Am Vormittag des 20. Mai 1978 lief eine Gruppe von Neonazis mit Eselsmasken und Pappschildern, auf denen der Holocaust geleugnet wurde, durch den Hamburger Stadtteil St. Georg; diese Aktion war Teil der Strategie von Michael Kühnen, mittels Provokationen und der erhofften anschließenden Berichterstattung einer breiten Öffentlichkeit die Existenz einer Strömung im Rechtsextremismus bekannt zu machen, die sich offen zu Personal und Programm des Nationalsozialismus bekannte. Diese Strömung sichtbar zu machen, sollte der erste Schritt zu einer umfassenderen Organisierung und breiteren Unterstützung aus der Bevölkerung sein. Auch wenn sich letztere nicht eingestellt hat, lässt sich vierzig Jahre später doch konstatieren, dass der Neonazismus als Strömung in der extremen Rechten über mehrere Parteien verfügt, ein breites Netzwerk an regionalen Gruppen aufweist, mit N.S. heute eine zentrale Publikation hervorgebracht hat und sich auf eine erhebliche Zahl an Kadern stützen kann.
Solch diachrone Perspektiven können dazu beitragen, quantitative und qualitative Veränderungen politischer und gesellschaftlicher Phänomene zu beschreiben und bewertbar zu machen. Die folgenden Ausführungen fokussieren auf die Entwicklung des populistischen und extrem rechten Milieus in den 2010er-Jahren. Signifikante Änderungen – insbesondere der Einzug einer völkisch-autoritären Partei in die Parlamente der Bundesländer, in den Deutschen Bundestag sowie ins Europäische Parlament – fallen unmittelbar ins Auge und werden vielfach als Rechtsruck diskutiert. Im Zusammenhang mit der Zunahme der Fluchtmigration im Zeitraum 2014-2016 gab es erneut eine Welle rassistischer Gewalt, die sich gegen Geflüchtete, die zu ihrer Unterbringung vorgesehenen Gebäude, aber auch gegen Vertreter*innen einer liberalen Flüchtlingspolitik richtete. In jüngerer Zeit stufen daher auch staatliche Sicherheitsbehörden den Rechtsextremismus als zentrale Bedrohung für das demokratische Gefüge der Bundesrepublik Deutschland ein.
Der Beitrag folgt dem definitorischen Verständnis von Rechtsextremismus, wie es von Hans-Gerd Jaschke entwickelt worden ist; es handelt sich um "die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen". Auch wenn der Begriff Populismus im politischen Diskurs auch als pejorative Bewertung politischer Konkurrenz wahrgenommen wird , verbinden sich damit im wissenschaftlichen Bereich verschiedene Ansätze der Konzeptualisierung. Er bezeichnet eine spezifische Form des politischen Stils, eine Strategie oder aber ein programmatisches Profil. Als Stilmittel setzt er verschiedene Elemente ein, zu denen insbesondere die Polarisierung und moralische Personalisierung, die Berufung auf den 'gesunden Menschenverstand', inszenierte Tabubrüche, eine 'volkstümliche' Sprache sowie die Selbstinszenierung als Opfer ungerechtfertigter Kritik gehören. Die andere Perspektive betrachtet den Populismus als programmatisches Konzept und weist auf ideologische Gemeinsamkeiten hin. Dabei wird vielfach auf die Idee Bezug genommen, wonach Populismus eine 'dünne Ideologie' sei. Sie wird als 'dünn' bezeichnet, weil sie in ihrem Kern aus der Unterscheidung zwischen 'Volk' und 'Elite' besteht und dabei beide Gruppen als mit je einheitlichem Willen und Charakter ausgestattet annimmt. Danach sei 'die Elite' korrupt, verlogen, machtgierig und unfähig, während 'das Volk' unverdorben und edel sei. Nach Cas Mudde und Christóbal Rovira Kaltwasser reichert der Rechtspopulismus die Elitenkritik und -verachtung durch eine weitere scharfe Gegenüberstellung an: die Abgrenzung der Angehörigen des eigenen Kollektivs (Volk) von den 'fremden Anderen'. Dabei wird der Kampf gegen Einwanderung und gegen religiöse Pluralität von Rechtspopulist*innen vielfach verbunden mit der Forderung nach einer autoritären Innenpolitik, nach der Förderung traditioneller Geschlechter- und Familienordnungen sowie der Wiederherstellung vollständiger nationaler staatlicher Souveränität. Es existiert ein weltanschauliches Nahverhältnis zur extremen Rechten.
