Am 13. August 1962, auf den Tag genau ein Jahr nach der Abriegelung der Grenze in Berlin, meldete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die Chemiearbeiter in Leuna hätten gestreikt: "In den Leuna-Werken, Merseburg, hat ein großer Teil der Belegschaft von etwa 30.000 Arbeitern und 8.000 Arbeiterinnen am 2. und 3. August wegen einer Erhöhung des Produktionsaufgebotes bei anhaltender schlechter Lebensmittelversorgung mit mehrstündiger Arbeitsniederlegung protestiert." Die Meldung war nicht der Aufmacher – den hatten die sowjetischen Kosmonauten Andrijan Nikolajew und Pawel Popowitsch bekommen, die mit der Annäherung ihrer Raumschiffe Wostok III und Wostok IV bis auf wenige Kilometer den ersten "Gruppenflug" in der Raumfahrtgeschichte realisiert hatten. Aber immerhin platzierte die "FAZ"-Redaktion die 26-zeilige Nachricht aus der "Zone" auf der Titelseite.
Der spektakuläre Inhalt der wenigen Zeilen rechtfertigte diese Entscheidung voll und ganz, denn der Streik konnte der "FAZ" zufolge nur durch massiven Einsatz des militärischen Drohpotenzials der Diktatur beendet werden. Unter Berufung auf Reisende, die zu dieser Zeit in der "Zone" gewesen waren, hieß es in der Meldung, sowjetisches Militär sei zum Werk beordert worden: "Die motorisierten sowjetischen Einheiten hätten Bereitstellung in der unmittelbaren Umgebung bezogen. Verbände der Volksarmee der Zone seien in das Gelände des Leuna-Werkes gebracht worden. Infanteristen hätten mit aufgepflanztem Seitengewehr die einzelnen Fabrikkomplexe abgeriegelt. Unter dem Druck dieser militärischen Demonstration hätten sich die protestierenden Werktätigen gebeugt."
50 Jahre danach wird diese Zeitungsmeldung in einigen Chroniken im Internet aufgegriffen.
Spuren, Indizien, Gerüchte
Ein Vorkommnis dieser Größenordnung sollte sich auf die eine oder andere Weise in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) niedergeschlagen haben. Eine Anfrage an die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen ergab jedoch, dass die Sachakten keine Hinweise auf einen Streik in Leuna im Jahr 1962 enthielten. Nur über Namen von Streikführern oder Inoffiziellen Mitarbeitern sei dieses Thema möglicherweise erschließbar, so die Auskunft. Solche waren verständlicherweise in dem "FAZ"-Artikel nicht erwähnt.
Als ähnlich unergiebig erwiesen sich die überlieferten Akten der Volkspolizei. Abgesehen von dem "Vorkommnis", dass an zwei Kesselwagen beim Schriftzug "Walter Ulbricht" das W entfernt worden war, wurden zwei Arbeiter erwähnt, die Ende 1961 zum Streik aufgerufen hätten und gegen die das MfS ermitteln würde.
Weitere mögliche Quellen wären die Unterlagen der Parteikontrollkommissionen der SED. Auch hier wurden oft Dinge diskutiert, die offiziell nicht zur Sprache kamen. Und tatsächlich fand sich eine Auflistung der Bezirksparteikontrollkommission (BPKK) Halle über alle Streiks im zweiten Halbjahr 1962. Zu 24 Arbeitsniederlegungen soll es in diesem Zeitraum im Bezirk Halle gekommen sein. Die Gesamtzahl der Beteiligten wird mit 330 angegeben, was zu niedrig ist, weil bei einigen Streiks die Teilnehmerzahl nicht gemeldet worden war. Als Arbeitsniederlegung mit der höchsten Zahl an Beteiligten nennt die Liste einen Streik im Mansfeld-Kombinat, an dem 160 Kollegen teilnahmen – darunter auch 18 SED-Mitglieder. Leuna taucht in der Liste nicht auf.
Ein anderer Bericht der BPKK vom 1. September 1962 ließ jedoch aufhorchen. Darin heißt es, in Zeitz sei darüber diskutiert worden, auch streiken zu wollen "so wie in Leuna".
Eine weitere vage Spur: In einer Parteiversammlung im Bau 20 des Leuna-Werkes fragten SED-Mitglieder Mitte August 1962, "ob es wahr sei, dass im Werk schon Unruhen entstanden sind."
