Tschernobyl als Zäsur
Tschernobyl – das ist ein Schlüsselbegriff der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist die Kurzformel für den GAU ("größten anzunehmenden Unfall") in einem sowjetischen Kernkraftwerk am 26. April 1986, dem bis dahin schwersten nuklearen Unfall bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Tschernobyl bewirkte eine Zäsur in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Ohne Beispiel waren die Grenzenlosigkeit und Vielgestaltigkeit der Folgen von Tschernobyl. Die unkontrolliert entwichene Radioaktivität war mit menschlichen Sinnen nicht fassbar, kannte weder Landes- noch Kontinentalgrenzen, und ihre Langzeitfolgen halten bis heute an. 30 Jahre beträgt beispielsweise die Halbwertszeit des radioaktiven Isotopes Cäsium-137, heute ist also gerade einmal die Halbzeit für die Strahlkraft dieses massenhaft freigesetzten chemischen Elements erreicht. Auch in Teilen Deutschlands sind bis heute Waldpilze und Wildfleisch radioaktiv belastet.
Für die Sowjetunion war Tschernobyl ein herber Schlag. Auch die DDR und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sahen sich durch Tschernobyl einer Herausforderung gegenüber. Das Besondere dabei war, dass diese Herausforderung in dreierlei Hinsicht von außen kam. Zum einen war die nukleare Katastrophe selbst außerhalb der DDR geschehen. Die DDR war aber durch ihre engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Sowjetunion unmittelbar betroffen. Zum anderen kam von außen auf die DDR die Bedrohung in Gestalt einer radioaktiven Wolke zu. Und schließlich war aus der Perspektive der Herrschenden in der DDR die Berichterstattung über Tschernobyl in den westdeutschen Medien eine weitere Bedrohung von außen. Tschernobyl war eine Katastrophe in einer sich globalisierenden Welt. Der Umgang mit der Katastrophe erschwerte sich damit für die auf Abgrenzung strebende SED-Diktatur.
Widersprüchlichkeiten und Grenzen der Stasi-Tätigkeit
Der Staatssicherheit ging es nach Tschernobyl in verschiedener Hinsicht um das Verhindern eines Kontroll- beziehungsweise Herrschaftsverlustes. Erstens: Der politisch-ideologische Schaden in der DDR musste begrenzt werden. Der bis dahin seitens der SED-Partei- und DDR-Staatsführung bemühte Propaganda-Slogan "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" war durch den GAU massiv in Frage gestellt. Zweitens: Ein wirtschaftlicher Schaden für die SED-Diktatur musste verhindert werden. Das galt einerseits für das ehrgeizige ostdeutsche Kernenergieprogramm, für das die DDR seit den fünfziger Jahren auf sowjetische Technologie setzte. Andererseits erlitt die DDR wirtschaftliche Schäden in der Lebensmittelproduktion sowie in strahlenempfindlichen Industriebereichen. Zudem drohten wegen möglichen radioaktiven Belastungen beträchtliche Handelsausfälle gegenüber dem sogenannten "nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" (NSW). Und drittens sah sich die Stasi einer neuen sicherheitspolitischen Herausforderung gegenübergestellt. Für die politische Geheimpolizei galt es von nun an, das Entstehen einer ostdeutschen Antiatomkraftbewegung zu verhindern. Mit Tschernobyl eröffneten sich der DDR-Opposition gleich mehrere Politikfelder – die (Energie-)Wirtschaftspolitik, die Umweltpolitik und die Informationspolitik –, auf denen sie die von der SED-Führung beanspruchte "Kompetenzkompetenz" infrage stellte.
