Ein seltenes Ereignis: Die Wissenschaftler sind sich weitgehend einig!
Was macht eigentlich guten Unterricht aus? Diese Frage dürfte viele stärker als je zuvor interessieren, haben doch gerade die Studien von John Hattie neue und detaillierte Einsichten dazu hervorgebracht.
InfoboxJohn Hattie fasst weltweite Forschungsergebnisse zusammen
Der Australier John Hattie publizierte im Jahr 2009 ein Buch, in dem er die Ergebnisse von über 50.000 weltweit veröffentlichten empirischen Studien zur Frage "Wie gelingt erfolgreiches Lernen in der Schule?" zusammengetragen hat. Hatties Credo auf der Basis der vielen Befunde ist: Es kommt auf die Lehrkraft und die von ihr verantwortete Unterrichtsqualität an: Macht sie guten Unterricht, so lernen die Schülerinnen und Schüler auch viel. Schulische Rahmenbedingungen wie z. B. die Klassengröße oder auch die Schulstruktur, so Hattie, haben kaum Einfluss auf einen erfolgreichen Wissens- und Kompetenzerwerb.
Nun ist Hattie nicht der erste Forscher, der sich mit der Frage befasst, wodurch genau sich Schulunterricht auszeichnet, in dem Schüler besonders gut lernen. Vielmehr haben Generationen von Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachdisziplinen Vorstellungen darüber entwickelt, auf welche Einflussfaktoren es dabei ankommt. Teilweise haben sie auch versucht, ihre Modelle gelingenden Unterrichts an der Wirklichkeit zu messen, das heißt mithilfe empirischer Untersuchungen zu prüfen, ob sie stimmen. Auch wenn Forscher aus verschiedenen Disziplinen dabei häufig zu unterschiedlichen Einschätzungen kamen, herrscht heute doch zumindest über folgende Aspekte weitgehende Einigkeit:
Hohe Komplexität: Unterricht ist eine sehr vielschichtige Angelegenheit. Sein Ablauf wird durch eine ungewöhnlich große Zahl von Einflussfaktoren mitbestimmt, etwa die Vorgaben des Lehrplans, die fachlichen Kompetenzen der Lehrperson sowie die Lernvoraussetzungen und die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler. Die Wirkungen des Unterrichts auf das Lernen, die Motivation oder auch Emotionen der Schüler sind vielfältig und daher kaum vorauszusagen. Manche Unterrichtseinheit kann einige Schülerinnen und Schüler motivieren, andere möglicherweise langweilen. Entsprechend kompliziert sind die Forschungen in diesem Feld.
Vielfalt der Unterrichtsziele: Schüler sollen im Unterricht nicht nur fachliche Kompetenzen erwerben. Sie müssen auch die Chance haben, ihre Interessen auszubilden, ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen zu stärken und das eigenverantwortliche, selbstreflektierte und demokratische Denken und Handeln einzuüben.
Oberflächen- und Tiefenstrukturen: Weltweit setzt sich die Einsicht durch, dass es nicht so sehr die Oberflächenphänomene sind, die die Unterrichtsqualität bestimmen, etwa die finanzielle Ausstattung der Schule, die Klassengröße oder unterschiedliche Schulformen. Es kommt vielmehr auf die Tiefenstrukturen an, z. B. die Glaubwürdigkeit der Lehrkräfte, ein lernförderliches Klima, die Verständlichkeit der Lehrersprache, eine Feedbackkultur, die Kunst, die Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken anzuregen, und gemeinsames Nachdenken über das eigene Lernen.
Abwechslungsreiche Lernarrangements statt Monokultur: Die Forschungsergebnisse zeigen deutlich, dass eine ausgewogene Mischung der Sozialformen des Lernens zu besseren Ergebnissen führt, als vorwiegend auf eine Lernform zu setzen. Frontalunterricht, Gruppen- und Einzelarbeit sollten sich ergänzen und nicht polarisierend gegeneinander ausgespielt werden.
Als Faustregel gilt heute: Den stärksten Einfluss auf erfolgreiches Lernen haben die Schülerinnen und Schüler selbst, den zweitstärksten die Lehrkräfte. Erst an dritter Stelle kommen die schulischen Rahmenbedingungen.
