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Abschlussprojekt MasterClass: Deradikalisierung im Strafvollzug | bpb.de

Abschlussprojekt MasterClass: Deradikalisierung im Strafvollzug

Jennifer Schweer Lara Kremin

/ 15 Minuten zu lesen

Für ihr Abschlussprojekt haben die Autorinnen an mehreren Antigewalt- und Kompetenztrainings (AKT) in verschiedenen Justizvollzugsanstalten teilgenommen und berichten von ihren Erfahrungen.

Erika Wittlieb | Pixabay

Wie ist das denn so im Knast? Wie arbeitet man mit Straffälligen und kann man bei den Tätern wirklich etwas bewirken? Diese und viele weitere Fragen stellten wir uns, bevor wir heute das erste Mal die Möglichkeit bekommen, in einer Justizvollzugsanstalt zu hospitieren. Als wir ankommen, werden wir freundlich und interessiert empfangen. Wir laufen nicht zwischen Zellen und pöbelnden Rufen den Gang entlang, sondern über einen kleinen Hof mit Blumenbeeten. Wir steigen eine Treppe hinauf, vorbei an den acht Gefangenen, die ohne Handschellen oder Beamte bereits auf uns warten. Wir betreten einen hellen Raum unter dem Dach des Gefängnisses. Kurz darauf sitzen wir im Kreis. Unsere Vorurteile vom „Leben hinter Gittern“ werden wir schnell ablegen. Schulbänke, die an Grundschulzeiten erinnern, stehen am Rand des Zimmers. Darauf finden wir gepresste Blüten. Kurz zuvor fand hier eine Art Biologieunterricht statt. An der Tafel steht noch der lateinische Fachbegriff der getrockneten Blüte. Ein Symbol der Verbindung zum Leben da draußen oder auch zum Leben von früher, in der man in der Blüte des Lebens stand? Es dauert nicht lang und wir bemerken das vertrauensbasierte und ehrliche Verhältnis zwischen den Coaches und Teilnehmenden. Wir ertappen und dabei, wie sich ein Gefühl der Geborgenheit in uns breit macht, bevor der erste Teilnehmer beginnt, seine Tat zu rekonstruieren …

Antigewalt- und Kompetenztrainings (AKT)

Zu Beginn jedes AKT müssen die Teilnehmer ausgewählt werden. In der Regel übersteigt die Zahl der Bewerber die Zahl der Plätze um das Doppelte. Die Inhaftierten werden durch einen Aushang oder durch Hinweise der Bediensteten auf das Angebot von Violence Prevention Network (VPN) aufmerksam. Die Bewerbung erfolgt zunächst bei den zuständigen Sozialarbeiter*innen in den Anstalten selbst. Die Motivation der Häftlinge, an dem Programm teilzunehmen, ist zu Anfang häufig die Aussicht, mit der Teilnahme ein Zertifikat zu erhalten, welches sich positiv auf die Bewertung der Sozialprognose auswirken kann und damit förderlich für eine vorzeitige Entlassung oder Lockerungen sein kann. Die Bewerbungen werden dann an VPN weitergegeben. Um eine intensive Arbeit mit den Gefangenen zu gewährleisten, wird eine Gruppe von ca. acht Teilnehmern gebildet. Um eine harmonische Atmosphäre sicherzustellen, werden mit den Bewerbern Auswahlgespräche von 30 Minuten pro Häftling geführt. Hierbei ist es besonders wichtig zu klären, ob der Inhaftierte bereit ist, die „Kontrolle“ in den Einheiten an die Trainer*innen abzugeben. Damit ist gemeint, dass die Täter Ihre Version der Tat, die vor den AKTs meistens als richtige Handlung oder zumindest einzige Option verklärt wird, bereit sind zu hinterfragen. Auch müssen die Inhaftierten bereit sein, eine eigene Tat in der Gruppe aufzuarbeiten. Hierbei wird besonders auf die Mikrokommunikation der Bewerber geachtet. Fällt dabei beispielsweise eine abwehrende Körperhaltung auf, wird diese von den Trainer*innen direkt thematisiert, um keine Schein-Kooperation aufkommen zu lassen. Hier bauen die Trainer*innen durch die methodische Herangehensweise bereits die erste vertrauensstiftende Brücke zu den Inhaftierten. Sie stellen es den Bewerbern zum Beispiel frei, ob sie lieber mit Du oder Sie angesprochen werden wollen. Die meisten entscheiden sich für das Du. Durch die freie Wahl wird den Inhaftierten Respekt entgegengebracht, damit unterscheiden sich die Trainer*innen auch von den Justizvollzugsbeamten, die in der Regel siezen. Bei besonders radikalisierten oder ideologischen Tätern, kann statt einem Gruppen-AKT auch eine Einzelmaßnahme sinnvoll sein. Dies gilt ebenso für Bewerber, die kein Deutsch sprechen.

