Eines der wiederkehrenden Themen in den Geschichten belarusischer Frauen, die seit 2020 Inhaftierungen und Haftzeiten in Gefängnissen und Strafkolonien aus politischen Gründen überlebt haben, ist die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe und Fürsorge füreinander. In meinem Text über den „fragilen Widerstand“ belarusischer weiblicher politischer Gefangener zitiere ich eine von ihnen, „Alisa“ (ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen): „Ganz am Anfang sagte einer der Ermittler, dass wir hier nur an uns selbst denken sollten, weil das Gefängnis so organisiert sei. Auch damit lag er falsch. Je mehr man sich auch um andere kümmert, desto besser geht es einem dabei selbst.“
Es ist daher nicht verwunderlich, dass vor allem die Frauen in Belarus heute politische Gefangene sowie Opfer von Repressionen und ihre Familien außerhalb der Gefängnisse unterstützen. Dies zeigt etwa die Verhaftung von mindestens 287 Personen, die meisten von ihnen Frauen, Ende Januar 2024, die eine solche Unterstützung leisteten, aber auch erhielten. Gegen hundert von ihnen wurden Verwaltungs- oder Strafverfahren eingeleitet, und einige von ihnen, die sich der Verhaftung entziehen konnten, mussten Belarus verlassen.
Zu denjenigen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, gehörte die 39-jährige Bloggerin und Designerin Olga Tokarčuk, die bereits eineinhalb Jahre aus politischen Gründen im Gefängnis und in der Strafkolonie 2021/22 verbracht hatte. Als sie im Juni 2022 dann freigelassen wurde, blieb sie in Belarus – unter anderem, um anderen politischen Gefangenen zu helfen und „das Land nicht an die „Jabacki“
Frauen als kollektive Leader bei den Protesten 2020
„Die wichtigste Metapher für die Kraft der Solidarität, die die Menschen in ihrem Wunsch nach Veränderung vereinte, war die Kette – Schulter an Schulter mit Fremden“,
Die Solidaritätskette der Frauen vor dem Komarowsky-Markt formierte sich drei Tage nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020. In diesen drei Tagen gingen Zehntausende von Menschen aus Empörung über die Fälschungen in mehr als dreißig Städten von Belarus auf die Straße. Polizei, OMON und interne Truppen setzten Tränengas, Blendgranaten, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen friedliche Demonstrierende ein. In diesem Zusammenhang wurden mehr als 6.000 Menschen verhaftet und zu Opfern grausamer Gewalt, und mindestens zwei Menschen wurden getötet.
So geschah es – und es waren die Solidaritätsketten der Frauen, die zu weitverbreiteten massenhaften und friedlichen Protesten in ganz Belarus führten, die nun zu den fünfzehn größten und längsten Mobilisierungen in mehr als hundert Ländern in den letzten fünfzig Jahren gehören.
Das „Vereinigte Frauenteam“ bildete sich um die Figur von Sviatlana Tsihanouskaja und war vor allem das Ergebnis der Offenheit und Kooperationsbereitschaft dieser drei Frauen. Im Juli 2020 kandidierte Sviatlana Tsihanouskaja, Hausfrau mit Universitätsabschluss, anstelle ihres Mannes, der Ende Mai desselben Jahres inhaftiert worden war. Die zwei anderen Frauen, die sie unterstützten, Maria Kalesnikava und Veranika Tsepkala, waren Wahlkampfleiterinnen zweier anderer Kandidaten, die am Vortag aus dem Rennen um das Präsidentenamt geworfen worden waren. Einer von ihnen, Viktar Babarika, sammelte die in der Geschichte Belarus noch nie dagewesene Zahl von 400.000 Unterstützungsunterschriften und geriet Mitte Juni 2020 ins Gefängnis.
Das „Vereinigte Frauenteam“ von Sviatlana Tsihanouskaja, Maria Kalesnikava und Veranika Tsepkala war eine zentrale Inspiration für gesellschaftliche Aktivierung und zog am Vorabend der Präsidentschaftswahlen Hunderttausende von Menschen zu Kundgebungen in vielen belarusischen Städten an. Aleksandar Lukašenka, zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre Präsident von Belarus und sich erneut zur Wahl stellend, erklärte öffentlich, dass keiner in Belarus für eine Frau stimmen würde und dass er „seine Geliebte“ – gemeint war Belarus in abusiven Begriffen – niemandem überlassen würde.