Wie sehr die SED in diesen Tagen verunsichert war, zeigte sich nicht nur darin, dass viele Genossen ihr Parteiabzeichen nicht trugen. In der Sitzung der SED-Kreisleitung Leuna vom 30. Juli 1962 äußerte ein Parteimitglied, dass "sich die Feindarbeit im Monat Juli verstärkt hat. Es nehmen wieder die Schmierereien und es n[immt] auch zu, dass die Bilderständer in der Stadt Leuna und auch innerhalb des Werkes beschädigt, beschmiert und umgeschmissen werden usw. Das müssen wir beachten und dürfen keineswegs glauben, dass der Gegner bei uns ins Mauseloch gekrochen ist, sondern, Genossen, je größer unsere Erfolge sind, desto größer wird auch der Feind seine Anstrengungen machen, um unsere Erfolge irgendwie zunichte zu machen […]. Deshalb auch solche Dinge, wie das Verteilen von Flugblättern, wie es in der vorigen Woche passiert ist in der Stadt Leuna und innerhalb des Werkes. Wir müssen aufpassen, damit also nicht eine solche Diskussion innerhalb des Werkes auftaucht, dass wir diesen feindlichen Flugblättern irgendwie Folge leisten."
Es gibt Indizien dafür, dass die SED die Kampfgruppen auf mögliche Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen vorbereitete. In der bereits erwähnten Parteiversammlung im Bau 20 des Leuna-Werkes fragten Genossen, "warum die Kampfgruppen üben, wie man Menschenansammlungen auseinander treibt; gegen wen man diese Kampfgruppen einsetzen will."
Mächtige Unruhe
Spuren, Indizien, Gerüchte – die grundsätzliche Frage bleibt jedoch: Was geschah am 2. und 3. August 1962 im Leuna-Werk?
Neben SED, MfS und Volkspolizei gab es in der DDR noch weitere Meldewege, zum Beispiel den des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Auch hier wurden Arbeitskonflikte und Arbeitsniederlegungen erfasst und statistisch ausgewertet. "Es zeigt sich, dass in der ganzen Republik die Arbeiter gegenwärtig eine mächtige Unruhe haben. Es ist eine Vertrauensfrage, die steht. Die haben kein Vertrauen", klagte ein Gewerkschaftsfunktionär aus Halle am 14. Dezember 1962 bei einer Beratung des FDGB-Bundesvorstandes in Berlin.
Die vielen Gerüchte deuten darauf hin, dass zu dieser Zeit ein Streik geradezu "in der Luft lag". Aber: Hat er stattgefunden?
Wurstrationierung und Leistungsdruck
Die Akten dokumentieren immer wieder, dass es die in dem "FAZ"-Artikel erwähnte Unzufriedenheit mit der Lebensmittelversorgung gab und dass sie im mitteldeutschen Industriegebiet um Halle (Saale) besonders stark war. Zugleich mühte sich die SED, die Arbeiter zu höheren Leistungen zu bewegen. Bauarbeiter in Leuna, die ein Bericht des FDGB-Bezirksvorstandes vom 30. August 1962 zitierte, brachten die damalige Konfliktlage auf die einfache Formel: "Erst mehr essen, dann können wir über höhere Leistungen diskutieren."
Die so zitierten Arbeiter waren auf der Großbaustelle Leuna II eingesetzt, wo seit 1959 ein zweiter Werksteil errichtet wurde, der neben dem Petrolchemischen Kombinat Schwedt zum zweiten Standort der erdölverarbeitenden Industrie in der DDR werden sollte.
Baustelle der Benzinspaltanlage im Werksabschnitt Leuna II, Dezember 1962 (© Bundesarchiv, Bild 183-A1219-0003-002; Foto: Schmidt)
Baustelle der Benzinspaltanlage im Werksabschnitt Leuna II, Dezember 1962 (© Bundesarchiv, Bild 183-A1219-0003-002; Foto: Schmidt)
Die Leuna-Werke, die seit 1951 den Namen "Walter Ulbricht" trugen, spielten eine zentrale Rolle im ehrgeizigen Chemieprogramm der DDR, das 1958 verkündet worden war. Die SED plante unter dem Motto "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" eine Verdopplung der ostdeutschen Chemieproduktion bis 1965. Mit der Propagandavokabel des "Produktionsaufgebotes" wollte die Partei erreichen, dass die Arbeitsproduktivität schneller wuchs als der Lohn. Es folgten Prozesse des Aushandelns und Taktierens, die in den Wochen nach dem Mauerbau noch zäher wurden als zuvor.
Im Frühsommer 1962 traten spürbare Versorgungsmängel bei einigen Lebensmitteln auf. Am 6. Juni 1962 telegrafierte die SED-Bezirksleitung Halle an das Zentralkomitee der Partei: "In den Kreisen Bernburg, Leuna, Wittenberg, Eisleben u.a. kommt es bei verschiedenen Konsumgütern zu Angst- und Hamstereinkäufen, zum Beispiel bei Zucker, Bohnenkaffee und zum Teil Konserven." Auswirkungen auf die Stimmung in der Bevölkerung blieben nicht aus: "Es mehren sich die Fälle, wo Angehörige der Volkspolizei, der Transportpolizei sowie Partei- und Wirtschaftsfunktionäre von betrunkenen Bürgern beschimpft und verleumdet werden."
