Im ersten Flugblatt der Weißen Rose vom 27. Juni 1942 heißt es: "Wenn jeder wartet, bis der Andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein." Wann aber ist der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr zu warten, sondern zu handeln?
Diese Frage werden sich auch die unter dem Zeichen der Weißen Rose Vereinten irgendwann gestellt haben. Sie selbst waren ja fast alle noch Schüler, als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Und manche der späteren Widerstandskämpfer standen damals noch im Bann der neuen Bewegung, die gerade junge Menschen so stark anzog. Auch ein Teil von ihnen glaubte anfangs an das Gemeinschaftsideal der nationalsozialistischen Bewegung und schloss sich der Hitlerjugend beziehungsweise dem Bund Deutscher Mädel an. Als ihre Skepsis, dann ihre Verachtung und schließlich ihr abgrundtiefer Abscheu gegenüber dem Regime heranwuchs, war es zwar nicht zu spät zum Handeln, doch bedeutete ihr Einsatz nun, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Und tatsächlich bezahlten die führenden Köpfe der Weißen Rose, der moralisch wohl beeindruckendsten Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime, das Aussprechen der bitteren Wahrheiten mit ihrem Leben.
Wann erkennt man die Gefahr? Wie haben die deutschen Juden den erstarkenden Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg sowie den Regimewechsel 1933 wahrgenommen? Haben sie die Katastrophe kommen sehen? Und die Frage für uns muss natürlich lauten: Was lehrt uns das heute, in einer Zeit, in der ein Vorsitzender der größten Oppositionspartei im Bundestag den Nationalsozialismus nur als "Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" bezeichnet?
"Historical backshadowing"
Selbstverständlich gab es damals keine kollektive Wahrnehmung oder gar Meinung unter den deutschen Juden. Die etwa halbe Million jüdischer Deutscher, die 1933 weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachte, bestand aus Atheisten und Orthodoxen, aus Assimilierten und Zionisten, aus Städtern und Landbevölkerung, aus seit Jahrhunderten Eingesessenen und vor Kurzem Eingewanderten, aus Großindustriellen und Kleinbürgern, aus Konservativen und Sozialisten, aus politisch Wachsamen und Unpolitischen. Eine gemeinsame Gruppe bildeten sie immer nur für die anderen. Zum Zentrum des Antisemitismus in Deutschland wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt München. Die Juden dort schlossen durchaus nicht die Augen vor der neuen Gefahr. Im Herbst 1920 begab sich Rabbiner Leo Baerwald in die Höhle des Löwen. Gemeinsam mit fünf jüdischen Begleitern besuchte er eine NSDAP-Versammlung, in der die jüdische Religion und insbesondere der Talmud verunglimpft wurden. Der Rabbiner wollte dem mit Argumenten entgegnen. Man übertönte seine Ausführungen mit Gebrüll. Seine Begleiter wurden mit Gummiknüppeln misshandelt und die Treppe hinuntergestoßen. Wenige Tage später wurde der bekannte Sexualforscher Magnus Hirschfeld auf einer Vortragsreise in München auf der Straße bewusstlos geschlagen. All dies wohlgemerkt im Jahre 1920!
Zumeist sind es Berichte aus der Rückschau, die wir besitzen, und die – oftmals viele Jahre später verfasst – davon ausgehen, man hätte die Gefahr damals schon wahrgenommen. Doch sind diese Berichte eben auch gezeichnet durch die späteren Erfahrungen aus der Zeit nach 1933. Der Literaturwissenschaftler Michael A. Bernstein prägte den Begriff des "historical backshadowing". Die nachfolgenden Ereignisse werfen sozusagen ihre Schatten nach hinten aus und beeinflussen unsere Beurteilung der zurückliegenden Ereignisse. Denn der Gang der zukünftigen Ereignisse verläuft ja keineswegs zwangsläufig. Stellen wir uns ruhig einen Moment lang vor: Wären nicht Kurt Eisner und Walther Rathenau Attentaten zum Opfer gefallen, sondern Adolf Hitler beim Putschversuch im November 1923 erschossen worden, so wäre vielleicht – keiner weiß es genau – die nationalsozialistische Bewegung eine kurze Episode der Nachkriegszeit geblieben. Hätte es kein 1933 in der deutschen Geschichte gegeben, dann würden wir aus der Rückschau die Geschichte der 1920er Jahre völlig anders bewerten – auch wenn diese natürlich nachträglich nicht anders verlaufen wäre. Doch ist für die Zeitgenossen eben nie klar, welchen weiteren Lauf die Geschichte nehmen wird. Es sind immer mehrere Wege denkbar. Erst nach 1933 war klar, dass die politischen Morde an Eisner, Rathenau und vielen anderen einen Weg ebneten, der im Untergang der Weimarer Republik enden sollte. Aber 1924 oder 1928 glaubten viele daran, dass es sich um eine Krise der Republik handelte, aus der man wieder herausfinden würde – oder gar schon herausgefunden hatte.
