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Wie der Jazz und der Rock Jugoslawien veränderten Tiny Texts: Über Musik und Widerstand in (Post-)Jugoslawien
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Im turbulenten 20. Jahrhundert war die Musik oft ein Indikator für den Zustand der Gesellschaft und gesellschaftlicher Umbrüche; anhand von ihr ließ sich das erreichte Demokratieniveau im jeweiligen Umfeld gut messen. Die von der Musik transportierte Energie, insbesondere die schnelleren Rhythmen, wurde von totalitären Regimen meist nicht toleriert – das Naziregime verbot den Jazz, und die Kommunisten zeigten sich feindselig nicht nur gegenüber dieser Musikrichtung, sondern auch gegenüber dem Rock ’n’ Roll. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Ausbreitung westlicher Einflüsse in die Gebiete hinter dem Eisernen Vorhang war Musik sowohl ein mächtiges Werkzeug in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen als auch ein wichtiger Schritt in Demokratisierungsprozessen.
Mit Jazz und Rock 'n' Roll kamen neue Rhythmen, eine neue Mode, neue Verhaltensmuster und das Wichtigste – die Freiheit. Die neue Musik zerstörte mit ihrer Kraft alle bestehenden Tabus. Aus diesem Grund stellten sowohl Jazz als auch Rock 'n' Roll eine Bedrohung für die kommunistischen Regime dar; für Amerika spielten sie dadurch auch eine politische Rolle und wurden Teil des Arsenals antikommunistischer Aktivitäten.
Mit Jazz und Rock 'n' Roll kamen neue Rhythmen, eine neue Mode, neue Verhaltensmuster und das Wichtigste – die Freiheit.
Deshalb ist das kulturelle Bild Jugoslawiens ab den 1950er Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges ein eher untypisches Bild – untypisch für ein Land mit einem kommunistischen System. Hollywood-Blockbuster dominieren seit den frühen 1950er Jahren das Filmrepertoire. Der Western ist das Lieblingsfilmgenre der Bürger Jugoslawiens, vor allem auch von Staatspräsident Josip Broz Tito, und in den sechziger Jahren konsumiert das Kinopublikum Filme mit ausgeprägter Kalter-Krieg-Thematik wie Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (Kubrick, 1964) oder Die Russen kommen! Die Russen kommen! (Jewison, 1966) sowie die James-Bond-Filme (ab 1962, 007 jagt Dr. No). Hollywoodstars wie Richard Burton, Orson Welles oder Yul Brynner sind Hauptdarsteller in Partisanenfilmen, die den nationalen Befreiungskampf verherrlichen. Es werden Koproduktionen gedreht, die Filmschauspieler:innen wie Elizabeth Taylor, Sophia Loren, Clint Eastwood, Kirk Douglas oder Burt Lancaster nach Jugoslawien bringen, und es werden große Ausstellungen zeitgenössischer Malerei präsentiert, darunter solche des amerikanischen Abstrakten Expressionismus und der Pop-Art: Die Bürger Jugoslawiens bekommen die Werke von Jackson Pollock, Andy Warhol und Roy Lichtenstein zu sehen. Belgrad erhält ein Museum für zeitgenössische Kunst, basierend auf dem Konzept des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), und wird Gastgeber des BITEF, eines internationalen Theaterfestivals, bei dem die Avantgarde internationaler Regisseure und Theaterensembles aktiv ist. Die Werke von Henry Miller und John Updike werden ebenso veröffentlicht wie die von Alexander Solschenizyn oder Boris Pasternak. Junge Leute lesen Salinger und Kerouac, manche auch Herbert Marcuse. Populäre amerikanische Serien wie Peyton Place, Der Denver-Clan (Dynasty), BBC-Serien sowie Die Schwarzwaldklinik werden mit Spannung verfolgt. Kinder wachsen mit Disney-Cartoons und amerikanischen Comics auf. An Zeitungskiosken im ganzen Land werden Burda und Elle sowie der Playboy verkauft. Supermärkte nach amerikanischem Vorbild werden eröffnet, Pepsi und Coca-Cola getrunken. Im jugoslawischen Coca-Cola-Sozialismus findet all dies zu den Klängen von Jazz und Rock 'n' Roll statt.