Keine Informationen aus Moskau
Für die Staatssicherheit ging es unmittelbar nach dem nuklearen Unfall in Tschernobyl darum, den technologischen GAU nicht zu einer geheimpolizeilichen Katastrophe werden zu lassen. Anders als zu vermuten, konnte sich die Stasi dafür ebenso wenig wie die SED-Parteiführung auf einen stabilen Informationsfluss aus Moskau stützen. Die ersten Informationen über den nuklearen Unfall gelangten nicht etwa aus Moskau, sondern vom Staatlichen Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) zur Stasi. Das SAAS war direkt dem DDR-Ministerrat unterstellt und berichtete dessen Vorsitzenden, Willi Stoph (SED), seit Bekanntwerden des Unglücks fortlaufend über die Strahlensituation im ostdeutschen Teilstaat. Zwei Tage nach dem Unglück und noch vor der öffentlichen Bekanntmachung durch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS meldete ein SAAS-Mitarbeiter bei der IAEA in Wien am frühen Abend des 28. April 1986, dass er zu einem möglichen nuklearen Störfall in der DDR befragt worden sei, da aus Schweden eine Anfrage zu unerklärlich hohen Radioaktivitätswerten vorliege. Die internationale Atomenergiebehörde holte daraufhin Erkundigungen bei ihren Mitgliedsstaaten ein, so auch bei der DDR. Erst kurz darauf veröffentlichte die Sowjetunion eine knappe Pressemeldung zu Tschernobyl, die am folgenden Tag kommentarlos auch in der SED-Tageszeitung Neues Deutschland erschien.
Die folgenden Tschernobyl-Berichte des SAAS gingen wenigstens in Kopie immer auch an die Stasi. Die Empfänger hier waren in der Regel der Stellvertreter des Ministers, Generalleutnant Rudi Mittig, sowie der Leiter der Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), Generalmajor Alfred Kleine. Zum Teil waren die Tschernobyl-Berichte des SAAS auch direkt an den Minister für Staatssicherheit, Armeegeneral Erich Mielke, gerichtet. Über ein am 29. April 1986 eigens eingerichtetes Rapportsystem wurde Mielke zudem telefonisch durch seinen Stellvertreter Mittig informiert.
Die Tschernobyl-Berichte des SAAS enthielten Zahlenmaterial über die fortlaufenden Radioaktivitätsmessungen in der DDR und deren knappe Textinterpretation. In ihnen sind bis in die erste Mai-Hälfte 1986 mehrfache und deutliche Überschreitungen geltender Richtwerte für die radioaktive Belastung von Lebensmitteln und Tierfutter dokumentiert. Am 7. Mai 1986 hielt das SAAS beispielsweise für die Bezirke Cottbus, Potsdam und Frankfurt für die zurückliegenden Tage eine Überschreitung des Richtwertes von 500 Becquerel pro Liter (Bq/l) für Frischmilch fest, in Cottbus maß das SAAS bis zu 703 Bq/l Milch. Auch der Richtwert 1000 Bq/kg für Gras und Blattgemüse wurde um ein Mehrfaches überschritten, das SAAS registrierte bis zu 5600 Bq/kg für Gras und 2675 Bq/kg für Spinat.
Das staatliche Strahlenschutzamt als Instrument der Stasi
Die Tschernobyl-Berichte zeichnete in der Regel der Präsident des staatlichen Strahlenschutzamtes, Prof. Georg Sitzlack (SED), ab. Sitzlack gab MfS-Offizieren darüber hinaus mehrfach mündlich Auskunft. Wenige Tage nach dem Unglück bestätigte er am 2. Mai 1986 Stasi-Offizieren zur Unglücksursache, dass höchstwahrscheinlich "durch technisches bzw. menschliches Versagen explosiv eine Leckage der aktiven Zone" entstanden sei. Für die Einschätzung der Strahlengefährdung der DDR machte er bei diesen Gesprächen die Bereitstellung von Informationen seitens der Sowjetunion zur Voraussetzung. Von dort, so der SAAS-Präsident gegenüber dem MfS, erfolgten bis dahin "auf dementsprechende Anfragen keine Informationen". Zugleich ließ sich Sitzlack auf Absprachen ein, die täglichen Tschernobyl-Berichte des SAAS für den Vorsitzenden des DDR-Ministerrates auch an das MfS weiterzureichen.
Die Aussage von SED-Partei- und DDR-Staatschef Erich Honecker gegenüber seinen westdeutschen SPD-Gästen Johannes Rau und Oskar Lafontaine Anfang Mai 1986, in der DDR habe man sich nach Tschernobyl entschieden, dass "die Wissenschaftler sprechen", erhält vor diesem Hintergrund seine entscheidende Einordnung.