Die Frauensolidaritätsketten und das „Vereinigte Frauenteam“ waren die Initialzündung bei der Entstehung der nächsten Form der Massensolidarisierung belarusischer Frauen – den Frauenmärschen. Der erste startete am 29. August und versammelte nach Schätzungen von Expertinnen und Experten 10.000 Teilnehmerinnen. Sichtbarer Teil von ihm waren feministische Plakate mit Aufschriften wie „Menschenrechte sind die besten Freunde der Frauen“, „Kanstytutsija – Jana Maja“ („Канстытуцыя – яна мая“) oder „Alles ist politisch, wenn du eine Frau bist“. Als zentrale Spruchbänder galten „Patriarchat, du bist in der Fotze“
Die insgesamt fünf Frauenmärsche fanden jeden Samstag statt, und ab dem dritten Marsch wurden die Teilnehmerinnen massiv und gewaltsam festgehalten. Dennoch gelang es ihnen, wie auch den Angehörigen der Queer-Community, die allgemeine Protestbewegung mit ihrer Strategie einer fürsorglichen Solidarität, wie ich es nenne, zu bereichern. So reihten sich etwa Frauen händchenhaltend in Ketten auf der Fahrbahn auf, um den Verkehr anzuhalten, und sorgten aktiv dafür, dass die Kolonne nicht von der Polizei aufgelöst wurde und niemand zurückblieb. Die bunte Kleidung war ein wichtiger Bestandteil der Frauenmärsche, ebenso wie die Zurschaustellung von Würde, die mit zahlreichen Verhaftungen von Frauen einherging.
Maria Kalesnikava und Frauen-Künstlerinnen der Revolution
Am 7. September 2020, inmitten der Zeit der Frauenmärsche und großen Sonntagsmärsche, wurde Maria Kalesnikava entführt. Die Musikerin und Kulturmanagerin leitete 2020 nicht nur die Wahlkampfzentrale des populärsten Präsidentschaftskandidaten, Viktar Babarika, und unterstützte Sviatlana Tsihanouskaja im Juli desselben Jahres, sondern wurde auch Mitglied des Präsidiums des Koordinierungsrates, dessen Gründung Sviatlana Tsihanouskaja am 14. August von Vilnius aus initiierte, wohin zu fliehen sie vom belarusischen Regime gezwungen worden war. Der Koordinierungsrat wurde einberufen, um den Prozess des Ausstiegs von Belarus aus der politischen Krise zu organisieren. Unter seinen sieben Mitgliedern befanden sich neben Maria Kalesnikava drei weitere Frauen, darunter die Literaturnobelpreisträgerin Svjatlana Aleksijevič.
Den gesamten August 2020 hindurch war Maria Kalesnikava eine sichtbare Teilnehmerin an den Protesten und nahm an Aktionen in ganz Minsk teil. Ihr roter Lippenstift, ihre zu einem Herz gefalteten Hände und ihre Aussagen „Wir Belarusen sind unglaublich“ und „Wir müssen [dieses Regime] rütteln, rütteln, rütteln“ wurden zum wichtigsten Erkennungsmerkmal der Proteste, zu ihrem Markenzeichen.
