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Land Niedersachsen | bpb.de

Land Niedersachsen

Holger Meyer

Historischer Hintergrund

Der Begriff „Niedersachsen“ entstammt der Reichsreform von 1512 in der erstmals ein Reichskreis so bezeichnet wurde. Der zunehmende welfische Einfluss in diesem führte dazu, dass der Niedersachenbegriff und das Königreich Hannover in eine enge Beziehung zueinander rückten. Letztlich verhalfen die preußische Annexion des Königsreichs Hannover 1866 und die aufkommende Heimatbewegung im 19. Jahrhundert dazu, den Begriff NI populär zu machen. Dazu trug auch Hermann Grote mit dem um 1926 komponierten „Niedersachsenlied“ als inoffizielle Hymne des Landes bei.

Nach dem Zweiten Weltkrieg löste die britische Militärregierung am 23.08.1946 sämtliche preußische Provinzen auf. So entstand zunächst das Land Hannover, dessen Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf im Juni 1945 unter Rückgriff auf Neugliederungspläne aus der Weimarer Republik für ein größeres Land NI eintrat. Gegen den Widerstand der um den Verlust regionaler Eigenständigkeit fürchtenden braunschweigischen und oldenburgischen Landesteile setzte sich Hinrich Wilhelm Kopf mit seinen Plänen im Zonenbeirat durch. Daraufhin bildete die Militärregierung mit der Verordnung Nr. 55 zum 01.11.1946 NI mit der Maßgabe, die Eigenart der integrierten Länder Braunschweig, Oldenburg, Schaumburg-Lippe und Hannover zu erhalten.

Bevölkerung – Gesellschaft – Wirtschaft

Aktuell (2018) leben im zweitgrößten Flächenland Ds auf 47.614 km2 rd. 7,98 Mio. Niedersachsen. Bei der Einwohnerstärke liegt es hinter NRW, BY und BW auf Platz vier. Das erklärt die geringere Bevölkerungsdichte von 167 Personen/km2, wobei diese in den industrialisierten und urban geprägten Bezirken Hannover (237 Personen/km2) und Braunschweig (197 Personen/km2) wesentlich höher ausfällt. Im Gegensatz dazu stehen die ländlich geprägten Räume im Bezirk Lüneburg (110 Personen/km2) und Weser-Ems (166 Personen/km2). NIs Anteil an der dt. Bevölkerung beträgt 9,6 %, der Anteil am Staatsgebiet Ds beträgt 13,3 %. In den acht kreisfreien Städten NIs leben rd. 890.000 und in der Landeshauptstadt Hannover rd. 535.000 Einwohner. Die Hälfte der Niedersachsen ist protestantisch, 18 % bekennen sich zum katholischen Glauben und 3 % sind Muslime. 30 % der NI sind mit zunehmender Tendenz konfessionslos. In der Zeit nach 1945 war die Bevölkerungsentwicklung zunächst bestimmt durch den Zuzug von 1847 Mio. Flüchtlingen. Ab 1960 kam es erneut zu positiven Wanderungssalden durch die Anwerbung von Gastarbeitern für die Industriebetriebe im Raum Hannover-Braunschweig-Salzgitter-Wolfsburg. Ein weiterer Zuzug von Menschen nach NI erfolgte in den 1990er-Jahren infolge der Wiedervereinigung, durch Spätaussiedler sowie Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. Die Flüchtlingswelle 2015 erreichte auch NI. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung liegt in NI bei rd. 9 %, und fast 1,6 Mio. der in NI lebenden Menschen haben ausländische Wurzeln. Die Integration dieser Menschen ist dabei in den Städten aufgrund sozialer Agglomerationen wesentlich schwieriger als in den ländlichen Regionen. In NI leben 1,73 Mio. Kinder (22 % der Gesamtbevölkerung), während etwa zwei Millionen Menschen älter als 60 Jahre sind (25 % der Gesamtbevölkerung). Bis 2050 wird sich dieses Verhältnis deutlich zugunsten der Älteren auf dann 33 % verändern (2,6 Mio.). Gleichzeitig wird sich die Zahl der Minderjährigen auf 17 % reduzieren (1,33 Mio.). Vor allem von 2020 an ist mit einem zunächst noch langsamen, dann aber immer schnelleren demografischen Wandel der Bevölkerung zu rechnen.