Bei den Auswahlgesprächen fiel den Trainer*innen der 23-jährige Mark auf. Der gebürtige Deutsche wurde wegen einer gefährlichen Körperverletzung verurteilt, welche er im alkoholisierten Zustand begangen hat. Im Auswahlverfahren fielen bei ihm islamistische Bezüge in verschiedenen Aussagen auf. Abgesehen von diesen Tendenzen unterscheidet sich seine Biografie nicht von denen der anderen Straftäter. Zum ersten Gespräch wird Mark von zwei Beamten separat gebracht, während die anderen Bewerber in einer Gruppe kommen dürfen. Mark wird von den Trainer*innen als Teilnehmer ausgewählt und wird an allen kommenden Gruppensitzungen teilnehmen.

In der ersten Gruppensitzung steht der Vertrauensaufbau im Vordergrund. Es wird mit einer Vorstellungsrunde begonnen. Zunächst erzählt eine*r der zwei Trainer*innen vom persönlichen Background. Es werden einzelne Aspekte aus der Kindheit erzählt, etwa über Schlägereien auf dem Schulhof und darüber, wie der Leistungssport schließlich zu einem Ventil wurde. Die Offenheit soll die Teilnehmer motivieren, sich ebenfalls zu öffnen und so einen vertrauensvollen und positiven Umgang miteinander fördern. Ausschlaggebend sind hier die Authentizität und auch die Ehrlichkeit der Trainer*innen. Für die Sitzungen stellen die Trainer*innen bewusst keine Regeln bezüglich der Umgangsformen auf. Es wird den Teilnehmern positiv unterstellt, dass sie die allgemeinen Verhaltensregeln (Ausreden lassen, nicht über die Beiträge der anderen Teilnehmer lachen etc.) kennen und diese aus Höflichkeit befolgen. Dies führt zu einem Umgang auf Augenhöhe. Bei störendem Verhalten sprechen die Trainer*innen die Teilnehmer direkt an und erklären, wie das Verhalten bei der anderen Person ankommen könnte. Auch hier wird dem Teilnehmer wieder positiv unterstellt, dass dies nicht seine Handlungsmotivation gewesen ist.

Vor der ersten Sitzung weist ein Justizvollzugsbeamter die Trainer*innen darauf hin, Mark besonders im Auge zu behalten, wenn dieser mit anderen Teilnehmern spricht. Sie befürchten, dass er versuchen könnte, andere Inhaftierte zu missionieren. In den ersten Gruppensitzungen fällt den Trainer*innen allerdings kein auffälliges Verhalten von Mark auf.

Jede der nun folgenden wöchentlichen Gruppensitzungen beginnt mit einer Befindlichkeitsrunde. So kann die Arbeitsfähigkeit der Gruppe festgestellt werden und die Trainer*innen können gegebenenfalls auf besondere Umstände oder aktuelle Situationen eingehen, die die Häftlinge bewegen. Denn ihre aktive Teilnahme an einem standardisierten Prozess zu erwarten, ist vor dem Hintergrund der methodischen Arbeit nicht authentisch und wenig zielführend, wenn sie in Gedanken woanders sind. Auf diese Gefühlslage ist Rücksicht zu nehmen und einzugehen.

