Knapp hundert Teilnehmende aus Wissenschaft, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern der politischen Bildung kamen vom 4. bis 6. September 2023 in Leipzig zusammen, um gemeinsam innezuhalten, zu reflektieren und aufzutanken. Dass bei dieser Tagung, dem „BarCamp Islamismusprävention“, vieles anders sein werde als bei klassischen Tagungsformaten, wurde den Teilnehmenden schon beim Betreten des Tagungssaals bewusst. Bestuhlt war der Saal in einem großen, zweireihigen Stuhlkreis in dessen Mitte vier Kissen und ein Stapel gelber Karten lagen. Während die Teilnehmenden beim Betreten des Saals die erste Stuhlreihe noch skeptisch beäugten, löste sich diese Zurückhaltung im Laufe der nächsten Stunde jedoch schnell auf.
Das BarCamp wurde mit einer Begrüßung durch Thomas Krüger, Präsident der bpb, eröffnet. In diesem besonderen Format des BarCamps ginge es darum, sich auszutauschen und dabei die Expertise im Raum zu nutzen. Die islamistische Szene entwickle sich dynamisch weiter, „deswegen müssen auch wir uns immer wieder reflektieren, um zu schauen, ob wir Sachen richtig machen“, so Thomas Krüger. „Auch wir in der bpb haben sicherlich blinde Flecken. Deshalb: Leihen Sie uns Ihre Brillen, um diese blinden Flecken zu entdecken.“
Nach Thomas Krüger übernahmen Lisa Kiefer, Referentin der bpb, und Rolf Schneidereit, Moderator und Teamcoach, das Mikrofon, um gemeinsam die Idee des BarCamps zu erläutern. Das Format sei „daraus entstanden, dass das Spannendste auf den Konferenzen in den Pausen passiert. Das BarCamp dreht das Typische um – und lässt die Teilnehmenden selbst das Programm bestimmen.“ Lisa Kiefer ergänzte zur Idee: „Mir war es ein Anliegen einen Raum zu schaffen, wo wir alle zusammenkommen und uns austauschen können – ganz besonders in dieser Zeit der multiplen Krisen.“
Und so folgte gleich zu Beginn eine weitere Methode – ein „Speeddating“ – um die Teilnehmenden in Kontakt zu bringen. Die Teilnehmenden hatten dabei jeweils zwei Minuten Zeit sich über Fragen wie „Was lief für dich in deinem Arbeitsfeld/in deiner Organisation gut?“, „Was war in den vergangenen Monaten für dich/in deinem Arbeitsfeld richtig herausfordernd?“ oder „Was denkst du ist dein nächster Schritt/der nächste Schritt deiner Organisation im Themenfeld?“ auszutauschen.
Auch weitere Themen zum Austausch hatten die Teilnehmenden zu Genüge mitgebracht, wie spätestens in der „Anliegenrunde“ deutlich wurde. Die „Anliegenrunde“ zielte darauf ab, das Programm der Tagung zu gestalten. Dafür wurden alle Teilnehmenden eingeladen, ihre Anliegen auf die gelben Karten in der Mitte des Stuhlkreises zu schreiben. Die anfängliche, vorsichtige Zurückhaltung gehörte schnell der Vergangenheit an. Es dauerte nicht lange, da füllte sich die Schlange vor den noch leeren Programmwänden und in den vorgeschlagenen Themen zeigte sich eine breite und vielschichtige Auswahl. Sie reichten von grundlegenden Inhalten zu Präventionsgegenstand und -zielgruppen über Fragen zu Zusammenarbeit und Fördermöglichkeiten bis hin zu Selbstreflexion.
Themen des BarCamp Islamismusprävention 2023
Präventionsgegenstand und -zielgruppe
Einige Teilnehmende schlugen Austauschrunden zu sehr grundlegenden, aber zentralen Fragen wie „Was sind die Kennzeichen von Islamismus?“, „Unterschiedliche Blicke auf Islamismus“, „Was fehlt in der Präventionsarbeit?“ oder „Islamismus und antimuslimischer Rassismus“ und „Antimuslimischer Rassismus“ vor. In einer Runde zu „Uns von Demagogen Inhalte diktieren lassen?“ wurde sich damit auseinandergesetzt, wie die Präventionslandschaft Themen, die durch Demagogen gesetzt würden, trotz Polarisierung aufgreifen könnte. Auch in Bezug auf Zielgruppen gab es unterschiedliche Anliegen und Diskussionsbedarf, darunter „Fokus auf die Radikalisierung von Frauen“, „Armut und Extremismus“ oder „Identität & Radikalisierung“.