West-Orientierung, Wirtschaftsschäden und belastete Lebensmittel
Als unmittelbare Folge der nuklearen Havarie nahm die Stasi ein verändertes Einkaufs- und Ernährungsverhalten vieler DDR-Bürger zur Kenntnis: Zwei Wochen nach dem Super-GAU hielt eine erste Information der Stasi-Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) fest, dass in der DDR-Hauptstadt Ost-Berlin der Verkauf von grünem Salat bis zu 50 Prozent zurückgegangen war. Im nahe gelegenen Bezirk Potsdam war die Situation ähnlich, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) blieben auf ihrem frischen Salat und Rhabarber sitzen. In der gesamten DDR ging der Absatz von Frischmilch schlagartig um Tausende Liter zurück. Diese Entwicklung hatte Anfang Mai an solcher Dynamik gewonnen, dass sich – so ein handschriftlicher Vermerk des Mielke-Stellvertreters Mittig – der DDR-Ministerrat mit dem Thema beschäftigen musste. Die Tage bis Ende Mai 1986, als Tschernobyl im Mittelpunkt der Stasi-Berichterstattung stand, waren vielleicht der einzige Zeitraum ihres Bestehens, in dem die Geheimpolizei von einem Überangebot an Gemüse sowie Frischmilch in den Kaufhallen und Verkaufsstellen berichtete. Die Kundenwünsche erfüllte das gleichwohl nicht, weil im Osten die Verunsicherung vor radioaktiv verunreinigten Lebensmitteln umging. Das war insofern vielsagend, weil DDR-Politiker und -Medien sich bemühten, das Bild unbedenklicher Radioaktivitätswerte zu vermitteln. Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung orientierte sich jedoch an der Berichterstattung der Bundesrepublik, die feste Grenzwerte und Ernährungsempfehlungen kommunizierte. Die vollen Regale in der DDR waren sichtbarer Ausdruck der Westorientierung der Bevölkerung.
Auch bei Produktionsausfällen in strahlenempfindlichen Industriebereichen blieb die Stasi hilfloser Berichterstatter an die SED-Parteiführung und die staatliche Verwaltungsspitze. Aus dem VEB Fotochemische Werke Berlin wusste die Staatssicherheit beispielsweise von Qualitätsmängeln an den gefertigten Röntgenfilmen. Die Angestellten des Betriebes hatten wegen einer defekten Klimaanlage die Fenster öffnen müssen. Dadurch gelangten radioaktive Partikel, die offensichtlich von der Katastrophe in der Sowjetunion herrührten, in die Fabrikhalle und setzten sich auf dem Filmmaterial ab. Der Schaden betrug laut der Stasi immerhin 6 Millionen Mark. Hinzu kamen die Kosten für die Sanierung der radioaktiv verunreinigten Fabrikbereiche. Schon alleine, weil der Staatssicherheit das Ereignis erst im Nachhinein bekannt wurde, konnte sie auf das Verringern oder gar das Verhindern des Schadens keinen Einfluss nehmen. Typisch für die DDR-Mangelwirtschaft war, dass die fehlerhaften Röntgenfilme dennoch Verwendung finden mussten, weil kein Ersatz zu beschaffen war. Laut MfS waren davon drei Viertel des Gesamtbedarfs an Röntgenfilm innerhalb des Gesundheitswesens betroffen.
Unter den Augen der Staatssicherheit registrierte das staatliche Strahlenschutzamt SAAS noch Anfang 1987 erhöhte Strahlenwerte eingelagerter Feldfrüchte und Futtermittel, die im Vorjahr abgeerntet worden waren. Zu erhöhten Strahlenbelastungen kam es demnach an drei Schwerpunkten: südlich von Schwerin, nördlich von Magdeburg und westlich von Potsdam. Für Export-Lebensmittel hatte das SAAS gemeinsam mit dem DDR-Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft mittlerweile ein Messkontroll- und Zertifizierungsverfahren eingerichtet. Damit war man einerseits entsprechenden Forderungen aus dem Ausland nachgekommen. Andererseits griff man damit eventuellen Entdeckungen vor, die politische Folgeschäden hätten auslösen können. Radioaktiv belastete Lebensmittel wie Feldfrüchte, Viehfutter, Fleisch und Milchprodukte entzog man dem Export oder der bevorzugten Versorgung sogenannter "Sonderbedarfsträger" – beließ sie wohl aber unter den Augen der Stasi im Versorgungssystem für die übrige DDR-Bevölkerung. Aus den Stasi-Überlieferungen geht damit hervor, dass für den West-Export vorgesehene Lebensmittel wegen erhöhter Strahlenwerte in den DDR-Verkauf gegangen sind.