In den kommenden Gruppensitzungen werden den Teilnehmern verschiedene Modelle und Methoden vorgestellt, die im weiteren Verlauf auf das Leben der Inhaftierten angewandt werden und es ihnen erleichtern sollen, die eigene Tat besser einzuordnen. Eines dieser Modelle ist der Gewaltkreislauf nach Sutterlüty.

In diesem können die Teilnehmer das eigene Verhalten einsortieren und es kann ihnen helfen, ihre eigene Biografie besser zu verstehen. Ziel ist es, dass die Teilnehmer ihr eigenes Verhalten verstehen, es reflektieren und dann auch lernen, es zu verbalisieren. Der Gewaltkreislauf beginnt mit der ersten prägenden Opfererfahrungen der Täter. Gesucht wird der Moment, wo sie das erste Mal das Gefühl von Ohnmacht und Demütigung erfahren haben.

Bei Mark beginnt es mit Mobbing in der Schule. Ein Mitschüler hat sich damals über ihn lustig gemacht und die anderen Schüler in der Klasse haben gelacht. In diesen sich wiederholenden Situationen fühlte er sich hilflos und von den anderen Mitschülern allein gelassen, die dadurch in seiner Vorstellung alle zu Tätern wurden.

Nach der traumatisierenden Opfererfahrung folgt ein positives Erlebnis durch Gewalt. Diese hilft den Tätern, sich aus der Opferrolle zu befreien und führt zu einer Rückerlangung von Macht. Demnach war jeder Täter einmal selbst Opfer von Gewalt, was aber nicht den Rückschluss zulässt, dass jedes Opfer einmal zum Täter wird.

Mark befreite sich durch die Identifizierung mit einer neuen In-group, dem Islamismus, aus seiner Opferrolle. Dabei war entscheidend, dass die Gruppe nicht von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert wird, die ihn gedemütigt hat.

Durch die Wiederholung der positiven Gewalterfahrungen ordnen die Täter Gewalt als eine Lösung ein, um sich aus der Opferrolle zu befreien. Dadurch können sie die Gewalt vor sich rechtfertigen.

Für Mark spielt das Mobbing durch die positive Bestätigung in seiner neuen In-group keine Rolle mehr. Gerade die Abgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft ist jetzt Teil seiner Identität.

In der Wahrnehmung der Täter verschiebt sich der Fokus immer stärker auf die Gewalt.

Mark geht davon aus, dass er jetzt nur von der Gesellschaft gemieden wird, weil er Muslim ist. Diese Wahrnehmung wird durch die In-group verstärkt. Rassistische Erfahrungen, die andere Gruppenmitglieder machen, werden durch Mark übernommen und als eigene Erfahrungen wahrgenommen.

Auf der letzten Stufe folgt eine Stigmatisierung durch das soziale Umfeld, welche wieder in einer Opfererfahrung münden kann. An dieser bietet sich die Chance für den Täter zu reflektieren, wer er ist, wenn er eine neue Rolle in der In-group aufgeben würde.

Mark hat die Chance, sich nicht nur als Muslim zu sehen, sondern sich auf seine individuellen Fähigkeiten zu besinnen. In der Vergangenheit hat er gerne und erfolgreich Gitarre gespielt. Dieses Talent pflegt er aktuell nicht.

Ein andere wichtige Methode mit der die Trainer*innen arbeiten ist die Kosten-Nutzen-Analyse. Hierbei sollen sich die Täter bewusst machen, warum die Anwendung von Gewalt für sie persönlich eine attraktive Option zu sein scheint und welche Ziele durch die Anwendung vermeintlich erreicht werden. Es werden die Vor- und Nachteile von Gewalt tabellarisch gegenübergestellt. Dadurch sollen die Wirkungseffekte von Gewalt für die Täter nachvollziehbar werden.

Die Gruppe rund um Mark findet einige Vorteile. Genannt werden unter anderem Anerkennung, Spaß, Ansehen und Respekt. Der Begriff Respekt fällt den Trainer*innen auf. Bei einer genaueren Auseinandersetzung mit diesem fällt auf, dass die Teilnehmer Respekt mit Angst gleichsetzen. Zurück bei der Auflistung werden als negative Folgen Freiheitsentziehung, Trennung von Freunden und Familie und fehlende Sexualität aufgelistet. In einem letzten Schritt werden die genannten Folgen noch hinsichtlich der Dauer ausgewertet. Auffällig ist, dass die Begriffe auf der negativen Kostenseite sich insgesamt deutlich länger auf das Leben der Täter auswirken.