Politische und mediale Beobachter*innen haben mit Blick auf die politischen Akteure rechts von CDU/CSU in den letzten Jahren vielfach von einer Radikalisierung gesprochen. Die folgenden Ausführungen gehen mit diesen Entwicklungen verbundenen Fragen nach: Wie hat sich das rechte Milieu entwickelt? Hat die Zahl der Menschen, die rechtsextreme Einstellungen vertreten oder einzelnen Elementen eines solchen Weltbildes zustimmen, zugenommen? Ist die politische Strömung, die in der Summe ihrer unterschiedlichen Strömungen auch als rechtsaußen bezeichnet wird , sprechfähiger und handlungsmächtiger geworden? Hat sich gar ihr realer Einfluss erhöht? Lässt sich tatsächlich von einem Rechtsruck sprechen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst ein Blick auf die Einstellungsforschung geworfen, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts regelmäßig umfangreiche Daten zur Verbreitung autoritärer, rassistischer, antisemitischer und extrem rechter Einstellungen zur Verfügung gestellt hat. Im Anschluss wird der Aufstieg der Partei Alternative für Deutschland (AfD) als die signifikanteste organisatorische Veränderung des Rechtaußen-Spektrums skizziert, die als parteipolitisches Angebot für entsprechende Einstellungsmuster gelten kann. Dabei ist auch von Interesse, wie das Auftreten der AfD sich auf die Gesellschaft ausgewirkt hat. Mitglieder und Funktionäre der AfD sind zahlreich mit nichtparlamentarischen rechtspopulistischen und rechtsextremen Akteur*innen verbunden, die ebenfalls seit 2010 neu aufgetreten sind. Die kursorische Darstellung entsprechender Akteur*innen wird mit einigen Überlegungen zu den weltanschaulichen Gemeinsamkeiten und Differenzen des Rechtsaußen-Spektrums verbunden. Nach knappen Ausführungen zur Entwicklung des Gewaltpotentials des Rechtsaußen-Spektrums geht es abschließend um die Frage, welche grundlegenden Entwicklungen sich bzgl. der Rechtsaußen-Strömung feststellen lässt.
Rechtsextreme, autoritäre und rassistische Einstellungen in Deutschland
Anfang der 1980er-Jahre machten die Ergebnisse der SINUS-Studie – insbesondere der Befund, dass 13 Prozent der Befragten über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild verfügten – bundesweit Schlagzeilen. Mit dem empirischen Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) (2002-2012) des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, den nachfolgenden 'Mitte'- bzw. Autoritarismusstudien aus Bielefeld bzw. Leipzig, Einstellungserhebungen auf der Ebene einzelner Bundesländer (u. a. der Thüringen- und der Sachsen-Monitor) sowie einer Vielzahl weiterer Surveys (u. a. das Sozio-Oekonomische Panel/SOEP) liegen umfangreiche Daten zur Verbreitung von Ideologemen extrem rechter Weltanschauung vor. Andere Studien untersuchen die Wertschätzung des Grundgesetzes und die Zufriedenheit mit demokratischen Institutionen, die im Zeitverlauf signifikant zugenommen haben.
Geht es um ein geschlossen rechtsextremes Weltbild, so zeigen die Ergebnisse der Einstellungsforschung signifikante Änderungen der Zustimmung zum Gesamtindex rechtsextremer Orientierung im Verlauf der 2010er-Jahre. Der Anteil der Bevölkerung mit ausgeprägt rechtsextremer Einstellung stieg von 8,2 Prozent im Jahr 2010 zunächst auf 9 Prozent im Jahr 2012, um sich in den Folgejahren dann zwischen zwei und drei Prozent einzupendeln. Für den Untersuchungszeitraum 2020/21 liegt der Wert je nach Befragung zwischen 4,3 Prozent bzw. 8 Prozent der Bevölkerung über 16 bzw. über 18 Jahren ; ob sich dieser jüngste Anstieg fortsetzt, bleibt abzuwarten. In den Untersuchungen der Bielefelder Forschungsgruppe werden 12,1 Prozent der Befragten als offen für rechtsextreme Ideologien eingestuft.
Zugleich ergeben die Erhebungen zur GMF, die ein ganzes Bündel an Einstellungsdimensionen berücksichtigen, für den Zeitraum 2010-2020 folgendes Bild. Die Unterstützung für biologistischen Rassismus ist leicht gesunken (von 8,2 Prozent auf 6,4 Prozent); die Zustimmung zu Items zur Messung von Fremdenfeindlichkeit sank von 29,6 Prozent auf 12,3 Prozent. Auch beim klassischen Antisemitismus findet sich ein Rückgang von 9,9 Prozent auf 7,5 Prozent , während der israelbezogene Antisemitismus von 23,7 Prozent (2016 erstmals erhoben) auf 13,4 Prozent fiel. Muslimfeindliche Einstellungen wiesen im Jahr 2010 29,0 Prozent der Befragten auf, zehn Jahre später waren es noch 13,4 Prozent. Der erhebliche Rückgang kann auch an einer veränderten Zusammenfassung von Items liegen.