Drei zentrale Dimensionen guten Unterrichts
Bei allen Besonderheiten des jeweiligen Faches gilt, dass Unterricht die folgenden drei Bedingungen erfüllen muss, um die Lernenden zu motivieren und zum Mitdenken anzuregen ("kognitive Aktivierung"):
Effiziente Klassenführung trägt dazu bei, einen hohen Anteil an echter Lernzeit herbeizuführen. Die Lehrperson bemüht sich, Störungen des Unterrichts vorzubeugen und verringert so den Umfang der erforderlichen Eingriffe; sie hält Organisationsaufgaben aus dem Unterricht heraus oder erledigt sie beiläufig; sie variiert die Sozialformen (Frontalunterricht, Gruppen- und Einzelarbeit) und sorgt für eine Rhythmisierung des Unterrichts mit einer Einführungs-, einer Erarbeitungs- und einer Sicherungsphase; Rechte und Pflichten, Spielregeln und Rituale werden gemeinsam vereinbart; auf ihre Einhaltung wird geachtet.
Kognitive Aktivierung meint, dass die Aufgabenstellung so ausgewählt und so geschickt präsentiert wird, dass sie die Schüler zum Nachdenken, also zur aktiven mentalen Auseinandersetzung mit dem behandelten Thema führt. Hier gibt es im alltäglichen Schulbetrieb, wie Forschungen gezeigt haben, erheblichen Entwicklungsbedarf. Eine der vielen Möglichkeiten, kognitiv zu aktivieren, ist das kooperative Lernen, bei dem sich die Schüler in Kleingruppen eigenständig Wissen zu einem Thema aneignen. Gut belegt ist auch die Wirksamkeit des "reziproken Lernens", bei dem Schüler für eine bestimmte Zeit in die Rolle des Lehrenden schlüpfen und ihre Mitschüler im Tandem, in Kleingruppen oder auch im Plenum unterrichten. Kognitives Aktivieren geht nicht pauschal. Ein Mindestmaß an innerer Differenzierung, bei dem die unterschiedlichen Leistungsstände der Schülerinnen und Schüler in einer Klasse beispielsweise mit unterschiedlichen Aufgaben berücksichtigt werden, ist erforderlich.
Konstruktive Unterstützung bedeutet, dass eine Lehrperson ihren Schülerinnen und Schülern regelmäßige und individualisierte Rückmeldungen zum Lernfortschritt gibt. Indem sie mit Fehlern konstruktiv umgeht und zum Nachdenken über das eigene Lernen anhält, fördert sie das fachliche Lernen. Indem sie Verlässlichkeit, Geduld und Empathie zeigt und auch bei sozialen Problemen Ansprechpartner ist, trägt sie zur positiven motivationalen und emotionalen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen bei.
Professionswissen der Lehrpersonen als Voraussetzung guten Unterrichts
Doch was muss eine Lehrperson an Wissen und Kompetenzen mitbringen, damit sie die gerade beschriebenen Anforderungen an guten Unterricht erfüllen kann? Darüber wissen wir bisher noch wenig. Nur im Bereich des Mathematikunterrichts ist die Forschung schon weiter. Die Mathematikdidaktik – dies ist die Wissenschaft darüber, wie man Mathematik so vermittelt, dass sie verstanden wird – hat sich zur Leitdisziplin der Fachdidaktiken entwickelt (was aber nicht zu dem Denk-Kurzschluss führen darf, dass der in Deutschland gegebene Mathematikunterricht besonders gut sei).
Der US-amerikanische Bildungsforscher Lee Shulman unterscheidet drei Arten von Wissen, das Lehrkräfte für ihren Beruf benötigen. Ihr Professionswissen setzt sich danach aus pädagogischem Wissen, Fachwissen und fachdidaktischem Wissen zusammen. Pädagogisches Wissen beruht dabei in erster Linie auf den Erkenntnissen der Pädagogik und der Pädagogischen Psychologie über das Lernen im Allgemeinen. Fachwissen bezieht sich auf das tiefere wissenschaftliche Verständnis des Faches, das die Lehrkraft unterrichtet. Fachdidaktisches Wissen umfasst schließlich das Wissen über das Vorwissen und die Motivation der Schülerinnen und Schüler sowie das Wissen darüber, wie die Fachinhalte für Lernende am besten strukturiert und präsentiert werden sollten, damit sie verstanden werden.