Die DDR-Exportwirtschaft erlitt durch Tschernobyl deutliche Schäden. Unmittelbar nach der nuklearen Katastrophe verweigerte eine West-Berliner Molkerei praktisch für den gesamten Monat Mai 1986 die vertraglich vereinbarte Abnahme von Frischmilch aus dem brandenburgischen Umland. Die ostdeutschen Produzenten lieferten keinen entsprechenden Unbedenklichkeitsnachweis für die Radioaktivitätswerte der Milch. Dem ostdeutschen Teilstaat entgingen dadurch laut MfS-Angaben knapp 325.000 Valutaeinheiten. Von Handelseinschränkungen wegen erhöhter Radioaktivitätswerte war eine Vielzahl von Produkten betroffen: der Export von Bier nach Italien, der Verkauf von Zuchtrindern nach Marokko, der Absatz von Kaninchenfleisch nach Österreich oder die Ausfuhr von Schlachtpferden nach Frankreich. Die Devisenausfälle der SED-Diktatur gingen in die Millionen. Auch hier blieb der Stasi nur die Rolle eines passiven Beobachters und Berichterstatters.
Die Stasi als Krisenmanager?
Im Bereich der Transportwirtschaft trat die Stasi dagegen aktiv zur Bewältigung der Tschernobyl-Folgen in Erscheinung. Weil die Bundesrepublik seit Anfang Mai 1986 feste Grenzwerte für die radioaktive Belastung einreisender PKW, LKW und Schienenfahrzeuge durchsetzte, kam es zu Zurückweisungen an der innerdeutschen Grenze. In den ersten Mai-Wochen zählte die Staatssicherheit dazu immerhin 50 PKW, 260 LKW und 60 Güterwagons aus dem Transitverkehr, vor allem mit Ladungen aus der Sowjetunion. Um die wirtschaftlichen Schäden einzudämmen und einen störungsfreien Ablauf der Grenzpassage sicherzustellen, reagierte die DDR mit Strahlenmessungen im Vorland der Grenze. Gegebenenfalls sollten Dekontaminationswäschen und der Austausch radioaktiv verunreinigter Luftfilter erfolgen. An diesen Aktionen beteiligten sich Offiziere der grenznahen MfS-Bezirksverwaltungen wie Magdeburg oder Cottbus, sowie knapp 150 Spezialkräfte der zentralen Abteilung Bewaffnung und Chemischer Dienst (BCD). Nach internen Angaben überprüften die MfS-Mitarbeiter in der ersten Maihälfte fast 4000 Fahrzeuge alleine an der innerdeutschen Grenze auf erhöhte Radioaktivität. Jedes vierte Fahrzeug davon behandelten sie, um dessen Strahlenwerte zu senken.
Die Dekontaminationsarbeiten, an denen sich die Stasi beteiligte, verliefen nicht sauber. Nicht immer konnten radioaktiv verschmutzte Luftfilter ausgetauscht werden, weil es an Ersatzfiltern mangelte. Und die Entsorgung der radioaktiven Abwässer der Waschungen erfolgte zum Teil ohne besondere Schutzmaßnahmen über die Kanalisation, zum Teil über freie Fließgewässer der Umgebung. An den eingerichteten Waschplätzen dokumentierte die Geheimpolizei noch Jahre später deutlich – bis um das Zweihundertfache – erhöhte Strahlenwerte. Schon während der Mess- und Wascharbeiten erregten die Aktionen unerwünschtes Aufsehen und Ärgernis. In der thüringischen Ortschaft Probstzella im Kreis Saalfeld an der Grenze zur Bundesrepublik führte am 9. Mai 1986 ein Bauingenieur Beschwerde über die mögliche Verseuchung des Grundwassers wegen der Dekontaminationswaschungen. Ein ganzes Aufgebot aus örtlicher SED-Parteiführung und Sicherheitskräften der SED-Kreisleitung, MfS-Kreisdienststelle, Volkspolizeikreisamt, Feuerwehr und Transportpolizei, erschien daraufhin bei der Waschstation des örtlichen Bahnhofes und zeigte sich uninformiert über die dortige Dekontaminierungsaktion. Von der Bevölkerung in Probstzella gab es derweil beunruhigte Anfragen zur Gefährlichkeit der Arbeiten und der radioaktiven Verschmutzung des Grundwassers und der bevorstehenden Ernte.