Im Zuge der Wiedervereinigung und der EU-Osterweiterung ist NI in die Mitte der Europäischen Union gerückt. Dennoch wirken die Folgen der innerdt. Teilung im Hinblick auf die Strukturschwäche der ehemaligen Zonenrandgebiete fort. Verbesserte Förderbedingungen in den angrenzenden neuen Bundesländern haben dazu geführt, dass es dort zu Neuansiedlungen kam, während die vormalige Zonenrandförderung entfiel. Im Jahr 2018 erwirtschafteten in NI 3,94 Mio. Erwerbstätige ein BIP von rund 296 Mrd. €. Damit wuchs die Wirtschaftsleistung in NI zwischen 2012 und 2018 mit 13,1 % überdurchschnittlich kräftig (BRD 11,9 %). Dennoch sind Wirtschaftsleistung und Steueraufkommen in NI im Bundesvergleich auch zukünftig unterdurchschnittlich. NI zählt traditionell zu den Nehmerländern im Bund-Länder-Finanzausgleich (830 Mio. € in 2018). Die ehemals dominierende Land- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei spielen mit einem Produktionsanteil von knapp 2,5 % nur noch eine untergeordnete Rolle, obwohl sie verglichen mit dem dt. Durchschnitt noch doppelt so stark sind. Der Trend ist eindeutig: NI hat sich kontinuierlich vom Agrarland zum Industrie- und seit den 1980er-Jahren zum Dienstleistungsland gewandelt. Seit 2010 ist die Wirtschaftslage in NI überdurchschnittlich gut. Maßgebliche Treiber des Wirtschaftswachstums sind das verarbeitende Gewerbe und die damit eng verbundenen unternehmensnahen Dienstleister. Der langanhaltende Aufschwung nach der Finanzkrise 2008/2009 führte zu hohen Beschäftigungsquoten und geringer Arbeitslosigkeit. Dementsprechend war die Arbeitslosenquote im Dezember 2018 mit 5,0 % niedrig (BRD 4,9 %). Die Automobilindustrie ist die für NI wichtigste Wirtschaftsbranche. Allein 52,1 Mrd. € jährliche Wertschöpfung entfallen auf das größte europäische Unternehmen, die Volkswagen AG mit Sitz in Wolfsburg, an dem das Land NI 20,2 % der Aktien hält. Mehr als 30 % aller Industriearbeitsplätze in NI – rund 250.000 – sind vom Fahrzeugbau abhängig. Disruptive Veränderungsprozesse hin zu emissionsfreien und autonom fahrenden Fahrzeugen und der Wandel zum Mobilitätsanbieter sind für die niedersächsische Wirtschaft gravierend. Einen ähnlich tiefgreifenden Strukturwandel hat die Stahlindustrie, die unter internationalem Preisdruck steht, bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren vollzogen. Mit Salzgitter und Georgsmarienhütte verfügt sie noch über bedeutende Standorte, die Spezialstähle herstellen und zukünftig verstärkt auf Wasserstoff im Sinne des Klimaschutzes setzen. Niedersächsische Unternehmen exportieren 45 % ihrer Erzeugnisse und tragen damit zu den 52 Mio. Tonnen Frachtaufkommen bei, die jährlich über die neun Seehäfen des Landes umgeschlagen werden. Eine niedersächsische Besonderheit im innerdt. Vergleich ist die Energiewirtschaft. 96 % der deutschen Erdgas- und 34 % der Erdölproduktion entfallen auf NI. Heute beschäftigt die Branche mit abnehmender Tendenz noch gut 10.000 Menschen. NI ist maßgeblicher Motor der Energiewende in D und deckt bereits 60 % des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien. Bei der Nutzung der Windenergie belegt NI mit 10.582 MW installierter Leistung (6197 Anlagen) bundesweit Platz 1. Der Zubau an Windkraftanlagen ist jedoch durch Planungsfehler bei der Energiewende und hohe Auflagen ins Stocken geraten und hat zu massiven Arbeitsplatzverlusten in der Branche geführt. Aktuellen Herausforderungen begegnet die niedersächsische Wirtschaftsförderpolitik verstärkt durch den flächendeckenden Ausbau digitaler Infrastrukturen und die Innovationsförderung kleiner und mittelständischer Unternehmen.

