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Die letzte jugoslawische Generation
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Im Dezember 1989 führte das kroatische Jugendmagazin Polet eine Umfrage durch, in der sie ihre Leser*innen nach den negativsten und positivsten Ereignissen und Persönlichkeiten im Jugoslawien des Jahres 1989 fragte. Die Liste der negativsten Personen führte der serbische nationalistische Politiker Slobodan Milošević an, und zur positivsten Figur des Jahres wurde der reformorientierte proeuropäische Ministerpräsident des Bundes, Ante Marković, gewählt. Der von Marković und seinem Kabinett auf den Weg gebrachte lose Rahmen der Europäisierung und Demokratisierung Jugoslawiens war populär und schien vielen vor dem Hintergrund der zunehmenden nationalistischen Mobilisierung innerhalb des Landes und der tiefgreifenden (geo-)politischen Veränderungen in Europa und der Welt als eine tragfähige Alternative.
Auch die Redaktion des mazedonischen Jugendmagazins Mlad borec wählte die beiden genannten Politiker zum positivsten respektive negativsten Politiker von 1989 und erwähnte zudem unter den positivsten Ereignissen des Jahres die internationalen Erfolge der jugoslawischen Fußball- und Basketballteams, die Gründung alternativer politischer Organisationen sowie die Eröffnung des ersten Sexshops in Zagreb. Die internationalen Erfolge des jugoslawischen Teamsports boten in den 1980er Jahren einen gewissen Ausgleich für den wirtschaftlichen Niedergang und die politischen Auseinandersetzungen im Land und vermittelten vor allem der Jugend ein Gefühl von Würde und Stolz.
Der Fall der Berliner Mauer und die Umwälzungen in Osteuropa beschleunigten die innenpolitischen Diskussionen über Reformen und Demokratisierung auch in Jugoslawien weiter, und ich habe untersucht, wie sich die alternative Welt der 1980er Jahre aus Sicht einer bestimmten Generation darstellte und habe den Blick dabei insbesondere auf die Vielfalt der politischen und kulturellen Projekte gerichtet, die Kritik am jugoslawische Projekt übten und es neu definieren – aber nicht zerstören – wollten.
1987 ist gemeinhin bekannt als das Jahr, in dem Slobodan Milosević seine berüchtigte Kosovo-Polje-Rede hielt; es war aber auch das Jahr, in dem die angehende goldene Basketballgeneration Jugoslawiens die FIBA-U-19-Basketball-Weltmeisterschaft gewann und die jugoslawische U-20-Nationalmannschaft die FIFA-Fußballweltmeisterschaft der Junioren. 1987 war die nationale Fluggesellschaft Jugoslawiens JAT die zehntgrößte Airline in Europa und auf Platz 31 weltweit, und Belgrad war das Drehkreuz für Flüge nach Osten, Westen und in den globalen Süden.
Die geopolitische Position Jugoslawiens als führendes Mitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten war wichtig für das Selbstverständnis und die Artikulation des Zugehörigkeitsgefühls dieser Generation. In einer Ausgabe des wöchentlich erscheinenden britischen Musikmagazins Melody Maker aus dem Jahr 1978 schrieb ein Leser aus Ljubljana, er sei „es leid, immer wieder zu lesen, Jugoslawien würde hinter dem Eisernen Vorhang liegen. Wenn überhaupt, befinden wir uns am Rande dieses Vorhangs, das sollten die Mitarbeiter von MM und andere Engländer im Musikgeschäft inzwischen eigentlich wissen. Erinnern Sie sich noch an 1948, als wir Stalin heimgeleuchtet haben? Wenn nicht, fragen Sie doch einfach mal nach bei den Historikern.“
Diese Generation, die von Expert*innen und Soziolog*innen damals als eine „nicht-klassische politische Generation“ beschrieben wurde, als „eine Generation, die Veränderungen wünscht und herbeiführt“
Auch rangierten Politik, nationale Geschichte und Religion ganz unten auf der Liste der Interessen und Gesprächsthemen.
In der populären Erinnerung steht die Jugend der 1980er Jahre für eine phänomenale kulturelle Kreativität. Mit neuen Musikstilen, regionalen Szenen, einer aufblühenden einheimischen Musikindustrie, einer Offenheit gegenüber kulturellen Einflüssen aus dem Westen und einer Jugendorganisation, die alternativen kulturellen Ausdrucksformen zunehmend Raum und Unterstützung bot, erreichten Jugendkultur und Jugendaktivismus in den 1980er Jahren ein neues Niveau. In diesem Jahrzehnt wurden die großen Themen Frieden, Antimilitarismus und Umweltschutz, nukleare Abrüstung und sexuelle Freiheit aufgegriffen und neue Formen von politischem Ausdruck und Aktivismus gefunden, wobei der jugoslawische Jugendverband und seine Zweige maßgeblich daran beteiligt waren, all diese Themen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken.