"Unter Kontrolle halten" – die Stasi und die Bevölkerung
Nachdem die nukleare Katastrophe von Tschernobyl seit dem 28. April 1986 öffentlich geworden war, bemühte sich die Stasi um ein umfassendes Bild der Reaktionen in der ostdeutschen Bevölkerung. Dafür benutzte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seine inoffiziellen Mitarbeiter (IM), aber auch andere Zuträger. Das Erarbeiten eines solchen Meinungs- und Stimmungsbildes fügte sich in die übliche Stasi-Informations- und Berichtstätigkeit zu – aus der Perspektive der SED-Führung – bedeutsamen Ereignissen ein.
Ein Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) als der zentralen Schaltstelle im Apparat der Staatssicherheit gibt einen Überblick über die Reaktionen der ostdeutschen Bevölkerung auf Tschernobyl, denen die Stasi besondere sicherheitspolitische Bedeutung beimaß. Der Bericht, datiert vom 6. Mai 1986, stammt also aus der Woche nach dem Öffentlichwerden der nuklearen Katastrophe. Innerhalb der Staatssicherheit war der Bericht über den Minister Mielke hinaus an dessen Stellvertreter Mittig, Gerhard Neiber, die Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), den ZAIG-Leiter Werner Irmler und die dortige Arbeitsgruppe 6 des Bereiches 1 (politisch-ideologische Diversion, politische Untergrundtätigkeit, Kirchen, Kultur) gerichtet. Damit waren zugleich die internen Stasi-Zuständigkeiten umrissen: Tschernobyl war für die Geheimpolizei vor allem wegen seiner wirtschaftlichen und politisch-ideologischen Folgewirkungen Arbeitsgegenstand. Über Mitleidsbekundungen hinaus betonte der MfS-Bericht im Anfang pflichtschuldig, dass die staatliche Mitteilung über andere Reaktortypen und strenge Sicherheitsvorschriften in der DDR für "Beruhigung und Befriedigung" gesorgt habe. Als entscheidend für das frühe Krisenmanagement im ostdeutschen Teilstaat wurde herausgehoben, dass DDR-Wissenschaftler öffentlich eine Strahlengefährdung verneint hätten.
Dennoch kam die Stasi nicht umhin, zum Unmut über das lange Verschweigen des Unglücks durch die Sowjetunion und die im Vergleich zur Bundesrepublik relativ späte und eingeschränkte Berichterstattung in der DDR zu berichten. Im Ergebnis hielt sich dennoch die Meinung in der Bevölkerung – und das war im Sinne der SED-Politik – auf die Kernenergie könne nicht verzichtet werden. Von besonderer Bedeutung war für die Stasi der Umstand, wonach im Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald und auf den Baustellen zu neuen Kernreaktoren bei Greifswald und bei Stendal Zweifel und Besorgnis zu den Ursachen und Auswirkungen von Tschernobyl sowie der Sicherheit der sowjetischen Kernkraftwerke in der DDR bestanden. Ebenso misstrauisch registrierte das MfS kritische Fragen zu den veröffentlichten Opferzahlen und den Langzeitfolgen der in Tschernobyl freigesetzten Radioaktivität, die Chemiestudenten der Universität Greifswald unter Verweis auf in Dänemark gemessener Strahlenwerte stellten. Der Stasi-Minister Mielke vermerkte dazu handschriftlich: "unter Kontrolle halten".
