozialen Revolution gegen den Schah an die Macht gelangten, haben von Anfang an den schiitischen Islam und die politische Ideologie des Islamismus für sich genutzt. Islam und Islamismus dienten der Legitimierung ihrer Herrschaft und der Schaffung einer breiten sozialen Basis – vom Klerus bis zu den verarmten Massen. Diese Fundamente der Macht der Mullahs beginnen zwar zu bröckeln, bleiben aber bislang intakt.
Der historische Prozess der Re-Islamisierung geht auch mit der Versuchung der regionalen Mächte einher, zur Durchsetzung ihrer geo- und sicherheitspolitischen Interessen religiöse Widersprüche zu instrumentalisieren. Gab es im Verhältnis zwischen Iran und Saudi-Arabien seit 1979 immer wieder auch Episoden gradueller Annäherung, ist die aktuelle Phase durch die Zuspitzung des konfessionellen Konflikts und gegenseitige Dämonisierung geprägt. Die Rivalität hat das Schisma zwischen Schiiten und Sunniten in extremer Weise politisiert und die Spaltung sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch auf regionaler Ebene in einem bislang unbekannten Maße vertieft. Der regionale Machtkampf lässt einige Beobachter schon von einem Dreißigjährigen Krieg im arabischen Raum sprechen. In dem Konflikt geht es dabei längst nicht mehr nur um die Deutungshoheit über den "wahren" Islam, sondern um den Kampf um zunehmend rare Ressourcen wie Wasser, Öl und Gas oder landwirtschaftlich nutzbare Böden.
Perspektiven
Alle arabischen Gesellschaften sehen sich einer historischen Strukturschwäche hinsichtlich der wirtschaftlichen und politischen Teilhabemöglichkeiten gegenüber, die soziale Gräben vertieft und das Wohlstandsgefälle verstärkt hat. Demokratie- und Partizipationsdefizite haben sich in den letzten Jahrzehnten noch intensiviert: Regierungsnahe Eliten werden vom Staat mit Macht, Geld und Einfluss hofiert, während sich die sozialen Missstände für breite Teile der Bevölkerung ausweiten. Oppositionelle werden verfolgt und Menschenrechte verletzt. Doch je weniger Ressourcen zu verteilen sind, desto mehr schwinden die Kooptions- und Korrumpierungsmöglichkeiten der Herrschenden. Dies führte auch schon vor 2010/11 zu Brotunruhen und Forderungen der benachteiligten Bevölkerung nach mehr Teilhabe und besseren soziökonomischen Perspektiven. Aufgrund der demographischen Struktur der arabischen Gesellschaften, die alle sehr jung sind, wird sich dieses Missverhältnis künftig noch verstärken. Längst findet ein Generationenkonflikt statt, der in den historischen Entwicklungen begründet ist. Dies stellt die alten Eliten vor einen enormen Handlungsdruck.