In der Musik ist es der Jazz, der den ersten Durchbruch vollzieht. Diese Musikrichtung, die Kreativität und Improvisation nicht nur zulässt, sondern auch erfordert, ist eine Herausforderung für die kommunistischen Regime – nicht nur wegen Amerika, von woher sie stammt; vielmehr kollidiert sie mit dem starren kommunistischen System. Bereits in den frühen 1950er Jahren erkennt das amerikanische State Department die Bedeutung des Jazz für Propagandazwecke und beginnt, ihn auf der Voice of America in der Sendung „Music USA“ auszustrahlen und Jazzmusiker als eine Art Jazzbotschafter in die ganze Welt zu schicken.
Das Bemerkenswerte ist, dass sogar Menschen aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien zu diesen Konzerten kommen – vielleicht sogar mehr auf der Suche nach den Klängen der Freiheit als wegen des musikalischen Genusses. Die Tourneen jugoslawischer Jazzmusiker in Osteuropa sind neben der Präsentation der hohen Qualität des jugoslawischen Jazz auch eine Möglichkeit, die westliche Variante des Kommunismus in die ostkommunistischen Gebiete zu „exportieren“. Jugoslawische Jazzmusiker, die in Budapest und Ostberlin damals frenetischen Beifall ernteten, erinnerten sich später, dass die leidenschaftlichen Rufe des Publikums in Budapest und Ostberlin während ihrer Konzerte auch einen heimlichen Protest gegen die sowjetische Besatzung beinhalteten.
Nimmt man dies alles zusammen, von den ersten Klängen des Jazz im jugoslawischen Sozialismus über die Gründung von Jazzorchestern, Tanzlokalen und Jazzfestivals bis hin zu den Gastauftritten der berühmtesten Jazzstars der Welt, dann lauschte das „einfache Volk“ damals nicht nur verführerischen Rhythmen, sondern gewann mit dem Jazz auch Schritt für Schritt den Rhythmus und den Geschmack der Freiheit.
Rock ist subversiv – aber nicht nur, weil er in seiner ersten Ausprägung Sex, Drogen, billige Vergnügungen und die Konfrontation mit Autoritäten befürwortet, sondern auch, weil er dazu ermutigt, jenseits ideologischer Doktrinen zu denken.
Der Rock 'n' Roll dann bringt einen noch größeren Rhythmus der Freiheit mit sich. Als völlig neues Phänomen in der Musik und Massenkultur im Allgemeinen gelingt es ihm, NATO-Anhänger und -gegner, Demokraten und Kommunisten, Monarchisten und Republikaner, Gläubige und Atheisten zu vereinen und von einem Genre zu einer Bewegung heranzuwachsen.
Die Bedeutung und Kraft des Rock 'n' Roll wird schon bald von NATO-Strategen erkannt, die sogar über das militärische Potenzial spekulieren, das diese Musikrichtung bietet. Bereits 1958 wird in dem NATO-Newsletter Revue militaire générale nahegelegt, Jazz und Rock 'n' Roll könnten im Krieg gegen den Kommunismus eingesetzt werden. Vereinfacht, aber im Grunde genommen richtig wird angenommen: Je mehr ein junger Mensch Little Richard hörte, desto weniger Zeit verbringt er mit dem Lesen von Marx und Lenin.
In den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang repräsentiert der Rock 'n' Roll damals nicht nur, weil er aus dem Westen kommt, sondern auch aufgrund seines Wesens, den Wunsch nach einem anderen Leben und Rebellion gegen ein System, das auf Verboten, strengen Regeln und der Einschränkung persönlicher Freiheiten beruht. Deshalb stellt er eine Gefahr für die dortigen Regime dar und wird oft verboten, eingeschränkt oder streng kontrolliert.