Unwissen und Zweifel durch die staatliche (Des-)Informationspolitik
Eine Vielzahl von Berichten der IM und anderer Stasi-Zuträger zeichnete ein im Tenor gleiches Bild. Grundlegende Erkenntnis der Berichte ist, dass Tschernobyl ein Thema war, das viele DDR-Bürger bewegte. Zunächst dominierte eine ganz menschliche Reaktion, man war zuallererst erschüttert über die nukleare Katastrophe. Mit der Schlussfolgerung, auf die offensichtlich nicht beherrschbare Technologie zu verzichten, verband das allerdings kaum jemand. Auf den ersten Schock folgten in den überlieferten IM-Berichten und MfS-Analysen zur Bevölkerungsstimmung Unwissenheit und daraus resultierend Unsicherheit. Die DDR-Bürger zeigten sich unzufrieden mit der mangelhaften Berichterstattung der Sowjetunion und der DDR-Medien. Das Ausweichen auf westdeutsche Informationen führte zur Bestätigung dieser Unzufriedenheit, aber auch zu Zweifeln. Denn sowohl die westdeutsche Berichterstattung als auch die Reaktion der bundesdeutschen Politiker hinsichtlich der radioaktiven Gefährdung entsprachen nicht den offiziellen ostdeutschen Verlautbarungen. Beispielgebend berichtete der IM "Blitz", ein Angestellter im Fernmeldeamt Rostock, seinem Stasi-Offizier: "Fast alle sagen, dass der Westen es übertrieben und dramatisiert habe, was nicht gut ist. Aber ebenso schlecht ist, dass wir völlig im Unklaren gelassen wurden und man es heruntergespielt habe. Danach braucht man ja kaum noch Angst vor einer Atombombe haben."
Aus der staatlichen (Des-)Informations-Politik und der anderslautenden westlichen Berichterstattung resultierten – was die Stasi eigentlich zu verhindern bemüht war – Ungewissheit, Ängste und Gerüchte. In den geheimen MfS-Berichten sind verschiedenste Krankheitsbilder, mysteriös anmutende Phänomene wie tote Fische und Vögel im örtlichen Stadtteich festgehalten, die desinformierte Bürger auf die aus der Sowjetunion kommende radioaktive Verstrahlung zurückführten. Manche IM-Auskünfte geben im Rückblick von 30 Jahren vielsagende Einblicke zum gesellschaftlichen Zustand der DDR Mitte der achtziger Jahre. Da war gegenüber MfS-Offizieren unverblümt von minderwertiger "Russentechnik" die Rede, oder wurde die radioaktive Gefährdung gegenüber der täglichen Schwefeldioxid-Belastung als weniger schlimm verharmlost. Die "unverbrüchliche Liebe" zur Sowjetunion war nicht selten wirklichkeitsfremde Staatspropaganda – die DDR als einer der größten Umweltsünder mit dem weltweit höchsten Ausstoß von Schwefeldioxid hingegen war alltägliche Wirklichkeit.
Der "26. April" – ein neuer "17. Juni"?
Mitte Mai 1986 ging bei der Lokal-Redaktion der SED-Zeitung Sächsische Zeitung in Bautzen folgendes Leser-Gedicht ein: "Ein schöner Tag im Mai, der Frühling macht Gefühl, aus Osten bläst der Wind, er kommt aus Tschernobyl. Was wird er uns wohl bringen, aus unsrem Freundesland? Von Freunden, wie den uns’ren, Sowjetunion genannt. […] Für uns ist das Problem gelöst, die Parameter stimmen, in Luft und Wasser – Wald und Flur, und alle Vögel singen. Die Strömung ging bei uns vorbei, im Süden und im Norden, dem Lieben Gott sei es gedankt, was wäre sonst geworden. […] Bei uns ist alles einwandfrei, so wie ein schöner Tag im Mai!"