Die Kosten-Nutzen-Analyse soll den Inhaftierten rational die Folgen von gewalttätigem Handeln aufzeigen und damit verdeutlichen, dass sich die ganzen Nachteile für das kurze Glücksgefühl, welches Gewalt beschert, nicht lohnen.

Zwischen den thematischen Schwerpunkten lassen die Trainer*innen Abschweifungen in den Diskussionen zwischen den Tätern zu. Die Sitzungen lassen sich vorher nicht bis ins Detail planen. Die Trainer*innen begleiten Diskussionen dabei immer durch Fragen. Entscheidend ist hierbei die Formulierung der Fragen. So können Nachfragen mit der Formulierung eingeleitet werden: „Habe ich richtig verstanden …“. Dies gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, die Ausführungen zu spezifizieren oder zu ergänzen. Auch Sondierungen sind möglich, etwa: „Worüber hast du nachgedacht, als Du gerade so still warst?“ Essentiell dabei ist, dass die Fragen immer als Erzählanregung verstanden werden und das Gegenüber nicht das Gefühl hat, von den Trainer*innen ausgefragt zu werden.

Ein wichtiges Thema für Mark ist der Umgang mit Geschlechterrollen. In der Gruppe fällt er mit Äußerungen auf, wie „Männer müssen stark sein und die Familie verteidigen“ oder „es ist schon richtig, dass Frauen das Haus nur mit Zustimmung ihres Mannes verlassen dürfen“. Das Thema wird daraufhin in der Gruppe behandelt. Die Trainer*innen lassen die Täter ein Idealbild eines Mannes und einer Frau aufmalen. Die Frau wird hierbei als attraktive großbusige Frau dargestellt. Die Teilnehmer werden dann gefragt, ob dieses Bild auch die Mutter oder die eigene Tochter beschreibt. Dies wird einstimmig vehement verneint.

Durch diese Übung soll den Teilnehmern verdeutlicht werden, dass jeder Mensch gleichzeitig verschiedene Rollen einnimmt. So ist etwa die Partnerin des einen die Schwester eines anderen und die Tochter ihres Vaters und eventuell gleichzeitig auch eine Mutter. Ebenso ist ein Opfer gleichzeitig vielleicht Vater und Ehemann.

Ein ständiger Prozess innerhalb der Sitzungen ist die gewaltfreie Kommunikation in der Gruppe. Die Abwertung von Teilnehmern untereinander führt sonst zu neuen Opfererfahrungen, die den Gewaltkreislauf von neuem beginnen lassen. Den Teilnehmern soll nähergebracht werden, dass Aggression in Ordnung ist, solange man in der Lage ist, diese zu steuern. Das Gegenteil von Aggression ist die Lethargie, ein nicht erstrebenswerter Zustand. Fundamental ist es, die Aggression zu kanalisieren, damit aus dieser keine Gewalt entsteht. Eine Methode, um die Steuerung zurückzugewinnen, kann die Stopp-Karte sein. Hierbei geht es darum, eine persönliche Stopp-Karte zu entwickeln, die eingesetzt werden kann, sobald der Kontrollverlust droht. Maßgebend dabei ist, dass es sich um eine emotionale Stopp-Karte handelt. Gesucht wird ein Bild, welches die schlimmste emotionale Auswirkung der eigenen Tat verkörpert. Ganz egoistisch ist das der persönlich größte Nachteil, der aus dem Gewaltausbruch resultiert. In der Regel ist das nicht die Empathie gegenüber dem Opfer, sondern vielleicht eher die weinende Mutter bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Dieses Bild soll mit dem Gefühl kurz vor dem Ausbruch der Gewalt verknüpft werden und so den Täter im Idealfall daran hindern, wieder Gewalt auszuüben.