Jugoslawien ist auch insofern spezifisch, als der Rock 'n' Roll dort nicht nur von jungen Menschen, sondern auch vom politischen System akzeptiert wird, weil er mehrere Vorteile bringt: Die Musik hat einen starken Einfluss auf den Aufbau des Images eines liberalen Sozialismus im Westen und trägt insgesamt dazu bei, dass sich junge Menschen in Jugoslawien freier fühlen. Schallplatten, Tanzveranstaltungen, Zeitschriften, spezialisierte Radio- und Fernsehsendungen, Diskotheken und alles andere, was im Dienste des Rock 'n' Roll steht sowie natürlich die Musik selbst beeinflussen nicht nur die musikalischen Möglichkeiten und bringen dem Land Punkte beim Aufbau eines politisch akzeptablen (Selbst-)Porträts, sie beeinflussen auch das allgemeine gesellschaftliche Klima. Die Mode ändert sich, das Aussehen junger Menschen, ihre Gewohnheiten, ihre Art, die Freizeit zu verbringen, das Konzept der Unterhaltung. Nicht zuletzt wird mithilfe des Rock 'n' Roll auch die englische Sprache gelernt.
Die allgemeine Atmosphäre, die sowohl vom Jazz als auch vom Rock 'n' Roll ausgeht, insbesondere in den Großstädten, verändert die Jugend dieser Zeit. Ihre Idole sind nicht mehr Helden des Partisanenkampfes oder junge Parteiführer, sondern Rockstars wie John Lennon, Mick Jagger, Jim Morrison oder Jimi Hendrix. Die Wände ihrer Zimmer in der grauen sozialistischen Welt sind mit bunten Plakaten beklebt, und eine Musik kommt aus ihren Plattenspielern, Radios, Fernsehern, Jukeboxen, Diskotheken und Konzerten, die den Geschmack der Freiheit transportiert.
Mit der Öffnung des Landes für Jazz und Rock 'n' Roll und die Institutionalisierung dieser Musik veränderte sich die jugoslawische Gesellschaft freilich nicht in dem Maße, wie der Westen es sich wünschte – die Ideologie blieb im Kern intakt, und nach wie vor galten vom Regime festgelegte Grenzen, was Menschenrechte und Freiheiten anging. Doch Jazz und Rock 'n' Roll begünstigten die Bildung prowestlicher Ansichten und beeinflussten die innere Einstellung mehrerer Generationen. Das Freiheitsprinzip als eines der Fundamente der westlichen Demokratie kam (mit Einschränkungen) in Jugoslawien an, zwar nicht in Form eines Mehrparteiensystems oder von echter Rede- und Handlungsfreiheit. Doch auch in diesem eingeschränkten Rahmen – durch Jazz, Rock 'n' Roll, westliche Filme und scheinbar banale Alltagsdinge wie Coca-Cola – führte es dazu, dass das Wesen der Bedeutung des Wortes Freiheit zumindest akzeptiert, wenn auch nicht ganz verwirklicht wurde. Doch auch vor dem Hintergrund dieser begrenzten Akzeptanz von Freiheit veränderte sich die jugoslawische Gesellschaft und die Weltanschauung der einfachen Leute nachhaltig. Am Ende, als das „jugoslawische Experiment“ scheiterte und das Land in blutigen Kriegen auseinanderfiel, brachte der Rock 'n' Roll weiterhin Freiheit – sowohl als Rebellion gegen den Krieg als auch als die Möglichkeit, verrückte, gleichgesinnte Menschen zusammenzubringen, auch auf verfeindeter Seite, sofern diese lieber den freien Klängen des Rock 'n' Roll lauschten als dem tödlichen Kugelhagel.
Aus dem Serbischen von Elvira Veselinović
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Prof. Dr. Radina Vučetić ist Professorin der Allgemeinen Modernen Geschichte und Leiterin des Zentrums für Amerikastudien im Fachbereich Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad.
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