Mit Maria Kalesnikava identifizierten sich Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen in ganz Belarus. Da sie der unabhängigen Kulturszene angehörte und aktiv am kulturellen Leben des unabhängigen Kulturraums OK16 teilnahm, der sich in den 2010er Jahren im Epizentrum des unabhängigen kulturellen und sozialen Lebens von Minsk befand, also in der Kastryčnickaja-Straße, identifizierten sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler mit ihr. Am 17. Juli bat Maria Kalesnikava die belarusische Künstlerin Antanina Slabodčikava, für das „Vereinigte Frauenteam“ das Symbol „das Herz, eine geballte Faust und ein V(Sieges)-Zeichen“
Vor allem belarusische Künstlerinnen schlossen sich schon im Juni 2020 der Protestbewegung für faire Wahlen an, als die Designerin Nastja Grišanova das Hashtag „Evalution“ schuf. Eine gleichnamige Gruppe in ihrem Telegram-Kanal wurde gegründet. Auslöser für den Zusammenschluss vor allem von Vertreterinnen und Vertretern der unabhängigen belarusischen Kunstszene war die Beschlagnahmung des Porträts „Eva“ (1928) des jüdisch-belarusisch-französischen Künstlers Chaim Soutine zusammen mit der Kunstsammlung „Pariser Schule“. Diese war von einem der Präsidentschaftskandidaten von 2020, Viktar Babarika, nach Belarus zurückgebracht worden, als er Leiter der Belgazprombank war, und wurde am Vorabend seiner Verhaftung als Drohung gegen ihn beschlagnahmt.
Die Wahl von „Eva“ durch die unabhängige belarusische Kunstszene als Symbol für ihren Widerstand gegen Babarikas Verhaftung wurde zum ersten Vorboten der „Revolution mit weiblichem Gesicht“ in Belarus 2020: Der Künstler Sergei Shabohin fertigte bereits im Juni eine Collage mit „Eva“ an, die er auf dem Präsidentensitz im Sitzungssaal des belarusischen Parlaments platzierte.
Von der Schwesterlichkeit zur fürsorglichen Demokratie
Maria Kalesnikava wurde am 7. September 2020 in Minsk entführt, und am 8. September wurde bekannt, dass sie ihren Pass an der Grenze zerriss, um ihre gewaltsame Ausweisung aus dem Land zu verhindern. Ein Jahr später, am 6. September 2021, wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt und verbüßt heute ihre Strafe zusammen mit Tausenden anderen politischen Gefangenen in Belarus, wo sie gefoltert wird und in Lebensgefahr schwebt.
Maria Kalesnikavas roter Lippenstift wurde zum Symbol des „fragilen Widerstands“ von Frauen im Gefängnis und in den Strafkolonien, wie es die ehemalige politische Gefangene Volha Klaskouskaja in ihren Gefängnistagebüchern beschreibt.
Die Schwesterlichkeit im Gefängnis ist nach wie vor eine Form der Solidarität, die Belarusinnen und Belarusen im In- und Ausland dazu inspiriert, sich gegenseitig zu unterstützen und weiter an einen demokratischen Wandel im Land zu glauben. Die Namen der Menschenrechtsaktivistinnen Nasta Lojka und Marfa Rabkova, der Expertin Valerija Kastjugova, der Journalistinnen Ljudmila Chekina und Irina Zlobina sowie der Olympiasiegerin im Kugelstoßen, Nadežda Ostapčuk, die sich alle nach wie vor im Gefängnis oder in der Strafkolonie befinden, – zusammen mit 184 Frauen
Es ist daher nicht verwunderlich, dass zwei zentrale belarusische Projekte zur Unterstützung politischer Gefangener in Belarus – Dissidentby und Politzek.me – von Frauen geleitet werden: Marina Kasinerava (zusammen mit ihrem Partner Vjačaslau Kasinerau) und Inna Kavaljonak. Eine weitere wichtige und sichtbare Initiative zur Unterstützung politischer Gefangener in Belarus ist Politvyazynka, gegründet und geleitet von der Journalistin Jauhenija Dougaja. Die ehemalige politische Gefangene Volha Harbunova ist im Rahmen des Vereinigten Übergangskabinetts, eine der drei wichtigsten Institutionen der belarusischen demokratischen Gemeinschaft außerhalb von Belarus
Diese Überlegungen spiegeln die Gedanken zeitgenössischer sozialer und politischer Theoretikerinnen und Theoretiker in Bezug auf eine fürsorgliche Demokratie (caring democracy) wider, die es ermöglichen soll, dem Projekt einer prozeduralistischen, liberalen Demokratie eine inhaltliche Dimension zu verleihen, da die Pflege der Menschen, der Schutz der Natur und die demokratische Selbstverwaltung die höchsten gesellschaftlichen Prioritäten sind.