Politisches System

Verfassung

Die erste Verfassung mit lediglich 13 Paragraphen, die maßgeblich das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive regelten, beschloss der von der Militärregierung eingesetzte Landtag am 11.02.1947. Der erste frei gewählte niedersächsische Landtag verabschiedet dann am 13.04.1951 unter Bezugnahme auf das Grundgesetz (GG) ein schlankes Organisationsstatut ohne eigenen Grundrechtskatalog. NI gehört damit zu den Nachzüglern, da bereits acht Bundesländer zuvor eine Verfassung verabschiedet hatten. Diese vorläufige Niedersächsische Verfassung (NV) blieb bis zum 31.05.1993 in Kraft und erfuhr in 42 Jahren nur zwölf Änderungen. Dem Homogenitätsgebot des Art. 28 GG folgend erkennt auch die dauerhafte NV das GG als übergeordnetes Verfassungssystem an. Die Staatstrukturprinzipien werden bereits in Art 1 NV für allgemeinverbindlich erklärt, Art. 46 Abs. 2 NV schützt diese gegen Veränderung und Art. 3 NV bezieht sich auf den Grundrechtskatalog des GG. Mehrfach hebt sich die NV jedoch von anderen Landesverfassungen und vom GG ab. Sie enthält beispielsweise Gewährleistungen wie Art. 4 (1), nach dem jedem Menschen das Recht auf Bildung zusteht. Zudem haben nach Art. 4a (1) Kinder und Jugendliche als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde und gewaltfreie Erziehung. Nach Art. 6a wirkt das Land darauf hin, dass jeder Mensch Arbeit finden und dadurch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und dass die Bevölkerung mit angemessenem Wohnraum versorgt ist. Im Vergleich zum GG ist das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre abgesenkt. Zudem kombiniert die NV in den Art. 47–49 repräsentative und direktdemokratische Elemente, wobei der Gestaltungskraft nach aufsteigend die Verfahren der Volksinitiative (Art. 47 NV), des Volksbegehrens (Art. 48 NV) und des Volksentscheides (Art. 49 NV) zu nennen sind. Seit 1994 ist es so zu 15 Volksinitiativen, zehn Volksbegehren, aber keinem Volksentscheid gekommen. Die NV garantiert gem. Art. 57 nicht nur die kommunale Selbstverwaltung, sondern auch eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen gem. Art. 58 NV. Zudem erfolgt die Kostenübernahme im Fall der Übertragung staatlicher Aufgaben nach Weisung (Art. 57 (4)) nach dem Konnexitätsgebot. Aufbauend auf ihren beiden Vorläuferinnen hat sich auch die 1993er Verfassung als stabil erwiesen, sodass sie bisher nur fünf Mal, zuletzt am 23.10.2019 (Schuldenbremse), eine Änderung erfuhr.