Für Mark ist dieses Bild seine Mutter, die bittere Tränen im Gerichtssaal weint, als er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird. Dieses Bild und die damit verbundenen Emotionen muss Mark mit seinen schwitzigen Händen verknüpfen, die er kurz vor dem Kontrollverlust, der in Gewalt mündet, bekommt. Wenn er in Zukunft bei den schwitzigen Händen auch immer seine persönliche Stopp-Karte im Kopf hat, kann dies Mark helfen, sich bewusst aus solchen Situationen zu entfernen.

Teil der Gruppensitzungen sind auch die Tataufarbeitungen der einzelnen Teilnehmer. Jeder sucht sich eine Tat aus, die im Zusammenhang mit Gewalt steht und erzählt davon. Angefangen wird dabei mit einer allgemeinen Schilderung des Tattages. Der Teilnehmer soll dabei auch auf den eigenen allgemeinen Zustand eingehen. Dazu gehören die Partnerschaft, die finanzielle und die berufliche Situation. In der Gruppe werden dann mögliche Exit Points erarbeitet. Es wird sachlich darüber diskutiert, an welchen Stellen ein Ausstieg gut möglich gewesen wäre.

Parallel findet in Einzelsitzungen die biografische Aufarbeitung statt. Das biografische Verstehen kann in drei Phasen unterteilt werden: Biografisches Intensivinterview, Erstellung eines Genogramms und die Erstellung der eigenen Lebenslinie und von Demütigungserfahrungen. Bei dem biografischen Intensivinterview geht es darum, den Teilnehmer zum Erzählen zu animieren. Begonnen wird mit den persönlichen Daten, es folgen die Bedingungen des Aufwachsens, die Bedeutung der Familie und von Gleichaltrigengruppen sowie die religiöse und politische Orientierung. Zeitgleich kann schon ein Genogramm des Täters erstellt werden. Dieses soll dem Teilnehmer grafisch die Beziehungen und Strukturen innerhalb der Familie verdeutlichen.

Bei Mark wird deutlich, wie sehr ihm der Vater als männliche Bezugsperson gefehlt hat. Er hatte die Familie nach mehreren Gewaltausbrüchen gegen die Mutter verlassen und auch der Kontakt zwischen Mark und seinem Vater ist daraufhin abgebrochen.

Die Arbeit kann Zusammenhänge zwischen der erlebten Gewalt in der eigenen Vergangenheit und dem aktuellen gewaltbereiten Verhalten verdeutlichen und Ausstiegsmöglichkeiten in der Zukunft aufzeigen. Wichtig ist auch hier, dass der Teilnehmer selbst die Verbindungen erkennt und ihm diese nicht durch die Trainer*innen aufgezeigt werden. So wird der Lerneffekt verstärkt.

Dann folgt die Erstellung einer Lebenslinie. Dies soll dem Täter helfen, sich selbst zu verstehen. Unentbehrlich ist, dass der Teilnehmer in dieser persönlichen Situation auch Emotionen zulässt. Emotionen spielen insgesamt in den AKTs eine entscheidende Rolle, da diese das theoretische Wissen verankern. In der Lebenslinie sollen Highlights und Downlights im Leben aufgezeigt werden, um so herauszufinden, was dem Täter in seinem bisherigen Leben gefehlt hat und was er sich für die Zukunft wünscht.

Für Mark ist seine erste Erfahrung mit Gewalt ein prägendes Downlight. Als er noch ein kleiner Junge war, wurde seine Mutter heftig von seinem Vater geschlagen. Ein Highlight in seinem Leben war dagegen die Geburt der eigenen Tochter.

Ziel ist es, dass der Täter seine eigene Gewaltkarriere versteht, um in Zukunft in heiklen Situationen einen anderen Weg als den der Gewalt einzuschlagen. Ein roter Faden, der sich durch viele der Biografien zieht, sind Demütigungen, Vernachlässigungen und Gewalt (vgl. die erste Stufe des Gewaltkreislaufes). Gleich ist vielen die fehlende Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft. Trotz der wiederauftretenden Muster innerhalb der Biografien müssen die Täter hinterfragen, warum sie gewalttätig geworden sind, und dürfen in den Lebensgeschichten keine Entschuldigungen für die Taten suchen.