Diese Hoffnung hegten auch die deutschen Juden der Weimarer Jahre. Die überwiegende Mehrheit war davon überzeugt, dass sie sich in dem Land, in dem viele ihrer Vorfahren seit Jahrhunderten lebten, nicht fremd oder bedroht fühlen müssten, dass der Schrecken des Antisemitismus vorübergehen würde. Natürlich gab es Ausnahmen wie Gerhard Scholem, der 1922 in München seine Dissertation ablegte und später der wohl bedeutendste Intellektuelle des jungen Staates Israel wurde. Er war einer der ganz wenigen deutschen Zionisten, die tatsächlich schon in den 1920er Jahren Deutschland verließen. Aus Jerusalem bemerkte Scholem über seine Zeit in München: "Die Atmosphäre in der Stadt war unerträglich und der Antisemitismus – meist noch in den konservativen Formen eines groben Bayerntums – war offensichtlich, was heute oft übersehen und in gedämpfteren Farben dargestellt wird, als es wirklich war. Unübersehbar waren die riesigen blutroten Plakate mit dem nicht weniger blutrünstigen Text, die zu den Reden Hitlers einluden. (…) Aber es war doch erschreckend, die Blindheit der Juden, die von alledem nichts wissen und nichts sehen wollten, wahrzunehmen. Sie hielten das alles für eine vorübergehende Erscheinung."
"Wehret den Anfängen"
Heute wissen wir aus der Rückschau: Scholem hatte recht – und die meisten Münchner Juden hatten sich getäuscht. Aber konnte man das 1923, als er Deutschland verließ, wirklich wissen? Selbst Scholem ahnte ja nicht das Ausmaß der Katastrophe, als Hitler dann zehn Jahre später wirklich an die Macht kam. Was die Nationalsozialisten mit den Juden planen würden, konnten diese nicht wissen, denn die Nationalsozialisten wussten es 1933 selbst noch nicht genau. Es mutet gespenstisch an, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass eine Woche vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler das erste jüdische Museum in Berlin in der Oranienburger Straße in einer feierlichen Zeremonie eröffnet wurde. Immer wieder heißt es heute: "Wehret den Anfängen" – doch erkennt man die Anfänge nicht immer erst dann, wenn es bereits nicht mehr die Anfänge sind? Wann war das Maß voll? Als es am 1. April 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte kam? Als in der Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April zunächst die jüdischen Beamten, dann auch Arbeiter und Angestellte bei den Behörden und jüdische Honorarprofessoren, Privatdozenten und Notare entlassen wurden? Als ab dem 22. April jüdische Ärzte nicht mehr für Krankenkassen arbeiten durften? Als am 25. April ein Numerus clausus für jüdische Studierende eingeführt wurde? Als am 10. Mai die Bücher jüdischer und regimefeindlicher Autoren brannten?
Als Hans Scholl und Alexander Schmorell 1942 ihr erstes Flugblatt verfassten, waren die Massenmorde in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibór bereits in vollem Gange, das Krakauer Ghetto wurde abgeriegelt, und die Transporte aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka sollten bald danach beginnen. Das von Gerhart Riegner, dem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz, in den Westen geleitete Telegramm mit ersten Einzelheiten über die Massenvernichtung, stieß auf Desinteresse. Die Gefahr konnte nun gewiss nicht mehr verkannt werden, doch was konnte man jetzt noch tun? Die im Reich verbliebenen Juden waren völlig recht- und auch mittellos geworden, halb Europa stand unter nationalsozialistischer Herrschaft oder war mit dem NS-Regime verbündet, und die Alliierten hatten alle Hände voll zu tun, nicht selbst Opfer des "unersättlichen Dämons", wie es in dem Flugblatt hieß, zu werden. Nun war es zu spät: zu spät, um den Massenmord an anderen aufzuhalten, aber auch, um sich selbst zu helfen.