Vielerorts litt die Verkaufskultur. Sicher nicht immer so drastisch wie bei folgendem Vorkommnis im Leuna-Werk: "Am 28. Mai 1962 kam es zu einem tumultartigen Vorfall. Ein Anstreicher der Firma Sachse, Leipzig, versuchte, die Verkäuferin der Kantine 866 über den Ladentisch zu ziehen, weil nichts zu essen da wäre. Einige von diesen Arbeitern äußerten, sie wollten die Arbeit niederlegen, wenn sie nicht sofort etwas zu essen bekämen."
Verwaltung des Mangels
Am 17. Juni 1962 – das Datum war wohl kein Zufall – gab die SED in Halle und im Kreis Merseburg sogenannte Stammkundenausweise für Fleisch und Wurst aus. Diese Ausweise ordneten jeden Haushalt einer bestimmten Verkaufsstelle zu, wo man eine festgelegte Menge Fleisch und Wurst kaufen durfte.
Dass die gerechtere Verteilung das Problem nicht grundsätzlich lösen konnte, zeigt eine am 26. Juli vom Rat des Bezirkes Halle erstellte Produktionsbilanz zur Entwicklung der Viehbestände. Danach war einfach insgesamt zu wenig Fleisch produziert worden: "Der […] Ausstoß an Schlachtschweinen liegt mit rund 30.000 Stück unter dem Jahresplan. […] Vom 1.1.1962 bis zum 30.6.1962 wurden Rückstände in Höhe von 8.669 Stück zum Volkswirtschaftsplan zugelassen."
Zudem legt eine Stellungnahme der Abteilung Landwirtschaft des Rates des Bezirkes Halle den Schluss nahe, dass die Staatsmacht im Sommer 1962 eine Politik des kalkulierten Risikos betrieb. Am 25. August hieß es: "Es ist zu prüfen, inwieweit die Möglichkeit besteht, durch eine minimale Versorgung der Bevölkerung, wie in den Monaten Juli und August, die Schweinebestände bis zum Jahresende um ca. 80.000 bis 100.000 Stück zu erhöhen, um zu einem hohen Jahresanfangsbestand zu kommen und die Voraussetzung für die Erfüllung des Volkswirtschaftsplans 1963 zu schaffen."
Die Mangelversorgung wurde also durch die Stammkundenbindung nicht beseitigt, nur besser verwaltet. Und so witzelten Leuna-Arbeiter ein Jahr nach dem Mauerbau: "Jetzt werden sie Schornsteine in die Mauer einbauen müssen, damit der Kohldampf abzieht."
Weil die Unzufriedenheit anhielt, beschloss der Rat des Bezirkes Halle am 20. August 1962 ein Maßnahmenpaket, um letzte Schlupflöcher der Fleisch- und Wurstrationierung zu schließen. Die bislang außerhalb der Stammkundenbindung mögliche Abgabe von "Frühstücksportionen (bis 125 g) für die Mundverpflegung" sollte eingestellt, an die Stammkunden sollten Kontrollnummern ausgegeben werden. Weiter hieß es: "Besonders fleischintensive Aspikwaren wie Sülzkotelett, Schinkenröllchen, Schweinebauchröllchen und Lendchen sind ab sofort mit in die Stammkundenbindung einzubeziehen."
Über die Ursache der Versorgungskrise bestand in weiten Teilen der Bevölkerung kaum ein Zweifel – schuld war vor allem die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Wie ein Informationsbericht der SED-Kreisleitung der Leuna-Werke vom 8. August einräumte, sahen das auch viele Parteimitglieder so: "In einer ganzen Reihe von SED-Grundorganisationen wird von Genossen und Kollegen darüber diskutiert, dass die schlechte Versorgungslage auf die Bildung der LPGs zurückzuführen ist, dass dieser Schritt viel zu früh getan wurde, und dass wir nicht genügend den Genossenschaftsbauern auf die Finger geschaut haben."
Sinkende Arbeitsproduktivität
Das häufige Schlangestehen – nicht selten während der Arbeitszeit – schuf ausgesprochen ungünstige Rahmenbedingungen für das Ziel des "Produktionsaufgebotes", die Arbeitsproduktivität zu steigern. So musste der FDGB-Bundesvorstand am 5. Juli 1962 konstatieren, dass insbesondere im Bezirk Halle "Kolleginnen lange Zeit benötigten, um in der Betriebsverkaufsstelle Einkäufe zu tätigen, oder 2 bzw. 3 Stunden verspätet zur Arbeit kamen. Auswirkung war Störung im Produktionsablauf und sinkende Arbeitsproduktivität."