Diese Generation führte insgesamt eine ganz neue Haltung ein, die von dem Wunsch geprägt war, mit dem Westen und den westlichen Kulturen auf Augenhöhe zu interagieren und in einen Wettbewerb mit ihnen zu treten, statt westliche Trends bloß zu konsumieren, ihnen zu folgen oder sie zu kopieren.
Daher wurde die letzte jugoslawische Generation oft auch als eine Generation beschrieben, die Urbanität, Kosmopolitismus und Nonkonformismus als eine späte jugoslawische Kultur verkörperte. Später allerdings gingen die Personen, die sich in der spätsozialistischen jugendpolitischen Arbeit, in den Medien oder in der Kultur engagiert hatten, ganz unterschiedliche Wege – einige setzten ihr „nonkonformistisches“ Engagement in der postjugoslawischen Ära in den Bereichen Medien, Kultur und Kunst fort, andere blieben ihren liberalen oder progressiven Jugendidealen mehr oder weniger treu, und wiederum andere – vor allem jene, die in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in die Politik gingen – entschieden sich dafür, ihre politischen Auffassungen völlig neu zu definieren oder ihre sozialistische Vergangenheit aus ihrer offiziellen Biographie zu streichen. Der progressivere Teil der Jugendelite – vor allem diejenigen, die weiter als Journalist*innen arbeiten oder in den zivilgesellschaftlichen Bereich gingen – stehen der postjugoslawischen Politik heute eher kritisch gegenüber. Sie sehen die 1980er Jahre vor allem als eine Ära verpasster Chancen – nicht unbedingt als eine Zeit, in die sie gern zurückkehren würden, doch als einen Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen postsozialistischen Welt, die sie nicht retten konnten. In den meisten Interviews, die ich im Rahmen meiner Recherchen geführt habe, wurde insbesondere von Angehörigen der Medienelite und kulturellen Elite Kritik daran geübt, dass die postsozialistische Politik auf formale Wahlen, bloße Machtkämpfe, den freien Markt, einen rücksichtslosen Kapitalismus und die Aushöhlung des Wohlfahrtsstaates reduziert wurde. Rückblickend besteht weitgehend Konsens darüber, dass einiges anders hätte gemacht werden können, um die katastrophalen Folgen der Jugoslawienkrise Anfang der 1990er Jahre zu verhindern. In den Erzählungen und Erinnerungen prominenter Vertreter*innen der 1980er-Generation wird die sozialistische Vergangenheit Jugoslawiens keineswegs unkritisch betrachtet; gleichwohl spiegeln sie durchaus Nancy Frasers Vision von „einem anderen ‘Postsozialismus’, der in sich vereint, was am sozialistischen Projekt unübertroffen ist – statt es rundweg abzulehnen“, wider.
In der postjugoslawischen Region fand ein jahrzehntelanger Prozess des „Ausmerzens der kommunistischen Zeit“ statt – insbesondere, wie argumentiert wurde, indem diese als Verirrung behandelt wurde.
Der Antifaschismus wurde seiner jugoslawischen Dimension beraubt, und in der Region gerieten die zentralen Merkmale der jugoslawischen und sozialistischen Staatsbürgerschaft wie Solidarität, Arbeiterselbstverwaltung und geopolitische Bündnisfreiheit auf institutioneller wie auf gesellschaftlicher Ebene in Vergessenheit.
Die Grenzen der Staatsbürgerschaft, die politischen Vorstellungen und Ziele schrumpften zusammen, und die ehemalige jugoslawische Region durchlief einen Prozess der Peripherisierung und Deglobalisierung – sowohl auf regionaler als auch auf transnationaler bzw. globaler Ebene. Vielleicht haben die vielen Vertreter*innen der letzten jugoslawischen Generation, die weiter in der Musik, in der Kultur, in der Literatur oder im Journalismus tätig sind, zu der angeblichen „Mythologisierung“ der jugoslawischen „Neuen Welle“ beigetragen, indem sie ihre kreative Arbeit fortgesetzt haben. Es ist ihnen aber auch gelungen, eine neue Generation von Wissenschaftler*innen, Filmemacher*innen, Künstler*innen, Musiker*innen und Aktivist*innen zu einer neuen Lesart und zu einer Neubewertung des reichen Erbes des letzten jugoslawischen Jahrzehnts zu inspirieren.
Aus dem Englischen von Anke Mai.
Lektorat und Korrekturlesen: Jonas-Philipp Dallmann.
Weitere Inhalte
Dr. Ljubica Spaskovska – ist Dozentin für Europäische Geschichte an der Universität von Exeter. Sie ist Autorin des Buches “The Last Yugoslav Generation: The Rethinking of Youth Politics and Cultures in Late Socialism” (Manchester University Press 2017).
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