Die Rückkehr zweier Preußenkönige
„Reitet für die DDR“ – unter dieser Überschrift berichtete die Zeit im Dezember 1980 über ein für westdeutsche Leserinnen und Leser verblüffendes Ereignis: Die Rückkehr des Reiterstandbilds Friedrich II. nach Ost-Berlin.
Wenige Monate später schwebte erneut ein Preußenkönig durch Berlin – diesmal allerdings im Westteil der Stadt. Im Zuge der Aufbauarbeiten zur großen Sonderausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ installierten die West-Berliner Ausstellungsmacher ein Reiterstandbild von Wilhelm I. unter der Decke des Lichthofs im Martin-Gropius-Bau. Genau wie die Wiederaufstellung seines Ahnen Friedrich erregte auch der schwebende Wilhelm einiges Aufsehen.
Preußen auch in Ost-Berlin? Planungen für eine Ausstellung in der Hauptstadt der DDR
Die sich verschärfende geschichtspolitische Konkurrenzsituation der beiden deutschen Staaten beschäftigte in der DDR auch hohe politische Gremien wie den Rat für Geschichtswissenschaft beim Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In West-Berlin, darüber waren die ostdeutschen Funktionäre bereits informiert, konkretisierten sich Ende der 1970er Jahre die Pläne für eine Sonderausstellung zur preußischen Geschichte. Diese solle, so berichtete der Rat, „nach jüngeren Presseberichten 1981 direkt an der Staatsgrenze der DDR im wiederaufgebauten Gebäude des ehemaligen Kunstgewerbemuseums eröffnen“. In einem „vertraulich“ gestempelten Vorschlag für eine zentrale Ausstellung in Ost-Berlin Anfang 1981 hielten die Funktionäre zunächst fest, dass derzeit eine „Verschärfte ideologische Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus“ herrsche. Auf lange Sicht, so mahnte der Rat weiter, müssten
„planmäßig und kontinuierlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Anspruch der sozialistischen DDR auf alle progressiven Traditionen der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Vielfalt und Breite hervorzuheben und ihn im Kampf gegen den in der BRD vertretenen Antikommunismus und bürgerlichen Nationalismus massenwirksam zur Geltung zu bringen“.
Bis hierhin enthält das Dokument damit im Wesentlichen immer wiederkehrende Versatzstücke realsozialistischer Rhetorik. Neu ist aber, dass im Folgenden direkt auf die Möglichkeiten verwiesen wird, die Berlin eine „zentrale Ausstellung über jene geschichtlichen Traditionen, auf denen die DDR beruht“ bringen würde. Worauf dieser konkrete Vorschlag zurückgeht, wird im nächsten Absatz deutlich. Der verantwortliche Kulturfunktionär führt aus, dass eine solche Ausstellung „rechtzeitig eröffnet, noch mehr Gewicht angesichts der geplanten, von der Bonner Regierung unterstützten und vom West-Berliner Senat beschlossenen Preußen-Ausstellung“ gewönne. Die „direkt an der Staatsgrenze der DDR“ geplante Preußen-Schau war den Ost-Berliner Funktionären offensichtlich von Beginn an ein Dorn im Auge und es sollte frühzeitig eine eigene Ausstellung geschaffen werden, die den Anspruch der DDR auch auf diesen Teil der deutschen Geschichte deutlich machen sollte. Denn über die mit dieser Ausstellung gegenüber der DDR verfolgten „antikommunistischen Absichten“ könne es keinen Zweifel geben. Umso notwendiger seien deshalb jetzt die Überlegungen und Entscheidungen darüber, „wie solchen Versuchen ideologischer Diversion am geeignetsten zuvorzukommen ist“.
Als passenden Ausstellungsort legte der Rat für Geschichtswissenschaft zunächst das Museum für Deutsche Geschichte (MfDG) fest. Es folgten erste Finanzpläne und Konzepte zur inhaltlichen Ausstellungsgestaltung. Der Direktor des MfDG, Wolfgang Herbst, gab allerdings früh zu bedenken, dass die Realisierung des Ausstellungsvorhabens die Eröffnung der aktuell in der Überarbeitung befindlichen Dauerausstellung massiv verzögern würde und dass dieses Vorhaben momentan absolute Priorität im MfDG haben müsse.