Organisation des politischen Systems

Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem werden auch in NI maßgeblich durch Landtag, Landesregierung und Staatsgerichtshof bestimmt. Die Wahl der Landtagsabgeordneten findet nach dem personalisierten Verhältniswahlsystem statt, wobei seit 1998 alle fünf Jahre mindestens 135 Abgeordnete des Landtages neu gewählt werden. Die Sitzverteilung auf die ins Parlament eingezogenen Parteien, die die 5 %-Hürde überwinden, erfolgt nach dem D’Hondt’schen Höchstzahlverfahren. Die Erststimme bestimmt einen Kandidaten aus den 87 Wahlkreisen und damit fast Zweidrittel der Abgeordneten. Neben der starken Legitimation ist so auch eine ausgeglichene regionale Repräsentation der Abgeordneten sichergestellt. Mit der Zweitstimme werden über die Landeslisten der Parteien weitere 48 Mandate vergeben. Die Abgeordneten nehmen ihr Mandat als Vollzeitaufgabe wahr. Auch der Landtag in NI gehört zu den Arbeitsparlamenten, wobei Vorlagen in den spiegelbildlich zu den Ministerien gebildeten Ausschüssen vorberaten werden. Dem Niedersächsischen Landtag steht gem. Art. 10 NV das Recht auf Selbstauflösung zu, was dem Bundestag verwehrt ist. Der Verfassungsgeber hat hierfür hohe Hürden gesetzt, sodass die Selbstauflösung nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Abgeordneten, jedoch mindestens mit der Mehrheit der Landtagsabgeordneten, beschlossen werden kann. Hiervon machte der Landtag bisher nur zwei Mal (21.04.1970 und 21.08.2017) Gebrauch. Maßgebliche Funktionen des Landtages von NI liegen in der Gesetzgebung, der Haushaltskompetenz, der Wahlfunktion und der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Bedingt durch den Kompetenzensog der vorgelagerten EU- und Bundesebene sind die Materien der Landesgesetzgebung begrenzt, haben jedoch durch die 2006 eingeführte Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 (3) GG) neuen Spielraum erhalten. Dem Exekutivparlamentarismus folgend bringt die Landesregierung die meisten erfolgreichen Gesetzentwürfe in den Landtag ein oder bietet den regierungstragenden Fraktionen Formulierungshilfen an. Bei der haushaltspolitischen Einnahmeseite ist die Gestaltungskraft des Landtages vordringlich auf die Festlegung des Grunderwerbssteuersatzes begrenzt. Der Schwerpunkt der Haushaltsgesetzgebung liegt somit auf der Ausgabenseite durch die zumeist jährliche Haushaltsplanverabschiedung, wobei zukünftig die Restriktionen der Schuldenbremse gem. Art. 109 (3) GG zu beachten sind. Bereits ab 2017 kann NI planerisch und ab 2019 auch strukturell einen ausgeglichenen Haushalt aufgrund der außergewöhnlich hohen Steuereinnahmen vorweisen. Um zukünftig finanzielle Handlungsspielräume in besonderen Ausnahmesituationen zu erhalten und konjunkturelle Schwankungen ausgleichen zu können, hat der Gesetzgeber eine Neufassung des Art. 71 NV mit Wirkung zum 01.01.2020 beschlossen. Im Sinne der demokratischen Legitimationskette wählt der Landtag zudem den Ministerpräsidenten als Spitze der Exekutive (Art. 29 (1) NV) und die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des Staatsgerichtshofes (Art. 55 (2) NV) als Spitze der Judikative, den Landesbeauftragten für den Datenschutz (Art. 62 (2) NV) sowie den Präsidenten und Vizepräsidenten des Landesrechnungshofes (Art. 70 (2) NV). Parlamentarische Kontrolle über die Exekutive übt der Landtag über verschiedene Kontrollinstrumente wie das Zitierrecht (Art. 23 (1) NV), das Interpellationsrecht (Art. 24 (1) NV in Verbindung mit § 45 ff. GOLT), das Aktenvorlagebegehren (Art. 24 (2) NV) und die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (Art. 27 NV) aus. Für diese Minderheitenrechte der Opposition bedarf es eines Fünftels der Abgeordneten. Daher drohen sie wie im Fall der 18. Legislaturperiode des Landtages (2018–2022) durch die erdrückende Regierungsmehrheit (77 % der Mandate) leerzulaufen.

Ministerpräsident und Minister bilden die Landesregierung, wobei weder der Ministerpräsident noch die Minister über ein Abgeordnetenmandat verfügen müssen, aber der Bestätigung des Parlaments (Art. 29 (3) NV) bedürfen. Der Ministerpräsident führt die Landesregierung und übt die Richtlinienkompetenz aus, der das Ressortprinzip gegenübersteht. Analog zur Bundesebene ist nur die Abwahl des Ministerpräsidenten – nicht aber einzelner Minister – und damit der Sturz der gesamten Regierung durch ein konstruktives Misstrauensvotum möglich.

