von euro|topics-Redakteurin Sophie Elmenthaler. Mitarbeit von den euro|topics-Korrespondenten Dirk Auer, Nina Henkelmann, Lukas Kapeller, Konélia Kiss, Brigitte Kramer, Leo Mausbach und Hans-Jörg Schmidt
Das Gas-Problem
Erdgas wurde im Juli zusammen mit Kernenergie als grüne Technologie in die Externer Link: EU-Taxonomie aufgenommen, weil es beim Verbrennen der emissionsärmste fossile Energieträger ist. Die EU-Kommission begründete den Vorschlag damit, dass die EU ihre Klimaziele und den Kohle-Ausstieg ohne diesen Kompromiss nicht erreichen kann. Die EU bezog bislang allerdings rund 41 Prozent ihres Erdgases, das in ihren Mitgliedstaaten durchschnittlich knapp ein Viertel des Energiemixes ausmacht, aus Russland . Insbesondere in EU-Staaten ohne Zugang zum Meer wie Österreich, Tschechien oder Ungarn liegt dieser Anteil noch weit höher. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Externer Link: drosselte Russland als Antwort auf westliche Sanktionen mehrfach die Lieferungen über die bestehenden Pipelines. Polen und die Niederlande erhalten sogar überhaupt kein Gas mehr aus Russland, und auch die Lieferung nach Deutschland über Nordstream 1 ist ausgesetzt.
Die Idee, als EU direkt ein Gasembargo gegen Russland zu verhängen, Externer Link: fand nicht ausreichend Unterstützung. Widerstand kam zum Beispiel aus Österreich. Dort schrieb Eric Frey in Der Standard am 9. April: "Bei einem russischen Anteil von 80 Prozent an der heimischen Gasversorgung wäre ein Boykott vor allem für die heimische Industrie schwer verkraftbar. Kaum ein anderes Land hat sich in der Energieversorgung in eine so massive Abhängigkeit von Moskau begeben wie Österreich. Als Folge dieser Fahrlässigkeit sieht sich die türkis-grüne Regierung gezwungen, das zu blockieren, was Moral und Realpolitik eigentlich verlangen."
Die Regierung von Viktor Orbán in Ungarn hat sämtliche EU-Sanktionspakete gegen Russland Externer Link: erfolgreich abgemildert und macht keinen Hehl daraus, weiterhin an guten Beziehungen zu Putin interessiert zu sein - zum Schaden der Bevölkerung, wie Ökonom József Papp am 7. Mai in G7 feststellt: "Die Kooperation mit Putin hat Orbán unvorsichtig gemacht: Er hat es versäumt – obwohl das als Regierungschef seine allerwichtigste Verpflichtung gewesen wäre – die Abhängigkeit des Landes vom russischen Gas zu verringern. … Die Orbán-Regierung hat in zwölf Jahren fast nichts getan, um den Gasverbrauch zu senken und die Struktur des Energieverbrauchs der Bevölkerung zu ändern." Inzwischen räumt die Regierung ein, dass die Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland langfristig ein wichtiges Ziel sei und will dafür auf erneuerbare Energien und Atomkraft setzen.
In Tschechien ist die Bereitschaft, die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen, zwar groß, die Abhängigkeit von Russlands Gas aber nicht zu leugnen, wie Lidové noviny nicht ohne Ernüchterung kommentiert: "Tröstend ist, dass Russland nur in dieser und der nächsten Saison Gas als Waffe einsetzen kann. Dann endet seine Zeit als zuverlässiger Lieferant und Geschäftspartner für Jahrzehnte. Das Problem ist, dass Europa in diesem und im nächsten Jahr neben dem Winter in den Wohnungen auch mit einem dramatischen Rückgang der Industrieproduktion konfrontiert ist, die ohne russische Energie einfach nicht auskommt."
LNG statt Pipelinegas?