Als der braune Spuk am 8. Mai 1945 endlich beendet wurde, waren etwa zwei Drittel der europäischen Juden ermordet worden. Bereits im zweiten Flugblatt der Weißen Rose vom Sommer 1942 lautete das hellsichtige Urteil: "Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann." Es sollte Jahrzehnte dauern, bis Historiker dieses Urteil in ihren einschlägigen Werken bestätigten. Ein kleiner Rest der mitteleuropäischen Juden hatte überlebt. Unter ihnen waren meine Eltern. Mein Vater wurde am 8. Mai 1945 in Waldenburg, einem Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen, nach über fünf Jahren in zahlreichen Ghettos und Konzentrationslagern von der Roten Armee befreit. Seine Eltern und der Großteil seiner Familie hatten nicht überlebt. Meine Mutter wurde am selben Tag mit ihren Eltern ebenfalls von Soldaten der Sowjetarmee aus ihrem Versteck in Dresden befreit. Nach mehreren Jahren Zwangsarbeit hatte sie sich während des Bombenangriffs auf Dresden den gelben Stern, den sie dreieinhalb Jahre lang getragen hatte, von der Kleidung gerissen, um der zwei Tage später geplanten Deportation nach Theresienstadt zu entgehen.
Auch sie und ihre Eltern hatten während der 1930er Jahre gemeint, der braune Spuk gehe vorüber und waren in Deutschland geblieben. Gemeinsam mit weniger als 30.000 anderen jüdischen Überlebenden und Rückkehrern aus dem Exil trugen meine Eltern dazu bei, die kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland wiederzubegründen. Ich weiß nicht, ob sie langfristig planten oder tatsächlich nur eine vorübergehende Existenz in dem Land, von dem die Vernichtung ihrer Familien ausgegangen war, im Auge hatten. Niemand wusste das damals wohl so genau. Doch je länger sie blieben, umso mehr Hoffnung setzten sie auf einen Neuanfang in Deutschland. Sie sahen die Eröffnung jüdischer Museen und neuer Synagogen wie auch des Mahnmals für die ermordeten Juden zu Beginn der 2000er Jahre als Zeichen der Zuversicht und einer besseren Zukunft. Die Zuversicht ist heute einer Skepsis gewichen, der selbst eingefleischte Optimisten wie ich wenig entgegensetzen können. Vielleicht haben wir uns ja all diese Jahre nur etwas vorgemacht, so sagte meine 95-jährige Mutter nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle an der Saale und den Wahlerfolgen der AfD in ihrer sächsischen Heimat und in anderen Bundesländern. Sie gehörte zu den letzten Überlebenden, die unermüdlich in Schulen über ihre Erfahrungen berichteten und diese auch in Buchform einer breiten Öffentlichkeit darstellten. Es gibt nur wenige, die noch bewusst die Schreckenszeit erlebt haben und heute darüber berichten können.
Ein Blick zurück nach vorn
Man braucht nicht zu wiederholen, was in den vergangenen Jahren alles passiert ist. Beileibe nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo in Europa und den USA. Doch in Deutschland hat ein Wiederaufleben des Antisemitismus aufgrund unserer Geschichte nun einmal eine andere Qualität. Das ist gemeint, wenn man davon spricht, dass Deutsche eine besondere historische Verantwortung haben. Diese Verantwortung bedeutet eben nicht nur, das, was hier geschehen ist, in Erinnerung zu behalten, sondern auch, jegliche neue Hetze in irgendeiner Form und gegenüber irgendeiner Minderheit – Juden, Muslime, Ausländer – im Keime zu ersticken. Mittlerweile hat dieser Keim aber Knospen getrieben, hässliche Knospen, braune Knospen. Wenn 75 Jahre nach Auschwitz Juden oder diejenigen, die dafür gehalten werden, auf der Straße beschimpft, bespuckt oder geschlagen werden; wenn der Zentralratspräsident der Juden in Deutschland und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesrepublik zu dem Ergebnis kommen, man könne in bestimmten Gegenden nicht zum Tragen einer Kippa raten; wenn das Wort "Jude" in Schulklassen und Fußballstadien ein beliebtes Schimpfwort ist; wenn die AfD in manchen Bundesländern jede vierte Wählerstimme erhält; wenn nur das Standhalten einer Holztür ein Massaker gegen Betende in einer Synagoge verhindert; wenn Kritik an der israelischen Regierung in antisemitische Karikaturen umschlägt – tja, dann müssen wir uns fragen: Was haben wir eigentlich aus der Geschichte gelernt? Als Historiker ist diese Frage besonders bitter.