Online-Offline-Prävention
Viel diskutiert wurde in verschiedenen Sessions über die Verbindung von Online- und Offlineprävention. So gab es verschiedene Anliegen zu „Was macht gelungene Onlineprojekte aus?“, „Online - Offline – Synergien“ und „Frauen online“. Besonders mit der wachsenden Relevanz von TikTok-Predigern und Influencer:innen, die ihre Aktivitäten auch in die „Offline-Welt“ tragen, wurde sich wiederholt auseinandergesetzt. Um diesen Angeboten etwas entgegenzusetzen, sei es wichtig, authentische und aktuelle Online-Projekte zu gestalten, die sich an den Interessen der Jugendlichen statt an Online-Trends orientierten.
Selbstreflexion
In Gesprächsrunden zu „Machtverhältnisse in der Islamismusprävention“, „Stigmatisierung“ oder „Wie gehen wir mit Zuschreibungen um?“ wurde ein Augenmerk auf die (Selbst-)Reflexion als Akteur:innen im Feld der Islamismusprävention gelegt. Es sei wichtig, Erfahrungen von Jugendlichen mit Stigmatisierung und antimuslimischem Rassismus ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben. Salafistische Akteur:innen seien erfolgreich darin, diese Erfahrungen aufzugreifen und für ihre Ziele zu nutzen. Im Anliegen zu „Betroffenheit im Raum“ ging es um Praxen, die in der Lage seien, sensibel auf Betroffenheit durch islamistische Gewalt unter Teilnehmenden zu reagieren. Im Austausch zu „Sinnhaftigkeit der Arbeit“ wurde sich damit auseinandergesetzt, wie man die eigene mentale Gesundheit in der Arbeit wahren könne.
Phänomenübergreifend und Brückennarrative
Für viel Beteiligung sorgte der Austausch zu „Allianzen von Islamismus und extremer Rechte“. Gemeinsame Feindbilder, die potenzielle Anknüpfungspunkte für punktuelle Zusammenarbeit und Bezugnahme zwischen Islamismus und extremer Rechte sein könnten, seien vor allem Jüd:innen und Israel, Feminismus, LGBTIQ+ und die sogenannte „westliche Dekadenz“. Im Austausch zu den Anliegen „Antifeminismus/Queerfeindlichkeit zur Mobilisierung?“ und „Komplex Antisemitismus“ wurde zum Teil daran anknüpfend weiterdiskutiert.
Präventionslandschaft
Die aktuell befürchteten Kürzungen im Bereich der politischen Bildung generell, aber auch im Bereich der Islamismusprävention waren ein Thema, das ebenfalls immer wieder im Zentrum stand. Im Austausch zu „Wie mit finanziellen Kürzungen umgehen?“ oder „Sichtbarkeit & Zusammenarbeit in der Prävention“ wurden gemeinsame Probleme der aktuellen Präventionslandschaft analysiert. Es fehle an Konstanz und langfristigen Verträgen. Daher wäre es wichtig, das zu stärken was da ist, anstatt Neues aufzubauen. Zeitgleich stünden neue Projekte oft auch vor Hürden, die ihre Arbeit erschwerten. In den Anliegen zu „Internationale Vernetzung und voneinander lernen“, „Kommunen als Türöffner in die Regelstrukturen“ und „Problemort Schule“ besprachen die Teilnehmenden weitere strukturelle Herausforderungen aber auch Möglichkeiten. Ähnliches wurde im Anliegen zu „Wie motiviert man muslimische Communitys?“ diskutiert. Dabei wurde betont, dass es in der Zusammenarbeit mit muslimischen Communitys immer eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe geben müsse und die Ausbildung entsprechender Kompetenzen die Grundlage sei.
Krisen
Der Zusammenhang zwischen den aktuellen weltpolitischen Entwicklungen und ihren Einflüssen auf die Radikalisierung von Jugendlichen wurde beim BarCamp ebenfalls eingebracht. In den Anliegen zu „Welche Rolle spielt der Westen im Islam?“, „Verschwörungsideologien“ und „Spiegeln sich aktuelle Krisen in der Arbeit?“ wurde deutlich, dass Krisen immer Momente der Verunsicherung und Angst seien, die ausgenutzt werden könnten. Es sei daher von Bedeutung, den Einfluss politischer Entwicklungen miteinzubeziehen.