Sowohl Tschechien als auch Österreich haben es in den letzten Monaten geschafft, etwas unabhängiger von Russlands Gas zu werden, indem sie Flüssigerdgas (LNG) über ein Terminal aus den Niederlanden importieren. LNG (Liquefied Natural Gas) ist die Bezeichnung für Erdgas, das in gereinigtem Zustand durch Abkühlen verflüssigt und stark komprimiert wird. In dieser Form kann es auf Schiffen transportiert werden. In den Zielhäfen sind Terminals nötig, die es zum Weitertransport wieder gasförmig in Pipelines einspeisen. Das ist teuer, wenn aber Russland als Lieferant ausfällt, kann man durch Importe etwa aus Katar oder den USA relativ leicht die Liefermengen erhöhen. Trotzdem bleibt es umstritten. Als LNG verschifftes Erdgas wird oft mit der Fracking-Methode gewonnen. In Deutschland ist Fracking zur Erdgasgewinnung in Schiefer-, Ton-, Mergel- und Kohleflözgestein verboten , weil das mit Chemikalien versetzte Wasser, mit dem das Gas aus dem Gestein gepresst wird, das Trinkwasser verschmutzen kann. In der Regierungskoalition zeichnet sich momentan eine neue Debatte ums Fracking in Deutschland ab. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte schon kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine an, den Bau von LNG-Terminals zum Import von zu beschleunigen, was der Deutschlandfunk am 27. August so kommentiert: "Im eigenen Land wollen wir nicht fracken, aber wir wollen uns Fracking-Gas per LNG-Terminal in Wilhelmshaven, Stade oder Brunsbüttel liefern lassen. Und seien wir ehrlich: Unter welchen Umweltbedingungen das russische Erdgas gefördert wird, das hat ohnehin nicht interessiert."
Das RND äußert am 16. August die Sorge, dass hohe Investitionen in die Gasinfrastruktur dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien im Wege stehen könnten: "Erdgas-Lobbyisten machen keinen Hehl daraus, dass sie die fossile Energie noch viele, viele Jahre einsetzen wollen. Die Versuchung ist groß, sich darauf einzulassen. Denn damit wird der Druck für den sehr komplizierten Ausbau der Erneuerbaren verringert. … So richtig wie der kurzfristige Aufbau der LNG-Infrastruktur ist, so wichtig ist auch, dass die Bundesregierung schon jetzt einen ambitionierten Fahrplan nicht für einen LNG-, sondern für einen kompletten Gas-Ausstieg vorlegt."
Deutschland hatte bereits vor dem Krieg angesichts steigender Energiepreise im Dezember 2021 versucht, mehr Erdgas etwa aus den Niederlanden zu bestellen, was für Verstimmung in Den Haag gesorgt hatte. Stand Anfang Oktober 2022 hat die Bundesregierung ihre Anfrage an die Niederlande nicht erneuert.
Die umfangreichste Infrastruktur für den Import und die Wiederaufbereitung von LNG in der EU hat Spanien, das bis vor wenigen Monaten Europas Hauptabnehmer für LNG aus den USA war, nun aber von Frankreich und den Niederlanden überholt wurde. 30 Prozent der europäischen Wiederverdampfungskapazität entfallen auf das Land, allerdings fehlten bisher die Möglichkeiten für den Weitertransport. Bereits bestehende Anlagen wie die in den Häfen von Barcelona und Cartagena werden derzeit umgebaut, damit sie über das Mittelmeer mehr Gas in kleineren Schiffen an Italien und andere europäische Mittelmeerländer liefern können.