Seit 1946 haben sieben Ministerpräsidenten aus den Reihen der SPD insgesamt 45 Jahre lang die Geschicke des Landes maßgeblich bestimmt (Hinrich Wilhelm Kopf 1947–1955 und 1959–1961, Georg Diederichs 1961–1970, Alfred Kubel 1970–1976, Gerhard Schröder 1990–1998, Gerhard Glogowski 1998–1999, Sigmar Gabriel 1999–2003 sowie Stephan Weil seit 2013). In der Zeit von 1955–1959 war Heinrich Hellwege von der Deutschen Partei (DP) im Amt. Erstmals konnte die CDU mit Ernst Albrecht von 1976 bis 1990, dann von 2003 bis 2013 durch Christian Wulff und zuletzt mit David McAllister die Landesregierung anführen (insgesamt 24 Jahre). Die Festlegung der Geschäftsbereiche der Landesregierung obliegt ihr nach Art. 38 (1) und Art. 56 NV selbst. Neben der Staatskanzlei gehören zum Kernressortbestand in NI Finanzen, Inneres und Sport, Kultus, Wirtschaft und Infrastruktur, Justiz, Soziales, Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz sowie Wissenschaft und Kultur. Als gesetzt gilt inzwischen auch das 1986 gegründete Umweltministerium. Durch die Themen Energie, Klimaschutz und Wohnungsbau hat es nun auch verstärkt wirtschaftspolitische Bedeutung erlangt. Durch die Abspaltung von drei Abteilungen der Staatskanzlei (Regionale Entwicklung, Europa und Landesvertretung beim Bund) entstand auch ein Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung, das im Bundesländervergleich einzigartig und dem zahlenmäßigen Ressortausgleich der Koalitionspartner geschuldet ist. Damit korrespondierend gilt die niedersächsische Staatskanzlei im Vergleich zu anderen Regierungszentralen als schlank aufgestellt. Als einziges großes dt. Flächenland vollzog NI im Jahr 2005 einen weitgehenden „Systemwechsel“ von einer drei- zu einer zweistufigen Verwaltungsgliederung. Anstelle der vier Bezirksregierungen Hannover, Braunschweig, Lüneburg und Weser-Ems trat eine Vielzahl von Sonderbehörden. Große Entwicklungsunterschiede zwischen den Landesteilen haben ein ressortübergreifendes und integratives Handlungserfordernis in der Fläche erkennen lassen. Daher gründete die Landesregierung zum 01.01.2014 vier Ämter für regionale Landesentwicklung in der Gebietskulisse der alten Regierungsbezirke, indem die ehemaligen Regierungsvertretungen als Restanden der Bezirksregierungen mit den Ämtern für Landentwicklung verschmolzen wurden. Eine fachlich gebotene Weiterentwicklung zu echten regionalentwicklerischen Bündelungsbehörden blieb bisher aus. Maßgebliche strukturpolitische Veränderungen der heterogenen kommunalen Gebietskulisse datieren trotz eines akuten Reformbedarfes auf den Zeitraum der Gebietsreform von 1972 bis 1978 und liegen somit mehr als 40 Jahre zurück. Als Ergebnis dieser Altreform reduzierte sich die Anzahl der kreisfreien Städte von 13 auf acht und die der Landkreise von 57 auf 38. Im Jahr 2016 kam es zu einer punktuellen weiteren Fusion, indem der verwaltungs- und strukturschwache Landkreis Osterode am Harz im neuen Landkreis Göttingen aufging.

Nicht zuletzt aufgrund des harten politischen Parteienwettbewerbs in NI wird der Staatsgerichtshof regelmäßig angerufen. Allein im Zeitraum von 2000 bis 2017 sind 39 Entscheidungen dieses Gerichts ergangen. Das in Bückeburg ansässige Gericht beeinflusst durch Urteile in Organstreitverfahren und bei der Normkontrolle von Landesgesetzen die niedersächsische Politik erheblich. Aber auch Kommunen haben mehrfach Verfassungsbeschwerde zur Überprüfung des Finanzausgleichs beim Staatsgerichtshof eingereicht. Im Gegensatz zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof ist die von jedermann nach Erschöpfung des Rechtsweges zu führende Popularklage in NI unzulässig.