In fünf Runden von je 75 Minuten hatten die Teilnehmenden Zeit, sich einzelnen Themen zuzuordnen und mitzudiskutieren. Dabei galt stets das sogenannte „Gesetz der zwei Füße“, das Rolf Schneidereit wie folgt erklärte: „Wenn ich merke, ich kann nichts mehr lernen, ich kann nichts mehr beitragen, dann gehe ich.“ Daraus folgte, dass die jeweiligen Runden zu den unterschiedlichen Anliegen durch viel Dynamik geprägt waren. Manche Teilnehmende kamen später oder gingen früher, andere wiederum waren von Anfang bis Ende in Diskussionen vertieft – auch über die geplanten 75 Minuten hinaus. Einige wenige Anliegen fielen auch ganz aus, weil niemand dazu kam. Es war genau dieser lockere, wenn auch ungewöhnliche Tagungscharakter, der das BarCamp ausmachte.
Während die ersten beiden Tage durch die Themen der Teilnehmenden gefüllt waren, sollte am Mittwoch, dem letzten Tag, daran anknüpfend in die Zukunft geschaut werden. Welche konkreten Schritte sollten aus dem BarCamp Islamismusprävention 2023 folgen? Als Methode stellte Rolf Schneidereit dafür die „Vorhabenrunde“ vor. Ein Vorhaben könne alles sein, von einer Vernetzungsplattform bis hin zu einem ersten Schritt zur Planung eines gemeinsamen Projekts. Um ihre Vorhaben zu formulieren, wurden erneut alle Teilnehmenden eingeladen nach vorne zu kommen, sich eine Karte zu nehmen und ihr Vorhaben aufzuschreiben.
In zwei Runden gab es anschließend jeweils 45 Minuten Zeit zusammenzukommen und die Vorhaben weiterzuentwickeln. Es entstanden Gespräche zu den Vorhaben „Forschungspraxis und Praxisforschung, die sich von best-practice-Beispielen befreit“, „Konzeptentwicklung: Prävention im ländlichen Raum“ „Thinktank: Was bedeutet Artifical Intelligence (AI) für Radikalisierung und Online-Content“ sowie „Druck auf Regierung in Bezug Fördermittelstreichung erhöhen“. Dabei ergaben sich Vernetzungen, E-Mail-Listen, Abmachungen zum weiteren Brainstormen sowie die Verabredung, all das mit in die bestehende Praxis zu nehmen. Vor allem das Vorhaben zu einer „trägerübergreifenden Monitoring-Plattform und regelmäßigem Austausch dazu“ sorgte für viel Interesse und bezog kurzerhand auch die Vorhaben zu einem „TikTok-Treff“ und einem „regelmäßigen Austausch zu Online-Formaten“ mit ein. Die Initiative fruchtete und führte zu konkreten ersten Verabredungen.
Im Fokus der drei Tage stand neben den inhaltlichen Diskussionen vor allem der Austausch verschiedener Praktikerinnen und Praktiker aus dem Feld der Islamismusprävention. Hier wurden verschiedene Methoden ausprobiert, um die Teilnehmenden auf kreative Art und Weise in Kontakt und Diskussion zu bringen. Eine dieser Methoden war der „Lego-Tisch“ im Foyer. In Form von kleinen, mit Lego-Steinen gefüllten Säckchen bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, gemeinsam Modelle zu bauen. Als Impuls diente dabei die Frage „Über Nacht haben sich alle Herausforderungen im Kontext der Islamismusprävention in Luft aufgelöst. Woran merkt ihr das am nächsten Morgen?“
Zum Abschluss wurde das erste BarCamp Islamismusprävention – oder in Thomas Krügers Worten: der „Pilot im Feld der Islamismusprävention innerhalb der bpb“ – von den Teilnehmenden positiv bewertet. Es sei ein „super Format“, um herauszufinden, ob „wir dastehen, wo die anderen auch stehen“, so ein Teilnehmer. Der Austausch der unterschiedlichen Akteur:innen von Wissenschaft über Sicherheitsbehörden bis hin zu zivilgesellschaftlichen Trägern und die damit einhergehenden vielfältigen Perspektiven seien sehr wertvoll gewesen. Besonders hervorgehoben wurden das kollegiale Miteinander, die Offenheit und die Begegnungen auf Augenhöhe, wie man sie sonst selten erlebe.
Und der Lego-Tisch? Der war nach drei Tagen vollgestellt mit bunten Legohäusern, -türmen und -fahrzeugen. In vielen davon waren die Legotüren und Fenster offen. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir, um die Herausforderungen in der Präventionsarbeit zu meistern, offen bleiben müssen für neue Perspektiven und Kontroversen, die auch nicht immer einfach auszuhalten sind. Dafür braucht es Räume für Austausch, zum Innehalten, Reflektieren und Auftanken.