Spanien, Portugal und Frankreich hatten mehrere Jahre, zuletzt auch sehr intensiv, über eine terrestrische Leitung für Gas und perspektivisch grünen Wasserstoff (Midcat) diskutiert, die Gas aus Portugal und Spanien über die Pyrenäen nach Mitteleuropa bringen sollte. Das Thema gewann durch den Krieg an Aktualität, nachdem es 2019 wegen zu hoher Kosten ad acta gelegt worden war. Am 20. Oktober entschieden Portugals und Spaniens Premiers Antonio Costa und Pedro Sánchez sowie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron endgültig gegen die Umsetzung von Midcat. Stattdessen wurde der Bau einer kürzeren Unterwasserverbindung zwischen Barcelona und Marseille beschlossen (Barmar). Frankreich, das sich gegen Midcat gewehrt hatte, hat Barmar zugestimmt. Details sollen ab Anfang Dezember geklärt werden. Die größte spanische Tageszeitung El País zeigt sich am 21. Oktober erfreut: "Der Kompromiss vereint typisch europäische Tugenden: Niemand unterliegt und Europa kommt voran. Sánchez und Costa erfüllen ihr Ziel, die energetische Isolation der Iberischen Halbinsel zu durchbrechen. ... Macron hat endlich die iberischen Argumente akzeptiert und die Zukunftsaussichten des grünen Wasserstoffs gefördert. ... Es war nicht nachvollziehbar, dass die Länder des Südens sich in einem für die Union so entscheidenden Moment nicht koordiniert hatten. Nach dem Sieg der rechtsextremen Partei von Giorgia Meloni in Italien fällt das Land aus der Gruppe heraus. ... In einer so komplexen Situation ist dieses Abkommen eine ermutigende Nachricht für die beteiligten Länder, aber auch für Europa insgesamt." Die konservative El Mundo mahnt am selben Tag zur Eile: "Das Ende des Midcat-Projekts ist ein schwerer Schlag für die spanischen und europäischen Erwartungen. … Doch die gestern getroffene Vereinbarung, die Verbindungen zwischen der iberischen Halbinsel und dem Rest des Kontinents zu verbessern, klingt gut. ... Die Umsetzung muss so rasch wie möglich folgen, um diese einmalige Gelegenheit für die spanische Wirtschaft zu nutzen und die Abhängigkeit unserer Partner zu lindern. Fortschritte sind jetzt entscheidend und strategisch wichtig."
Kohle: Der Verbrauch steigt wieder
Obwohl die EU plant, bis 2030 komplett auf Kohleenergie zu verzichten, hat deren Anteil im europäischen Energiemix bereits vor dem Krieg gegen die Ukraine zugenommen. Er stieg 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent, 2022 dürfte er angesichts des Krieges noch höher liegen. In Deutschland etwa betrug der Anteil der Kohle im Energiemix im ersten Halbjahr 2022 31,4 Prozent, 2021 waren es 27,1 Prozent gewesen. Die tschechische Externer Link: Zeitung Lidvé noviny wundert das am 21. Juni nicht: “Sicherheit geht vor Ökologie, jedoch auch vor Logik. Wenn Deutschland seine Atomkraftwerke nicht abschalten würde, müsste es nicht so viel Kohle verbrennen, die die Umwelt belastet. Aber es gibt ein Problem: Bei grünen Aktivisten ist die Angst vor einem nuklearen Unfall größer als die vor der globalen Erwärmung. ... Freilich: Damit es sich lohnt, müssten die Atomanlagen nicht nur kurzfristig, sondern noch einige Jahre betrieben werden. … Allerdings würde es der Natur und Deutschlands Energieunabhängigkeit von Russland helfen.” Doch auch in den Niederlanden ist der Kohleverbrauch wieder gestiegen – zwangsläufig, kommentiert die konservative Zeitung Externer Link: De Telegraaf ebenfalls am 21. Juni: "Dies ist die Folge der aggressiven Politik des Kremls, der in der Ukraine Tod und Verderben sät und immer mehr europäische Länder wirtschaftlich unter Druck setzt mit dem Zudrehen des Gashahns. ... Klima-Minister [Rob] Jetten - als Abgeordneter der [linksliberalen] D66 noch starker Befürworter des Kohleausstiegs - erkennt jetzt, dass die Koalitionskollegen VVD und CDA recht hatten mit ihrem jüngsten Plädoyer für Wiederankurbelung der Kohlekraftwerke. Mit dem so eingesparten Gas können die Vorräte aufgefüllt werden."