Parteiensystem, Landtagswahlen, Wahlverhalten

In NI dauerte es bis Anfang der 1960er-Jahre bis sich ein konzentriertes Parteiensystem etablierte. Hierzu trugen die Einführung der 5 %-Hürde bei der Landtagswahl 1959 und das bundesweite Parteiverbot der extremistischen Flügelparteien Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 und Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1956 bei. Zuvor waren bis zu neun Parteien im Landtag vertreten. Dass die Herausbildung von Volksparteien in NI in dieser ersten Phase bis zur Wahl 1963 andauerte, hat unterschiedliche Gründe. So gab es in der SPD regional sehr heterogene Parteiströmungen, wobei die hannoversche und oldenburgische reformistisch, die braunschweigische hingegen radikal geprägt waren. Im bürgerlichen Lager kam es durch regionale Teilmilieus und das Wiederaufleben der Kleinparteien der Weimarer Republik zu einer Zersplitterung. Als Spezifikum ist hier die Niedersächsische Landespartei (NLP) mit protestantisch-welfischen Wurzeln zu nennen, die sich 1947 in DP umbenannte und insbesondere Wahlerfolge in der Lüneburger Heide und im Raum Meppen erzielen konnte. Demgegenüber hatte das katholische Zentrum in Südoldenburg und im Emsland Hochburgen. Die FDP stand damals programmatisch im Wettbewerb mit der NLP/DP, hatte ihre Wählerschwerpunkte aber in Nordoldenburg, Ostfriesland und Göttingen. Diese Konkurrenzsituation erklärt auch das damals vergleichsweise schwache Abschneiden der konfessionsübergreifenden CDU, die zwar sukzessive hinzugewann, aber erst mit der Wahl 1963 die 30 %-Marke deutlich überspringen und sich so als Sammlungs- und letztlich Volkspartei positionieren konnte. Mit der Landtagswahl 1963 war die Konsolidierung im Sinne des „Zweieinhalbparteiensystems“ von SPD, CDU und FDP weit vorangeschritten, wobei es der FDP nicht dauerhaft gelang, die 5 %-Hürde zu überwinden. Sie war in den Wahlperioden von 1970–1974, 1978–1982 und von 1994–2003 nicht im Landtag vertreten. Die sogenannte Zweite Welle des Rechtsextremismus in der BRD (1966–1968) traf auch NI in der Landtagswahl 1967. Durch ihren 7 %-Stimmenanteil erzielte die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) einen einmaligen Achtungserfolg. Letztlich dominierten die beiden Volksparteien SPD und CDU diese zweite Phase, die erst mit dem Aufkommen der Grünen und der Landtagswahl 1982 ihr Ende fand. Der Wiedereinzug der FDP (5,9 %) und der Wahlerfolg der Grünen (6,5 %) zulasten der SPD führten zu einem weitgehend stabilen Vierparteiensystem. In dieser dritten Phase standen sich mit Rot-Grün und Schwarz-Gelb jahrzehntelang zwei ideologische Lager mit begrenzten Koalitionsoptionen gegenüber. Der Einzug der Linken nach der Landtagswahl 2008 mit 7,1 % der Stimmen war bisher auf diese Legislaturperiode begrenzt und deutet auf die strukturellen Probleme der Linkspartei in Westdeutschland hin. Bei der Wahl 2017 zog die AfD dem allgemeinen Bundestrend folgend erstmals in den Landtag ein, erlangte mit einem Stimmenanteil von 6,2 % aber nur ein unterdurchschnittliches Ergebnis.

Wahlen in NI führen vergleichsweise selten zu einem politischen Wechsel, sodass Landesregierungen regelmäßig auf eine Amtszeit von mehr als zwei Legislaturperioden zurückblicken können. Eine eindeutig hervorstechende und über Jahrzehnte vorherrschende Regierungspartei fehlt in NI. Die Bewältigung der Kriegsfolgen, Fragen der gesellschaftlichen Neuordnung und die Adenauersche Außenpolitik der Westanbindung dominierten die ersten niedersächsischen Landtagswahlkämpfe. Mit Beginn der Wirtschaftskrise 1966/1967 gewannen gesellschafts- und wirtschaftspolitische Themen wie Arbeitsplatzsicherung und Schulpolitik im Parteienwettbewerb zunehmend an Bedeutung. Den Machtwechsel zur CDU brachte jedoch die gescheiterte Neuwahl eines SPD-Ministerpräsidenten nach dem altersbedingten Rücktritt Alfred Kubels. Statt des Finanzministers Helmut Kasimier wurde Ernst Albrecht als erster CDU-Ministerpräsident NIs zum Nachfolger Kubels mit mindestens drei Stimmen aus dem sozialliberalen Regierungslager gewählt. Erst 1990 kehrte die SPD mit Gerhard Schröder in die Regierungsverantwortung zurück. Nur geringe Stimmenverschiebungen führten zur Ablösung des amtsmüden Ernst Albrecht. Besondere Bedeutung kam der Landtagswahl 1998 als bundespolitische Vorentscheidung um die SPD-Kanzlerkandidatur zu. Nach dem Wechsel Schröders in das Kanzleramt konnten seine Nachfolger Gerhard Glogowski und Sigmar Gabriel die Macht für die SPD nicht über 2003 hinweg halten, sodass Christian Wulff im dritten Anlauf in einem Lagerwahlkampf mit Bildungs- und wirtschaftspolitischen Themen die Wahl gewann. Die christliberale Koalition verteidigte ihre Regierungsmehrheit 2008. Nach der Wahl Wulffs zum Bundespräsidenten im Jahr 2010 gelang es seinem Nachfolger David McAllister 2013 nicht, das ererbte Amt zu verteidigen. Mit einer rot-grünen Ein-Stimmen-Mehrheit konnte Stephan Weil das Amt des Ministerpräsidenten für die SPD zurückerobern. Diese äußerst knappe Regierungsmehrheit hielt nicht die volle Legislaturperiode, sondern endete mit dem Wechsel der B90/Grünen-Abgeordneten Elke Twesten zur CDU-Fraktion am 04.08.2017 vorzeitig. So kam es zu Neuwahlen am 15.10.2017, in deren Nachgang die traditionelle Lagerbildung zwischen schwarz-gelb und rot-grün aufbrach und sich eine große Koalition unter SPD-Führung bildete.