Einen Eindruck von der Praxis der Arbeitszeitnutzung gibt ein Kontrollbericht aus dem Hydrierungsbetrieb im Bau 823 des Leuna-Werkes: "Bei durchgeführten Kontrollen sah das so aus, dass 5–10 Min[uten] später angefangen wurde früh, dass die Frühstückspause um 8–10 Min. früher begonnen und um die gleiche Zeit länger durchgeführt wurde, dass man 10–15 Min. vor Beginn der Mittagspause sich die Plätze im Speisesaal sichert, und wenn die Pause herum war, natürlich auch nicht gleich den Mut und die Lust hatte, die Arbeit wieder aufzunehmen, und 20 Min. vor Feierabend wurde natürlich Schluss gemacht. […] Wir haben uns sagen lassen, dass das nicht nur im Bau 823 so war, sondern dass es in anderen Betrieben noch heute so ist."
Angesichts solcher Verhältnisse fragte ein westdeutscher "Freund", der Anfang September 1962 das Leuna-Werk besuchte, leicht entsetzt: "Wie wollt Ihr Westdeutschland ökonomisch überholen, wenn bei Euch die tägliche Arbeitszeit nicht eingehalten wird oder in Spitzenmonaten ein Krankenstand bis zu 13 Prozent vorhanden ist?"
Falschmeldung mit Realitätsgehalt
Die umfangreichen Aktenrecherchen lassen, trotz der nicht ganz lückenlosen Überlieferung, nur eine Schlussfolgerung zu: Den vermeintlichen Streik am 2. und 3. August 1962 im Leuna-Werk hat es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Die noch vorhandenen diesbezüglichen Einträge in den Chroniken der DDR-Geschichte sollten gelöscht werden. Alle Indizien sprechen dafür, dass es sich um eine Zeitungs-"Ente" handelte. Wie diese in die seriöse "Frankfurter Allgemeine" kam, muss offen bleiben. Die "FAZ" schrieb über ihre Quelle: "Reisenden aus der Bundesrepublik, die zu dieser Zeit in der Zone waren, ist von Angehörigen des Leuna-Werkes über die Vorgänge in Merseburg zuverlässig berichtet worden. Die Informanten bürgen für die Glaubwürdigkeit ihrer Angaben." Denkbar ist, dass die Reisenden eine Kampfgruppenübung aus der Ferne beobachtet und fehlgedeutet haben.
Die ausgesprochen dick aufgetragene Geschichte von der Niederschlagung des Streiks durch sowjetisches Militär und bewaffnete Volksarmisten macht es jedoch wahrscheinlicher, dass die Meldung bewusst produziert wurde. Hat man die Meldung in der Hoffnung lanciert, Streiks in der DDR auszulösen? Handelte es sich um die Fata Morgana eines zweiten 17. Juni, der Phantasie "kalter Krieger" in der Bundesrepublik entsprungen? Hat die "FAZ"-Redaktion den Bericht bereitwillig aufgegriffen, um dem sowjetischen Prestigeobjekt, dem Weltraumflug von Wostok II und IV, mit dem die Sowjets ihren technischen Vorsprung gegenüber den USA demonstrieren wollten, etwas entgegenzusetzen an jenem ersten Jahrestag des Mauerbaus?
Wie dem auch sei, die Meldung war Propaganda, aber – wie jede gute Propaganda – voller realistischer Komponenten: Im Sommer 1962 fehlte im Leuna-Werk nicht viel und es wäre tatsächlich zu Streiks oder größeren Protesten gekommen. Die Auseinandersetzungen um die Arbeitsproduktivität, die im Rahmen des "Produktionsaufgebotes" schneller steigen sollte als der Lohn, fanden tatsächlich statt. Auch die im Artikel der "FAZ" angedeuteten massiven Versorgungsengpässe hat es wirklich gegeben. Dementsprechend groß war, insbesondere im mitteldeutschen Industriegebiet, die Unzufriedenheit, bis in die SED hinein. Der Staatsmacht gelang es nur mit Müh' und Not, die Mangelversorgung mit Fleisch und Wurst zu mildern und damit die wichtigste Ursache des Unmuts in der Bevölkerung zu beseitigen.
Und in gewisser Weise hat es sogar den "Streik" gegeben, nur eben nicht als einmalige und kämpferische Aktion, sondern als partielle Leistungsverweigerung.