Shulmans Studien sind in Deutschland von Bildungsforschern wie Jürgen Baumert und Mareike Kunter weitergeführt worden. Sie haben das Zusammenspiel von Professionswissen, Unterrichtsqualität und Schülerleistungen untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen: Lehrkräfte mit einem hohen Fachwissen haben auch eher ein ausgeprägtes fachdidaktisches Wissen. Fachdidaktisch gut aufgestellte Lehrkräfte können wiederum ihre Schüler im Unterricht besser kognitiv aktivieren und dies führt zu höheren Schülerleistungen. Die Studien zeigen zudem, dass Lehrkräfte, je nachdem, ob sie für die Grundschule, die Sekundarschule oder das Gymnasium ausgebildet wurden, über unterschiedliche Niveaus von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen verfügen. Bei Gymnasiallehrpersonen sind sie im Durchschnitt höher als bei Lehrpersonen der anderen Schulformen. Dies hat nicht zuletzt mit der unterschiedlichen Länge und Intensität der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Ausbildung zu tun.
Was tut und lässt eine gute Lehrperson?
Wir könnten es uns nun leicht machen und sagen: Eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer ist ein Mensch, der auf der Grundlage seines differenzierten Professionswissens die genannten drei Dimensionen guten Unterrichts stark macht. Er sorgt also für eine effiziente Klassenführung, für kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung. Aber die eigentliche Frage ist damit noch nicht beantwortet. Denn woraus besteht dieses "sorgt dafür, dass ..."? Das soll im Folgenden mit wenigen Strichen skizziert werden. Dabei fließen Aspekte ein, die in der empirischen Forschung bisher wenig oder gar nicht beachtet wurden, aber für die Bewältigung der ganzen Aufgabe, die Lehrpersonen Tag für Tag lösen müssen, erforderlich sind:
InfoboxSechs Merkmale einer guten Lehrperson
Eine gute Lehrperson versteht es, ein Arbeitsbündnis mit ihren Schülerinnen und Schülern herzustellen, eine Übereinkunft über gegenseitig akzeptierte Rechte und Pflichten.
Sie weiß, dass einige ihrer Aufgaben in sich und zueinander in Widerspruch geraten können (z.B. die Fürsorgepflicht gegenüber dem Einzelnen im Gegensatz zur gerechten Behandlung aller). Aber sie versteht es, die Widersprüche auszubalancieren.
Sie hat breites und tiefes Fachwissen und beherrscht ihr didaktisches und methodisches Handwerkszeug.
Sie begegnet jedem Schüler mit Respekt und versucht, im Klassenzimmer eine demokratische Unterrichtskultur zu entwickeln.
Sie kann ihr eigenes Handeln und seine Wirkungen gründlich überdenken und es auf Basis der Reflexion stetig weiterentwickeln.
Sie arbeitet gern im Team und versteht sich als Mitglied einer professionellen Gemeinschaft.
Mithilfe dieses Katalogs lassen sich Stärken und Schwächen sowie das individuelle Profil einzelner Lehrerinnen und Lehrer erfassen. Dabei ist hervorzuheben, dass eine Lehrkraft nicht in jedem einzelnen dieser Bereiche gleichermaßen "top" sein muss, denn Schwächen im einen Merkmalsbereich können durch Stärken in anderen Bereichen kompensiert werden. Was tun?
Alle sind sich darüber einig, dass der Schlüssel für die langfristige Sicherung eines gleichermaßen humanen und leistungsstarken Bildungssystems die Lehrerausbildung und -fortbildung ist. Die drei Facetten des Professionswissens nach Shulman werden zuallererst in der Lehrerausbildung aufgebaut und dann in der Fort- und Weiterbildung vertieft. Für uns folgt daraus:
Die Lehrerbildung an den Universitäten und Hochschulen muss gestärkt werden – nicht so sehr durch einige wenige Exzellenzinitiativen, sondern durch eine solide fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung in sämtlichen Unterrichtsfächern in der Breite der Standorte.
Lehrkräfte an Grund-, Haupt-, Realschulen, Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen etc. benötigen eine gleich gute und gleich lange Ausbildung wie die Lehrkräfte an Gymnasien und Berufsschulen.
Die Praxisanteile in der Lehrerausbildung sollten so gestaltet werden, dass das im Studium erworbene Professionswissen im Lichte erster praktischer Erfahrungen in der Arbeit mit Schülern reflektiert und weiterentwickelt werden kann.
Die Berufseinstiegsphase (nach dem 2. Examen) bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Hier ist sicherzustellen, dass das eher theoretische Professionswissen, das in der Universität erworben wurde, in unterrichtliches Handeln umgesetzt wird.
Beteiligung an innerschulischen Programmen und Projekten zur weiteren Verbesserung des Unterrichts und kollegiales Hospitieren sollten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Lehrerarbeit werden.
Regelmäßige Lehrerfortbildung muss zu einer voll vom Dienstherrn bezahlten Pflichtveranstaltung gemacht werden.