Die mit Abstand größte Rolle als Energieträger spielt Kohle jedoch nach wie vor in Polen. "Polska węglem stoi" – Polen fußt auf der Kohle –, heißt es. Bis zu 70 Prozent seines Strombedarfs deckt das Land mit Braun- und Steinkohle. Jeder vierte Haushalt nutzt zum Heizen hauptsächlich Kohle, schätzt das polnische Umweltministerium. Auch die Heizkraftwerke werden zumeist mit Kohle betrieben. Da das Land aber schon vor Inkrafttreten des EU-weiten Embargos den Import von Steinkohle aus Russland mit Sanktionen belegt hat, reicht die heimische Förderung nicht aus und neue Bezugsquellen müssen her. Gleichzeitig steigen weltweit die Nachfrage und somit der Preis. Hohen Heizkosten im Winter steuert die Regierung mit Kostendeckeln und Zuschüssen entgegen, was die Presse kritisch kommentiert: "11 Milliarden Złoty für Kohle-Heizzuschüsse werden von der Regierung bald vergeudet sein. Abgesehen von dem offensichtlich inflationsfördernden Impuls könnte ein solch enormer Geldtransfer katastrophale Folgen für den Kampf um Energieeffizienz und saubere Luft haben" , schreibt Gazeta Wyborcza am 12. August. Noch deutlicher wird Rzeczpospolita am 12. September: "Der Griff der Regierung nach der auf Halde liegenden Kohle ist ein Eingeständnis des Scheiterns der gesamten Energiepolitik des Landes. Anstatt in erneuerbare Energiequellen zu investieren und die Häuser der Polen abzudichten, kehren wir in die Vergangenheit zurück."
Kernenergie: Emissionsarm und unabhängig?
Der Ausstieg aus der Kohle ist für Polen ein mühsamer Prozess, den seine Regierungen in der Vergangenheit verschleppt haben. Der Kampf gegen Smog , die steigende CO2-Bepreisung, immer unrentablere Bergwerke sowie wachsendes Klima- und Umweltbewusstsein haben in den letzten Jahren den Druck erhöht. Als Lösung für das Problem wird schon länger Kernenergie diskutiert, in die die aktuelle PiS-Regierung nun massiv investieren will. Bis 2033 soll der erste Reaktor in Betrieb gehen. In der engeren Auswahl stehen drei Technologieanbieter: Westinghouse (USA), EDF (Frankreich) und KHNP (Südkorea). Der Atomeinstieg wird von links bis rechts von allen relevanten politischen Parteien in Polen unterstützt. Die Zustimmung in der Bevölkerung für den Bau von Kernkraftwerken in Polen ist hoch und seit dem Krieg in der Ukraine noch etwas gestiegen. Auch die Presse ist überwiegend positiv eingestellt. Stellvertretend fasst Wprost am 26. September die Argumente der Befürworter zusammen: "Angesichts der Bestrebungen der Europäischen Union, bis 2050 völlig emissionsfreie Energie einzuführen, ist die Kernenergie unter den polnischen Klimabedingungen zu einer Notwendigkeit geworden. Kernkraftwerke gelten als die besten, stabilsten und am flexibelsten verfügbaren Energiequellen. Windkraft und Photovoltaik sind nicht in der Lage, zu jeder Zeit Energie zu erzeugen."