ZK-Mitglieder, Historiker und ein Museumsdirektor auf geheimer Mission in der Preußen-Ausstellung
„Preußen – Versuch einer Bilanz“ zog innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Besucher an. Neben historisch interessierten Berlin-Besuchern nahmen, so geht aus Sitzungsprotokollen des ZK der SED von 1981 hervor, schon kurz nach der Eröffnung im August 1981 mehrere Mitarbeiter des Instituts für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sowie Vertreter der Abteilung Kultur beim ZK der SED die Ausstellung „zur Information unter kulturpolitischen Gesichtspunkten“ unter die Lupe.
Werner Gahrig begab sich gemeinsam mit zwei Mitarbeitern der Abteilung Wissenschaft und Propaganda des ZK sowie einem Mitarbeiter des Instituts für Marxismus-Leninismus nach West-Berlin, um die Preußen-Ausstellung zu besuchen und hinterher an seine Vorgesetzten „über die bei der Besichtigung der Ausstellung gesammelten Eindrücke und erkennbar gewordenen politischen Absichten der Veranstalter rasch zu informieren“.
„Orientierung auf die sogenannte Sozialgeschichte, einer Geschichtsauffassung, die Geschichte nicht einseitig als politische Geschichte behandelt, sondern zugleich auch andere Faktoren, besonders der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sichtbar macht“.
Die Ausstellung zeige „Kurfürsten und das Hofleben, berühmte Künstler und Salons, aber auch das Leben der kleinen Leute“, hält Gahrig weiter fest. Zwar spare die Schau „bestimmte Züge der konservativen Variante, die Preußen glorifiziert“ wie eine Ahnengalerie der Hohenzollern, nicht aus – dominierend sei aber überwiegend der Versuch „ein differenziertes Preußenbild zu vermitteln, das auch kritische Aspekte setzt“.
Gahrigs Bericht bewegt sich nahezu in jedem Absatz im Spannungsfeld zwischen fachlichem Interesse und einer Anerkennung des auf West-Berliner Seite geleisteten und der parteilich verordneten Ablehnung gegenüber der „bürgerlichen“ Geschichtspräsentation im Gropius-Bau. Die Ausführungen des Ost-Berliner Historikers bestätigen in der Praxis, was die Historiker Martin Aust und Daniel Schönpflug in ihrer Feind- und Fremdbildtheorie über systemübergreifendes Lernen in Zeiten politischer Gegnerschaft beschreiben.
Die partielle Kritik an Preußen, so rettet sich Gahrig am Ende aber wieder zurück auf den korrekten sozialistischen Standpunkt, sei freilich nichts weiter als ein geschickter Schachzug des West-Berliner Senats und bundesdeutscher Politiker und diene dazu, „das gegenwärtige imperialistische System der BRD zu rechtfertigen“. Ziel der politischen Akteure im Hintergrund, wie auch der Ausstellungsmacher, sei es Gahrigs Meinung nach gewesen, „eindeutig glaubhaft zu machen, dass die Bundesrepublik das fortschrittliche Preußen verkörpere und die SPD in den Traditionen des demokratischen Teils Preußen“ stehe. Gahrigs Ausführungen, obwohl schlussendlich wieder „auf Linie“, machen deutlich, dass jede Beschäftigung mit dem Gegner die Gefahr birgt, dass die jeweiligen Akteure nicht nur das bisher gehegte Feindbild bestätigt finden, sondern auch die positiven Aspekte des gegnerischen Schaffens für sich erkennen. Darüber hinaus legt Gahrigs Bericht Zeugnis über die teilweise langfristige Wirkung, die auch einzelne Ausstellungsprojekte auf die geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Entscheidungen und Entwicklungen im Konkurrenzstaat entfalteten. Er verweist explizit darauf, dass der Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik beim Thema „Preußen-Ausstellung“ und „Berlin-Geschichte“ sich beim 750-jährigen Berlin Jubiläum 1987 keinesfalls wiederholen dürfe – und deshalb akuter Handlungs- und Aufholbedarf auf diesem Feld bestehe – zumal es bisher noch immer keine brauchbare sozialistische Berlin-Historiografie gebe, nach der man das Jubiläum und die dafür geplanten Ausstellungen ausrichten könne. Gahrig beschreibt deshalb nicht nur Inhalt und Intention der Preußen-Ausstellung für seine Auftraggeber sondern stellt auch schon eine ausführlichere Analyse in Aussicht, in der er dann „Aussagen und Wertungen zur Geschichte Berlins“ aufzeigen wolle um daran abzulesen, welches Berlin-Bild man im Westen 1987 präsentieren wolle.