Es hat nach Tschernobyl auch öffentlichkeitswirksamen individuellen Anti-KKW-Protest in der DDR gegeben: In der Bezirksstadt Potsdam wurden Anfang Mai 1986 öffentlich Zettel mit dem Text "Stoppt die Kernkraftwerke. Tschernobyl macht vor unsren Wohnungstüren nicht halt" und "Tschernobyl darf sich nicht wiederholen. Die Alternative: Sonnenenergie" verteilt. Vor der Magdeburger Bezirkseinsatzleitung, dem regionalen Sicherheitsstab unter Leitung des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung, berichtete die MfS-Bezirksverwaltung im September 1986 von acht Losungen "Atomverbrannt durch Freundesland", die im Magdeburger Stadtgebiet angebracht wurden. Oder im April 1988 wurden zum zweiten Jahrestag der nuklearen Katastrophe in der Sowjetunion an einer Wandzeitung im Lehrlingswohnheim der Stahl- und Walzwerkes Brandenburg mehrere Aushänge angebracht, auf denen zu lesen stand: "26.4.86 kam es in Tschernobyl zum bisher schwersten KKW-Unglück" sowie "am 26.4.88 [sic!] kam es in Tschernobyl (UdSSR) zum bisher schwersten KKW-Unglück mit verheerenden Folgen für Natur und Menschheit".
Die nukleare Katastrophe in Tschernobyl gab der staatlich unabhängigen Umweltbewegung in der DDR einen kräftigen Impuls. Der GAU in der Sowjetunion war eine Möglichkeit, in der überschaubaren Oppositions-Szene und darüber hinaus einen größeren Personenkreis zu erreichen und für die großen Gefahren der Kernkraftwerke zu sensibilisieren. Das Entstehen einer Antiatomkraftbewegung wie in der Bundesrepublik war für die Machthaber der SED-Diktatur dabei ein Schreckens-Szenario, dessen Nachahmung es in der DDR zu verhindern galt. In diesem Sinne unterstellte die Stasi den ostdeutschen Kernkraftwerksgegnern ein "feindlich-negatives" Verhalten.
Die Ängste der Geheimpolizei vor der Herausbildung eines ostdeutschen Gegenstücks zur Antiatomkraftbewegung in der Bundesrepublik ähnelten den Stasi-Ängsten vor einer Wiederkehr des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Interne Befehle und Weisungen der Stasi unmittelbar nach Tschernobyl und im Vorfeld der folgenden Jahrestage des Unglücks belegen die Befürchtung der Geheimpolizei, dass der 26. April für die ostdeutsche Umweltbewegung so etwas wie ein 17. Juni hätte werden können – ein festes, regelmäßig wiederkehrendes Datum öffentlichen Protestes. Tatsächlich war die oppositionelle Szene in der DDR im Frühjahr 1986 zunächst weit entfernt von einer breiten Protestbewegung ähnlich der westdeutschen Antiatomkraftbewegung. Die Stasi schien bei ihren Bemühungen, die SED-Politik abzusichern, zunächst erfolgreich – gab sich mit ihren Einblicken um die Aktivitäten der staatlich unabhängigen Umweltaktivisten jedoch durchaus alarmiert.
"Eine lange Aktion" – Tschernobyl als Impuls für die Opposition
Demonstration von Kernkraftgegnern in Berlin-Niederschönhausen 1990 gegen das Atomkraftwerk Greifswald-Lubmin (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0205-017, Foto: Peer Grimm)
Demonstration von Kernkraftgegnern in Berlin-Niederschönhausen 1990 gegen das Atomkraftwerk Greifswald-Lubmin (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0205-017, Foto: Peer Grimm)
Bereits Anfang Juni 1986, gerade einmal fünf Wochen nach Öffentlichwerden des Unfalls, musste die Stasi zur Kenntnis nehmen, dass die Umwelt- und Friedensgruppen in der DDR zahlreiche Aktionen zu Tschernobyl durchführten und planten. Dazu gehörten der mehrseitige Aufruf "Tschernobyl wirkt überall" der beiden Gruppen "Gegenstimmen" und "Friedrichsfelder Friedenskreis", ein Schreiben des Wissenschaftlers Sebastian Pflugbeil an die Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) mit der Aufforderung sich des Themas anzunehmen, ein Aufruf von Martin Böttger, Gerd Poppe und Wolfgang Templin aus der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) an die Volkskammer mit der Forderung nach einer Volksabstimmung über die Nutzung der Kernenergie, ein Rundbrief des "Ökologiekreis Weißensee" unter dem Titel "Atomkraftwerke – eine Bedrohung?", die Absicht der Berliner Gruppe "Ärzte für den Frieden" eine Eingabe an die Minister für Kohle und Energie sowie für Gesundheitswesen und an das staatliche Strahlenschutzamt SAAS zu richten, ein Brief des "Friedenskreises Pankow" an die sowjetische Botschaft, eine Eingabe des "Friedens- und Umweltkreis" der Pfarr- und Glaubensgemeinde Berlin-Lichtenberg an den DDR-Ministerrat und die sowjetische Botschaft oder eine Veranstaltung "Morsche Meiler" in der Berliner Zionskirchgemeinde. Das MfS trieb die Sorge um, dass im Zusammenhang mit Tschernobyl aus dem Umfeld der Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen eine "lange Aktion" aus Unterschriftensammlungen, Gesprächsveranstaltungen und öffentlichen Aktionen kreiert werden könnte.