Durch das Training sollen den Teilnehmern unterbewusste Prozesse bewusst werden, um sie so in die Lage zu versetzen, sich bewusst und in Kenntnis der Konsequenzen gegen oder für Gewalt zu entscheiden. Die Verantwortung und Entscheidung liegt immer in der Hand der handelnden Täter.

Ausblick

Auch nach der Haft können die ehemaligen Täter weiter auf die Unterstützung durch VPN zurückgreifen. Da VPN sowohl in der Gewaltprävention als auch in der Islamismusberatung tätig ist, wird bei der begleitenden Entlassungsarbeit neben dem Gewaltaspekt fallweise auch der Islamismus berücksichtigt. Beides birgt eine hohe Gefahr der Rückfälligkeit. Gerade die Zeit der Entlassung ist eine ungewisse und herausfordernde Phase für ehemals Straffällige. Oft haben sie die private Anbindung zu Familie und Freunden verloren. Diese Bindungslosigkeit führt zu Unsicherheit, weshalb beispielsweise Entlassene aus der islamistischen Szene besonders empfänglich für Anwerbungsversuche sind. Bei islamistischen Straftätern stellen dann unter anderem salafistische Streetworker eine große Gefahr dar. Dem Ausnutzen der Bindungslosigkeit für eigene Zwecke versucht VPN entgegenzuwirken. Unerlässlich ist es, den Entlassenen ein Angebot für einen Bindungsaufbau zu machen. Bei (ehemals) radikalisierten Entlassenen kann beispielsweise die Vermittlung eines Ansprechpartners in einer muslimischen Gemeinde hilfreich sein. Diese Bindungs- und Stabilisierungsarbeit kann bei Entlassenen mit und ohne ideologische Bezüge präventiv wirken. Das Bedürfnis des Entlassenen nach Bindung kann so befriedigt werden. In diesem Umfeld können weitere Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Darüber hinaus ist auch eine Orientierungshilfe im Alltag notwendig. Für die Entlassenen brechen die gewohnten Strukturen und Angebote der Justizvollzugsanstalten weg und sie sind von dem einen auf den anderen Tag auf sich allein gestellt. Ohne eine Unterstützung in der Alltagsbewältigung besteht die Gefahr, dass die Entlassenen die Zugehörigkeit in Milieus suchen, die ihnen nicht gut tun und die Gefahr der Rückfälligkeit erhöhen, wie beispielsweise die Suche nach Anknüpfung in einer salafistischen Moschee. Besonders erfolgversprechend ist es, die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu gehören der Aufbau von familiären Bindungen und die Wiederaufnahme in den Arbeitsmarkt. Sie müssen wieder am gesellschaftlichen Leben partizipieren können, um einen Rückfall vorzubeugen. Die Entlassenen müssen sich gleichberechtigt fühlen, bei gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken können und in die gesellschaftlichen Strukturen eingebunden werden. Hier ist auch die Mehrheitsgesellschaft in der Verantwortung, die Entlassenen aufzunehmen und ihnen eine Chance zur Integration zu bieten.

Unser Täter Mark hat durch das AKT alle nötigen Kompetenzen an die Hand bekommen, um sich selbst aus seinem Gewaltkreislauf zu befreien. Ob er nach seiner Entlassung die weiteren Angebote von VPN in Anspruch nimmt, wird sich zeigen.

An seinem Beispiel wird deutlich, dass der Islamismus dem Täter etwas bietet, was ihm gefehlt hat: Akzeptanz, Verständnis und familiäre Nähe. All das bietet der Islamismus, genauso wie andere Ideologien dem Täter und macht ihn empfänglich für extremistisches Gedankengut, gleich aus welcher Richtung. Damit ist auch die Gesellschaft, also jede*r Einzelne, in der Verantwortung, Radikalisierungen zu verhindern, indem sie versucht andere nicht zu demütigen und sie damit nicht in die Opferrolle drängt, was dann der Beginn eines Gewaltkreislaufes sein kann. Dieser Beitrag ist demnach auch als Appell zu sehen, um aufzuzeigen, dass sowohl ehemalige Täter, als auch jede*r Einzelne in der Gesellschaft, einen Beitrag zu Gewaltfreiheit leisten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bei Begriffen wie Täter, Inhaftierter, Teilnehmer o.ä., wird in diesem Text bewusst die männliche Form gewählt, da die Autorinnen ausschließlich bei AKTs hospitiert haben, an denen männliche Straftäter teilgenommen haben.