Etwas ist heute doch anders als damals. Wir wissen heute, nach Auschwitz, wohin Rassenhetze und Antisemitismus führen können. Die wenigen Juden, die zum Wiederaufbau Deutschlands und vor allem zu seiner moralischen Anerkennung in der Welt keinen kleinen Teil beitrugen, taten dies in der Überzeugung und unter der Bedingung, dass der Antisemitismus in diesem Land – nach den beispiellosen Verbrechen – wenn auch nicht völlig verschwinden, dann doch zumindest auf eine kleine Randgruppe beschränkt bleiben würde. Heute muss man sich fragen: Wann ist der Punkt gekommen, an dem auch die jüdische Existenz wieder infrage gestellt wird? Die Repräsentanten jüdischen Lebens haben unlängst ausgedrückt, wann für sie ein Weiterleben hierzulande nicht mehr möglich sein wird. Sowohl Michel Friedman wie auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben in Interviews den Eintritt der AfD in eine Koalitionsregierung als einen solchen Marker genannt.
Wann also erkennen wir die Gefahr, und welche Schlüsse ziehen wir daraus? Ich will an die frühen 1920er Jahre erinnern, als ein jüdischer Kommerzienrat in München blutig geschlagen wurde, als Schmierereien an Synagogen angebracht wurden, als die Anhänger der neuen Nazipartei Angst und Schrecken verbreiteten. Hätten die Münchner Juden die Schrift an der Wand nicht damals schon lesen müssen? Ich will an 1933 erinnern, als auf legale Weise ein Zerstörer der jungen deutschen Demokratie zu ihrem Hüter ernannt wurde. Hätte man damals flüchten müssen? Oder ein Jahr später? Oder fünf Jahre später? Meine Antworten lauten: Wie konnte man denn die Zukunft voraussehen? Wer konnte einen Völkermord erahnen, der in dieser Form ohne Beispiel gewesen war? Und wer weiß, ob das, was wir heute erleben, eine Episode ist, die bald vorübergehen wird, oder der Beginn einer neuen Epoche? "Entscheidet Euch, eh’ es zu spät ist!" So heißt es im fünften Flugblatt der Weißen Rose vom Januar 1943. Wann es zu spät sein wird, dies zu erkennen, übersteigt unsere Urteilskraft. Die Gefahren am Horizont mögen wir erahnen – doch richtig einschätzen können wir sie erst aus der Rückschau, erst dann, wenn es zu spät ist. Genau wie in den 1920er und 1930er Jahren, so gibt es auch heute mehrere Wege in die Zukunft. Welchen wir gehen werden, das wissen wir nicht. Und dennoch können wir in einer demokratischen Gesellschaft alle, und zwar ohne Aufopferung unseres Lebens, einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Kurs dieser Reise zu steuern. Wir können uns gegen die aufziehenden Gefahren stemmen, wir können die demokratische Grundordnung verteidigen, verfolgten Minderheiten Schutz bieten und eine Zukunft mitgestalten helfen, die unsere Gesellschaft, unsere Werte und unseren Planeten rettet. In diesem Sinne noch einmal: "Entscheidet Euch, eh’ es zu spät ist!"
Dieser Essay erschien zuerst im "Spiegel" vom 18.1.2020 und wurde für APuZ leicht überarbeitet. Er basiert auf dem Redemanuskript des Autors für die Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung 2020. Eine