Ein zweiter Bericht lässt bereits einen wesentlich schärferen politischen Ton erkennen. Hier fehlt die Auseinandersetzung mit Ausstellungsinhalt und -gestaltung völlig. Stattdessen steht die politisch-ideologische Beurteilung im Vordergrund. Die Ausstellung, so führt Gahrig aus, „folgt eindeutig politischen Interessen.“
Soweit überrascht auch diese Einschätzung, zumal von politischer Seite in Auftrag gegeben, nicht. Gahrig leitet aus dem Besuch der Preußen-Ausstellung aber auch konkrete Konsequenzen für das zukünftige Handeln in Ost-Berlin bezüglich preußischer Geschichte und Berliner Stadtgeschichte ab. Er fordert eine
„Verstärkung der Anstrengung bei der Erforschung und Propagierung der nationalen Traditionen der DDR […] namentlich auch der revolutionären, demokratischen und humanistischen Traditionen der Hauptstadt der DDR, Berlin“.
So gelte es beispielsweise mittels eigener Berlin-Forschung eine „konkret-historische Wiederlegung der These von der sogenannten Integration der Arbeiterbewegung in die Ausbeutergesellschaft und der Reduzierung ihres Kampfes auf bürgerlich-demokratische Rechte und Freiheiten“ zu erarbeiten und damit „die verhängnisvolle Rolle des reaktionären Preußentums in der deutschen Geschichte“ zu entlarven. Um künftig eine offensive Auseinandersetzung mit „gegnerischen Konzeptionen und Auffassungen“ zur Geschichte Berlins zu ermöglichen, empfiehlt Garig schließlich mit Nachdruck, nicht nur eine weitere intensive Auseinandersetzung mit „Preußen – Versuch einer Bilanz“ und anderen Ausstellungen in West-Berlin zur preußischen Geschichte, sondern auch eine verstärkte Rezeption der westdeutschen Publikationen zur Geschichte Berlins.
Diese Forderungen, die der Leiter des Stadtarchivs hier vorbringt, greifen Ideen und Tendenzen auf, die unter Ost-Berliner Historikern bereits vorhanden, von Parteiseite aber bisher weder großartig beachtet noch unterstützt worden waren. Schon 1980 hatten sich Mitarbeiter der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Vertreter der Bezirksleitung getroffen, um über die Entwicklung der Berlinhistoriografie und die Stärkung des Geschichtsbewusstseins in der Ost-Berliner Bevölkerung zu diskutieren. Er hielt die von den Fachwissenschaftlern vorgebrachten Vorschläge, die er allerdings nicht näher benennt, für richtig und unterstützenswert. Darüber hinaus habe auch ihm „die Information über die Vorbereitung einer Preußen-Ausstellung in West-Berlin“ Anlass gegeben, eine eigene ostdeutsche Berlinforschung zu etablieren. Der Blick über die Mauer brachte demnach vor allem im geteilten Berlin die jeweils andere Forschungs- und Ausstellungslandschaft voran. Der Druck im Konkurrenzkampf zu bestehen, eröffnete so auch neue Möglichkeiten und Spielräume für die Akteure auf beiden Seiten. Gahrig nutzt die gegnerische Ausstellung und die Warnung vor der Vereinnahmung bestimmter Geschichtsfelder durch den Systemkonkurrenten, um die bisher von Funktionärsseite stark vernachlässigte Berlin-Historiografie im Osten voranzutreiben. Er wusste die Berichte über die Preußen-Ausstellung also auch für seine eigenen Zwecke einzusetzen.
Der Stellvertretende Direktor des Märkischen Museums, Heribert Hampe, begutachtete die Preußen-Ausstellung wenig später. Er reiste im November 1981 gleich für mehrere Tage nach West-Berlin, um sich insgesamt vier Ausstellungen zur preußischen Geschichte anzuschauen – darunter natürlich „Preußen – Versuch einer Bilanz“.
Ansonsten lässt er aber weder inhaltlich noch gestalterisch ein gutes Haar an der Preußen-Schau des Klassengegners. Er bemängelt, dass aus seiner Sicht wichtige Ereignisse wie die Novemberrevolution oder die Gründung der KPD viel zu kurz, andere historische Ereignisse wie die Französische Revolution oder die sozialistische Oktoberrevolution überhaupt keine Beachtung fänden. Gehässig fährt er fort: „Die technische Aufbereitung der Ausstellung entsprach wie der Inhalt nicht dem neuesten Stand der Museologie“. Der Einsatz der Beleuchtung als Gestaltungsmittel sei „vollkommen misslungen“, der Vitrinenbestand veraltet. Die Texttafeln der Themenräume würden den Besucher mit Informationen überschütten. Zwar begrüßte er die Fülle der ausgestellten Alltagsgegenstände – die Präsentationstechnik sei aber erneut indiskutabel.