Auch die Regierung in Ungarn schätzt Atomkraft als klimafreundlich ein und hat angekündigt, aufgrund der Energiekrise die Betriebszeit des einzigen Atomkraftwerks Ungarns in Paks verlängern zu wollen. Das Kraftwerk liefert fast die Hälfte der ungarischen Stromproduktion. Außerdem treibt die Regierung weiterhin das seit langem geplante zweite Kraftwerk Paks II voran. Dieses wird vom russischen Staatskonzern Rosatom gebaut und mit einem russischen Kredit finanziert. "Es steht außer Frage, dass Ungarn mit der gemeinsamen Entwicklung von Kernenergie und erneuerbaren Energiequellen auf dem richtigen Weg ist. Neben der geplanten weiteren Verlängerung der Betriebszeit des Kernkraftwerks Paks und dem Bau des Kernkraftwerks Paks II sollte daher mittelfristig die Möglichkeit des Baus neuer Kernkraftwerksblöcke an einem neuen Standort in Betracht gezogen werden, damit wir unter allen Umständen über billigen, im Inland erzeugten Strom verfügen können" , meint die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet. Die linke Tageszeitung Népszava ist weniger optimistisch und weist auf die Risiken der Zusammenarbeit mit Russland hin: "Unsere Abhängigkeit von russischer Energie, die derzeit das größte politische und wirtschaftliche Risiko für die EU und Ungarn darstellt und sich entscheidend auf alles auswirkt, was uns derzeit weh tut, vom Wechselkurs des Forints bis zu den Energierechnungen, kann sicherlich nicht gemildert werden durch ein Kernkraftwerk, das mit russischem Geld und russischer Beteiligung gebaut wird und mit russischem Brennstoff funktioniert."
In Polens Nachbarland Tschechien kommen bereits 40 Prozent des heimischen Energiemixes aus Atomkraft, der Strom wird auch nach Deutschland exportiert. Um die Abhängigkeit von der heimischen Kohle und russischem Gas weiter zu verringern, will auch Tschechien die Atomkraft ausbauen. Insgesamt wird die Frage, ob der Fokus auf Atomkraft wegen der in vielen Kernkraftwerken insbesondere in Tschechien und Polen eingesetzten russischen Brennelemente oder russischen Urans auch problematisch sein könnte, in Europas Presse wenig diskutiert. Eine Ausnahme bildet ein Beitrag von Jade Lindgaard, die im linken französischen Online-Medium Médiapart am 5. Oktober Pläne der Regierung Frankreichs zum Bau weiterer Atomkraftwerke kritisiert: "Die Liste der Staaten, die heute weiterhin Atomkraftwerke bauen und in Auftrag geben, versammelt Regime, wo Menschenrechte, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, Recht auf Information sowie Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Infrastrukturentscheiden nicht geachtet werden. … Zu dieser Karte Atomkraftwerke bauender Staaten kommt noch die ebenso bedeutende der Lieferländer natürlichen Urans hinzu. 2020 kam rund die Hälfte der europäischen Importe aus Russland, Kasachstan – wo Demonstrationen gegen steigende Energiepreise gewaltsam niedergeschlagen wurden – und Usbekistan – das die Meinungsfreiheit nicht garantiert."
Bisher ist der Nuklearsektor von Russland-Sanktionen seitens der USA und der EU ausgenommen.
Dass die Kernenergie derzeit von so vielen europäischen Staaten gefördert wird, hat vor allem mit ihrem Potenzial zu tun, CO2-Emissionen zu reduzieren. Entscheidend zu ihrer Einstufung als grüne Technologie in der EU-Taxonomie hatte sich vor allem Frankreich eingesetzt, das traditionell ein großer Befürworter und Förderer der Atomkraft ist: 70 Prozent der heimischen Stromproduktion kommen aus Kernenergie. Schon vor Kriegsbeginn hatte Frankreichs Präsident Macron angekündigt, neben Offshore-Windkraft und Photovoltaik vor allem den krisengebeutelten Atomsektor zu fördern und den heimischen Atomkonzern EDF vollständig zu verstaatlichen. Die französischen Atomkraftwerke befinden sich in schlechtem Zustand: Im September 2022 waren 32 von 56 Reaktoren aufgrund von Wartungsarbeiten oder Korrosionsproblemen nicht in Betrieb. Im Sommer konnten viele Atomkraftwerke während Hitzewellen und Dürreperioden nicht ausreichend gekühlt werden. Leitartikler Yves Thréard findet in Le Figaro am 6. Oktober deutliche Worte: "Wir bezahlen nicht den Preis für unsere Sorglosigkeit – die Franzosen haben ihr staatsbürgerliches Bewusstsein und ihren Gemeinschaftssinn in der Corona-Krise bewiesen –, sondern den für die mangelnde Vorausschau unserer Regierenden. … Unsere nukleare Leistungskraft wurde auf dem Altar von Wahlabsprachen und inkonsequenten ideologischen Entscheidungen geopfert und hätte uns als Aushängeschild unserer Industrie zum größten Teil vor schlechten Winden schützen und verhindern sollen, dass unsere Wirtschaft zum Schrumpfen verurteilt wird." Julien Tchernia, Vorsitzender des Ökostromanbieters Ekwateur, geht im Wirtschaftsblatt Les Echos am 4. Oktober noch weiter: "EDF und der Staat sind dem Klima- und Energienotstand nicht gewachsen. Und am Ende werden die Verbraucher oder die Steuerzahler eine Energierechnung bezahlen, die aus Mangel an Produktionsmitteln immer weiter steigen wird."