  2. Sutterlüty Ferdinand: Was ist eine „Gewaltkarriere“?, in: Zeitschrift für Soziologie; Ausgabe 4/2004; Mücke, Thomas: Radikalisierung als biographisches Phänomen in: Interventionen - Zeitschrift für Verantwortungspädagogik; Ausgabe 2/2013 URL: Externer Link: https://interventionen.blog/2022/02/17/radikalisierung-als-biographisches-phaenomen/ (abgerufen 09.10.2022).

  3. Korn, Judy / Mücke, Thomas: Gewalt im Griff 2: Deeskalations- und Mediationstraining; S. 23ff, 2. Auflage, Juventa Verlag, Weinheim & München, 2006.

  4. Korn, Judy / Mücke, Thomas: Gewalt im Griff 2: Deeskalations- und Mediationstraining; 2. Auflage, Juventa Verlag, Weinheim & München, 2006, S. 23 f.

  5. Wirth, Jan V. / Kleve, Heiko: Lexikon des systemischen Arbeitens, „Nichtwissen“ September 07 2021, URL: Externer Link: https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/nichtwissen (abgerufen 01.10.2022).

  6. Graphische Darstellung von Verwandschaftskonstellationen, um Beziehungen erkennbar zu machen und diese zu bewerten.

  7. Pantucek, Peter: Materialien zu diagnostischen Verfahren, 2005 URL: Externer Link: www.pantucek.com (abgerufen 03.10.2022).

  8. Wirth, Jan V. / Kleve, Heiko: Lexikon des systemischen Arbeitens, „Nichtwissen“ September 07 2021, URL:Externer Link: https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/nichtwissen (abgerufen 01.10.2022).

  9. Mücke, Thomas / Ruf, Maximilian: Biografische Methoden in: Qualifikation des Fachbereichs “Sicherheit” im niedersächsischen Justizvollzug - Handout zur VPN Fortbildung vom 14.-15. September 2020; S.10, o. O.

  10. Mücke, Thomas / Ruf, Maximilian: Biografische Methoden in: Qualifikation des Fachbereichs “Sicherheit” im niedersächsischen Justizvollzug - Handout zur VPN Fortbildung vom 14.-15. September 2020; S.10, o. O.

  11. Er, Samet: Der Strafvollzug als Zwischenstation der Radikalisierung, S. 127, S. 141, Springer VS Verlag, Bielefeld, 2021.

  12. Interner VPN Bericht, der uns anonymisiert vorlag.

  13. Er, Samet: Der Strafvollzug als Zwischenstation der Radikalisierung, S. 152 - 159, Springer VS Verlag, Bielefeld, 2021.

  14. El-Mafaalani, Aladin / Alma, Fathi u. a.: Ansätze und Erfahrungen der Prävention- und Deradikalisierungsarbeit. HSFK-Report, (6), 2016, S. 20.

  15. Thiersch, Hans / Grunwald, Klaus u. a.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, S. 189, in: Werner, Thole : Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, 4. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden 2011.

  16. Er, Samet: Der Strafvollzug als Zwischenstation der Radikalisierung, S. 152 - 159, Springer VS Verlag, Bielefeld, 2021.

  17. Grunwald, Klaus / Thiersch, Hans: Lebensweltorientierung. In: W. Schröer und C. Schweppe, Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online, Fachgebiet: Soziale Arbeit (S. 26). Beltz Juventa, Weinheim 2014 Füssenhäuser, Cornelia: Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit, S. 134, in: Bernd Dollinger Jürgen Raithel, Aktivierende Sozialpädagogik, Ein kritisches Glossar, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006.

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