„Dabei verzichtete man […] bewusst darauf, innerhalb eines Raumes Höhepunkte zu schaffen, besonders aussagekräftige Exponate hervorzuheben, Entwicklungslinien bzw. – Tendenzen herauszuarbeiten.“
Der Besucher müsse sich „aus der Fülle des vorgestellten Materials die Höhepunkte selbst auswählen, sich abermals durch eine Texthäufung hindurcharbeiten.“ Diese Gestaltung diene, so erläutert Hampe, vor allem politisch-ideologischen Zwecken:
„Mit dieser positivistischen Arbeitsmethode erreicht man, daß der Betrachter nur die optisch wirksamsten Ausstellungsstücke betrachtet und dabei vermeintlich positive Akzente in sich aufnimmt.“
Die Folgen einer solchen Gestaltung seien, so schlussfolgert Hampe, verheerend:
„Unter dem Deckmantel der Objektivität erfolgte eine Verherrlichung der Preußischen Entwicklung, wurden emotionale Empfindungen, die die Keime eines Nationalismus in sich trugen, geweckt, eine kritische Analyse verhindert.“ All dies überrascht wenig. Bemerkenswert ist aber, dass er der Ausstellung attestiert, sie sei „hinter den neuesten Erkenntnissen bürgerlicher Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung“ zurückgeblieben. Im Folgenden zitiert er sogar aus preußen-kritischen Werken von westdeutschen Historikern und moniert, dass diese weitaus harscher mit Preußen in die Kritik gingen als die Ausstellung im Gropius Bau. Er muss also zumindest diese „progressiven“ Publikationen zur preußischen Geschichte gekannt und rezipiert haben. Selbst an offenbar vom sozialistischen Weg überzeugten wie Hampe gingen also die Entwicklungen in der Bundesrepublik nicht vorbei.
Fazit
Das Reiterstandbild Friedrich II. steht im Dezember 1980 wieder Unter den Linden in Ost-Berlin (© picture alliance / dpa - Bildarchiv, Foto: Konrad Giehr)
Das Reiterstandbild Friedrich II. steht im Dezember 1980 wieder Unter den Linden in Ost-Berlin (© picture alliance / dpa - Bildarchiv, Foto: Konrad Giehr)
„Preußen – Versuch einer Bilanz“ erregte, so zeigen die zitierten Quellen deutlich, von Beginn an einiges Aufsehen in Ost-Berlin. Politische Akteure maßen dem geschichtspolitischen Signal aus West-Berlin eine große Bedeutung zu und fürchteten den Verlust über die Deutungshoheit dieses Teils der deutschen Geschichte. Von politischer Seite beauftragt, befassten sich auch ostdeutsche Fachleute mit der Preußen-Schau. Diese Auseinandersetzung mit der „gegnerischen“ Ausstellung und damit auch mit Sichtweisen und Forschungsansätzen des Klassengegners, barg allerdings auch eine deutliche Gefahr. So nutzte der Leiter des Berliner Stadtarchivs Werner Gahrig seinen Bericht über die Preußen-Ausstellung auch, um seinen Forderungen nach einer eigenen ostdeutschen Berlin-Geschichte Nachdruck zu verleihen und selbstbewusst gegenüber den politischen Akteuren aufzutreten, die dies bisher verhindert hatten. Die Feind- und Fremdbildforschung geht außerdem davon aus, dass die Beschäftigung mit gegnerischem Schaffen jeglicher Art das Aufrechterhalten politischer Feindbilder in Systemkonkurrenzen massiv erschwert. Ein Faktor, der sicher auch den Zersetzungsprozess des ostdeutschen Parteistaates in den 1980er Jahren beschleunigte.
Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz war wenige Jahre später selbst Geschichte. Der „Alte Fritz“ überstand den politischen Wechsel unbehelligt – wurde aber 1997 erneut vom Sockel geholt. Diesmal allerdings zu Restaurierungszwecken. „Am Sonnabend reitet er wieder Unter den Linden“ berichtete Die Welt im Jahr 2000 zur Wiederaufstellung des Reiterstandbildes, das seine Rettung vor dem Verfall ausgerechnet Erich Honecker verdankte.
Zitierweise: Anne Wanner, Wie stellt der Klassenfeind die preußische Geschichte aus? Die Wahrnehmung und Wirkung der 1981 in West-Berlin gezeigten Sonderausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ in der DDR, in: Deutschland Archiv, 20.4.2018, Link: www.bpb.de/267948