Insgesamt bleibt die Akzeptanz von Atomkraft in Frankreich hoch. Und sogar in Deutschland, das noch 2021 am Atomausstieg festhielt und dafür viel Kritik aus verschiedenen europäischen Staaten erntete, hat der Krieg die Debatte verändert: Nach langem Streit zwischen Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) und Finanzminister Lindner (FDP) wies Bundeskanzler Olaf Scholz das Kabinett am 19. Oktober an, eine Gesetzesvorlage für eine Laufzeitverlängerung bis zum 15. April zu unterbreiten., abgerufen am 8.11.2022 Über die Änderung des Atomgesetzes stimmt der Bundestag voraussichtlich am 11. November ab. In einer aktuellen Umfrage sprechen sich 55 Prozent der Befragten sogar für einen Weiterbetrieb über den April hinaus aus. Die FDP wirft Habeck und seinem Ministerium vor, eine Laufzeitverlängerung über den 15. April 2023 hinaus nicht ergebnisoffen geprüft zu haben. Kaleva aus Finnland konnte schon am 9. September nicht verstehen, was es da noch zu diskutieren gibt: „In der aktuellen Situation wäre es vernünftig, wenn Deutschland versuchen würde, andere Länder bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Dass das nicht geschieht, zeigt sich daran, dass das Land nicht in der Lage war, eine klare Entscheidung über die Verlängerung der Laufzeit der drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus zu treffen. Dies würde dazu beitragen, den Preisanstieg zu bremsen. Stattdessen hält das Land dogmatisch an einem vor mehr als zehn Jahren gefassten Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie fest, obwohl sich die Welt heute in einer anderen Lage befindet und eine Verlängerung der Laufzeiten sowohl unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit als auch unter dem der Umwelt eindeutig sinnvoll wäre.”
Der konservative Le Figaro aus Frankreich schreibt am gleichen Tag: „Nach der Abschaltung der Kernkraftwerke hat sich Deutschland komplett von russischem Gas abhängig gemacht und um eine Rationierung von Strom zu vermeiden, reaktiviert es seine Kohlekraftwerke - obwohl es 127 GW an erneuerbaren Energien geschaffen hat, viermal so viel wie in Frankreich.”
In der deutschen Mediendebatte überwog bereits im Sommer die Ansicht, eine Laufzeitverlängerung sei richtig. Die WAZ schreibt am 25. Juli etwa: "Man muss kein Atomfreund sein, um diesen Schritt richtig zu finden. Bei der drohenden Energieknappheit wäre es verantwortungslos, funktionierende Energieträger zu streichen. Die Atomkraft in Deutschland war zuverlässig und hätte mit einem verantwortungsvolleren Entsorgungskonzept wahrscheinlich auch in Zukunft einen Platz im Energiemix haben können. So wie bei vielen unserer europäischen Nachbarn auch."
Und am 5. September schreibt die Badische Zeitung: "Wer aber glaubt, dass nun der Ausstieg aus dem Atomausstieg beginne, dürfte sich täuschen: Die Atomkraft bleibt eine Hochrisikotechnologie. Der Bau neuer Anlagen lohnt sich nicht und dauert viel zu lang, um dem Klima zu nützen. Atomstrom hilft dem Land vielleicht über den Winter und den darauf. Auf Dauer hilft er nicht."