Die besondere Aufmerksamkeit der Stasi weckte der Appell "Tschernobyl wirkt überall". Mitglieder und Sympathisanten der Friedens- und Umweltbewegung richteten den Aufruf an die Regierung und die Bevölkerung, Silvia Müller und Vera Wollenberger trugen 141 Unterschriften zusammen und am 5. Juni 1986 – dem Weltumwelttag – wurde er dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates und der staatlichen Nachrichtenagentur ADN übergeben. In dem Appell hieß es: "Die Reaktorhavarie in Tschernobyl hat bei uns Unsicherheit und das Gefühl der Bedrohung ausgelöst. Unser Mitgefühl gilt allen Getöteten und gesundheitlich Geschädigten in der Sowjetunion. […] Doch nicht nur die Bedrohung durch havarierte Kernkraftwerke ist augenscheinlich geworden, sondern ebenso die Auswirkungen einer verantwortungslosen und gesellschaftsgefährdenden Informationspolitik in Ost und West. Hier wurde entmündigt, desinformiert und verunsichert – und dies nicht erst anlässlich von Tschernobyl, sondern schon vorher." Das war eine Kritik, der sich viele DDR-Bürger hätten anschließen können. Die Staatssicherheit deutete das deshalb nicht zu Unrecht als sicherheits-politische Herausforderung und setzte ihren vielfältigen Beobachtungs-, Zersetzungs- und Verfolgungsapparat in Bewegung. Der Mielke-Stellvertreter Mittig erließ dafür am 13. Juni 1986 an die MfS-Bezirksverwaltungen den zentralen Befehl, die Unterzeichner des Appells ausfindig zu machen und weitere Aktivitäten und Unterschriftensammlungen zu "Tschernobyl wirkt überall" zu unterbinden. Insbesondere die Verbringung des Aufrufes in die Bundesrepublik sollte verhindert und aufgetauchte Exemplare beschlagnahmt werden. Die inhaltliche Nähe zur westdeutschen Antiatomkraftbewegung machte schon der Titel des Aufrufs deutlich, der dem "Tschernobyl ist überall" der westdeutschen Grünen ähnelte.
Vor dem Hintergrund der Stasi-Ängste, durch Tschernobyl könnte eine ostdeutsche Antiatomkraftbewegung mit einem wiederkehrenden öffentlichen Protestritus erwachsen, ergingen zu den folgenden Jahrestagen der nuklearen Katastrophe wiederholt zentrale MfS-Befehle zu vermeintlichen "feindlichen Aktivitäten". 1987 galt als Vorgabe für die MfS-Bezirksverwaltungen, Kontakte der ostdeutschen Kernkraftwerksgegner zu den westdeutschen Grünen und dem aus der DDR ausgewiesenen Roland Jahn im Zusammenhang mit einem Anti-Kernkraftwerks-Kongress in der Bundesrepublik zu unterbinden. Zudem befahl der Mielke-Stellvertreter Mittig öffentliche Aktionen in der DDR im Vorfeld zu verhindern. Dafür wurde die geheimpolizeiliche Beobachtung und Kontrolle von vermuteten "Störenfrieden" weiter verschärft.
Selbst wenn die Antiatomkraftbewegung unter den Bedingungen der SED-Diktatur nach Tschernobyl zunächst kein eigenständiges Gesicht entwickeln konnte, war sie doch ein fester Bestandteil der staatlich unabhängigen Umweltbewegung.
Zitierweise: Sebastian Stude, Tschernobyl und die Stasi. In: Deutschland Archiv, 21.4.2016, Link: www.bpb.de/225219