Strukturell profitieren vom demographischen Wandel SPD und CDU. Sie erzielen überdurchschnittlich hohe Gewinne bei den älteren Wählern (über 60-Jährige), die insgesamt ein Viertel aller niedersächsischen Wählerinnen und Wähler stellen und die höchste Wahlbeteiligung unter allen Alterskohorten haben. Die FDP-Wählerschaft setzt sich überdurchschnittlich stark aus 30–44 Jährigen zusammen. In diesem Segment ist auch die AfD überproportional stark vertreten. Die Grünen haben ihre höchsten Stimmenanteile in der Altersgruppe der 18–29 Jährigen.

Auch in Bezug auf das Bildungsniveau der Wählergruppen sind klare Profile erkennbar. Fast die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler mit Hauptschulabschluss (48 %) haben bei der Landtagswahl 2017 die SPD gewählt. Die CDU erhielt hier lediglich 36 % der Stimmen. Im Wählerpotential der FDP und Grünen sind die Bevölkerungsgruppen mit einem formal hohen Ausbildungsniveau (Abitur und Hochschulabschluss) am stärksten vertreten. Trotz stetig sinkender Gewerkschafts- und Kirchenmitgliederzahlen korreliert die Religions- und die Gewerkschaftszugehörigkeit auch heute noch überdurchschnittlich stark mit der Präferenz für eine der beiden etablierten Volksparteien. Während nahezu die Hälfte aller Protestanten die SPD unterstützt, wählen 49 % aller katholischen Wählerinnen und Wähler die CDU. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaftsmitgliedschaft: über 50 % der gewerkschaftlich organisierten Wählerinnen und Wähler unterstützen die SPD – nur 21 % geben ihre Stimme der CDU.

Auch die berufliche Tätigkeit steht in Verbindung mit der Parteipräferenz. So weist die niedersächsische SPD zwischenzeitlich das Profil einer Angestellten-, Beamten- und Rentnerpartei auf. Zudem bestätigt sich auch bei dieser Landtagswahl erneut die hohe Affinität der Landwirte zur CDU (72 %). Darüber hinaus wird deutlich, dass sich das Wählerpotential der AfD in NI primär aus Arbeitern und Arbeitslosen zusammensetzt.

Regionale Hochburgen der niedersächsischen SPD befinden sich im Nordwesten an der Küste nördlich von Oldenburg in Ostfriesland bis nach Wilhelmshaven. Zudem weist die SPD in den alten Industriekernen NIs, im Braunschweiger Land und im Südosten NIs bis auf das katholische Eichsfeld eine deutliche Dominanz auf. Darüber hinaus ist die SPD in den Städten wie Hannover, Lüneburg, Oldenburg oder Osnabrück dominant. Demgegenüber liegen die CDU-Hochburgen im katholisch und agrarisch geprägten Weser-Ems-Gebiet. Aber auch in den ländlichen Räumen des ehemaligen Regierungsbezirks Lüneburg ist die CDU stark vertreten. Bedingt durch den Atomstandort Gorleben erzielen B90/Grüne hohe Stimmenanteile im Wendland. Weitere Wählerschwerpunkte liegen in den Universitätsstädten Göttingen, Hannover, Osnabrück, Braunschweig, Lüneburg, Oldenburg und Hildesheim. Bei kommunalen Wahlen erzielten B90/Grüne im Jahr 2019 zwei überregional beachtete Erfolge: Anna Kebschull eroberte in Osnabrück als erste Grüne bundesweit ein Landratsamt und Belit Onay löste als neuer Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover die SPD-Vorherrschaft nach 73 Jahren ab. Die FDP erreichte bei der letzten Landtagswahl überdurchschnittliche Ergebnisse mit über 10 Prozent in Oldenburg (Land), Diepholz und Ammerland, wo sie historisch stark verwurzelt ist. Zweistellige Ergebnisse erhielt die AfD in Salzgitter und Delmenhorst. Beide Städte haben eine vergleichsweise niedrige Beschäftigungs-, aber hohe Ausländerquote.

Politische Rolle in Deutschland und Europa

Im wiedervereinigten Deutschland verfügt NI wie BY, BW und NRW über sechs Stimmen im Bundesrat. Daher kam NI insbesondere in der Zeit vor der Föderalismusreform mehrheitsbildende Bedeutung zu. Denn mit dem Kabinett Gerhard Schröder I (1990–1994) kam es nicht nur zum Regierungswechsel in NI, sondern auch zur Verschiebung der parteipolitischen Machtverhältnisse von den B- zu den A-Ländern im Bundesrat. Diese Kohabitationslage trat erneut mit jeweils umgekehrten parteipolitischen Vorzeichen in der Zeit von 2003–2010 ein, als die CDU-geführte Landesregierung unter Christian Wulff die Amtsgeschäfte in NI übernahm. Ein Interessengegensatz zwischen dem Bund und NI bestand seit den 1990er-Jahren in der atomaren End- und Zwischenlagerfrage Gorleben. NI verweigerte sich hier trotz Weisungen des Bundes einer weiteren Erkundung und vorbereitenden Arbeiten für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle in Gorleben.

Für etliche Bundespolitiker begann der politische Aufstieg in NI. Vordringlich sind hier die Namen des SPD-Altkanzlers Gerhard Schröder, des Alt-Bundespräsidenten Christian Wulff (CDU) und des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) zu nennen. Aber auch der ehemalige Umwelt-, Wirtschaft- und Außenminister sowie SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel oder die ehemalige Verteidigungsministerin und neue EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen, Tochter des verstorbenen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, sammelten zunächst Regierungserfahrung in NI.

Europapolitische Initiativen der Länder führen nur zu begrenzten materiellen Politikergebnissen und haben daher oft symbolischen Charakter. Im Fall der niedersächsischen Landesbeteiligung an der VW AG gewannen jedoch Fragen der Wettbewerbsverzerrungen im EU-Binnenmarkt in den 2000er-Jahren erhebliche landespolitische Brisanz. Erst das abschließende Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Jahr 2013 bestätigte das VW-Gesetz und die Auffassung des Landes. Auch ist NI von der Zustimmung der EU zu staatlichen Milliarden-Beihilfen im Rahmen der Rettung der Norddeutschen Landesbank abhängig. Daneben ist die Einwerbung europäischer Fördermittel für NI relevant. Die damit verbundenen Wirkungen sind jedoch fraglich, da beispielsweise der ehemalige Regierungsbezirk Lüneburg trotz des Einsatzes von 1,67 Mrd. € an EFRE-Fördermitteln im Zeitraum 2007–2013 noch heute als strukturschwach gelten muss. Obgleich NI auch hier keine originäre Regelungskompetenz hat, ist das Brexit-Thema nicht nur aufgrund der engen historischen Verbundenheit des Hauses Hannover (Personalunion von 1714–1837) mit Großbritannien (GB) für NI bedeutsam. GB ist das zweitwichtigste Exportland für NI. Daher gilt es, die wirtschaftlichen Folgen abzumildern und den Wegfall von Fanggründen in der Nordsee zu verhindern. Zudem streben viele der während der Besatzungszeit zugezogenen Briten die dt. Staatsbürgerschaft an, um den Verlust der Unionsbürgerschaft mit den damit verbundenen Nachteilen zu vermeiden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Holger Meyer

Fussnoten