Die Abwertung von Sinti*zze und Rom*nja ging von 34,9 Prozent auf 16,3 Prozent zurück. Die Abwertung asylsuchender Menschen stieg von 47,4 Prozent (2011 erstmals abgefragt) zunächst auf 54,1 Prozent in der Erhebung 2018/2019 und ging dann auf 40,4 Prozent zurück. Sexistische Aussage fanden bei 13,4 Prozent (2010) bzw. 7,5 Prozent (2020) der Befragten Zustimmung. Die Abwertung homosexueller Menschen ging ebenfalls zurück: von 18,4 Prozent auf 7,1 Prozent. Die Abwertung von transsexuellen Menschen blieb mit 11-12,5 Prozent weitgehend stabil. Wohnungslose wurden 2010 von 21,0 Prozent der Befragten abgewertet, in der Befragung 2020/21 waren es noch 8,7 Prozent. Für die Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen verringerte sich der Wert von 47,1 Prozent auf 8,7 Prozent. Hinsichtlich von Menschen mit Einschränkungen gingen die Werte von 4,2 Prozent auf 0,8 Prozent zurück. Schließlich stimmten im Jahr 2010 39,6 Prozent bzw. im Jahr 2020 noch 26,8 Prozent offen Aussagen zu, in denen Vorrechte für Etablierte gefordert wurden. Bei den genannten Zahlen ist generell zu berücksichtigen, dass diese Zahlen zum Teil erheblich höher liegen, wenn zusätzlich der Anteil der Befragten berücksichtigt wird, der den jeweiligen abwertenden Aussagen zum Teil zustimmte. Exemplarisch seien hier für den Zeitraum 2020/21 die Ergebnisse für die Abwertung von Sinti*zze und Rom*nja (zzgl. 27,7 Prozent), asylsuchenden Menschen (zzgl. 36,4 Prozent) und Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit (zzgl. 40,2 Prozent) genannt. Diesen und weiteren Antwortkategorien, die Abwertungen zum Ausdruck bringen, stimmen dann 2/3 bis 4/5 aller Befragten zumindest zum Teil zu.
In einigen Bundesländern sind über einen längeren Zeitraum ebenfalls Erhebungen durchgeführt worden, die es erlauben, die Veränderung der Einstellungen zwischen dem Jahr 2010 und dem Jahr 2020 zu erkennen. Der Thüringen-Monitor zeigt dabei einen leichten Zuwachs der Demokratieunterstützung von 80 Prozent (2010) auf 87 Prozent (2020) sowie der Demokratiezufriedenheit von 46 Prozent auf 68 Prozent. Ethnozentristische Einstellungen, die das eigene Volk bzw. die eigene Nation als zu privilegierenden Mittelpunkt und zugleich als gegenüber anderen Völkern überlegen ansehen, fanden sich zwischen 2010 und 2020 weitgehend stabil bei einem Drittel der Befragten in Thüringen, wobei diese zeitweise von fast jedem zweiten Befragten geteilt wurden. Rechtsextreme Einstellungen fanden sich bei nahezu einem Fünftel der Befragten, im Jahr 2105 gar bei nahezu jedem Vierten. Die Zustimmung zu neonationalsozialistischen Aussagen bewegten sich in der Zeit zwischen 2010 und 2020 zwischen sechs und zwölf Prozent.
Aufkommen und parlamentarische Verankerung der Alternative für Deutschland
Die zentrale und herausragende Veränderung für den Rechtsextremismus im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die Etablierung der Partei Alternative für Deutschland in allen Bundesländern, im Bundestag sowie im Europäischen Parlament. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hatte es Versuche der Etablierung einer Partei rechts von CDU/CSU gegeben – sei sie dezidiert nationalliberal wie der Bund Freier Bürger, deutschnational und geschichtsrevisionistisch wie die Deutsche Volksunion oder völkisch-autoritär wie die Sozialistische Reichspartei oder die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) . Einigen kurzzeitigen, meist regionalen Erfolgen zum Trotz war diesen Parteien teils aufgrund interner Streitigkeiten, teils aufgrund einer Strategie der Stigmatisierung durch Zivilgesellschaft, staatliche Kontrollinstanzen und Medien bis ins 21. Jahrhundert kein dauerhafter parlamentarischer Erfolg beschieden. Mit Blick auf den Aufstieg populistischer und extremer Parteien der Rechten in zahlreichen europäischen Ländern wurde daher hinsichtlich der Situation in Deutschland von einer 'rechtspopulistischen Lücke' gesprochen. Diese Charakterisierung verweist darauf, dass es zwar ein entsprechendes Einstellungspotential für die Wahl einer solchen Partei gibt, aber keine Partei dieses Potential umfänglich und dauerhaft in der Fläche mobilisieren konnte. So blieb das Stimmpotential zum Teil gebunden an CDU/CSU, SPD, FDP und in gewissem Ausmaß auch an PDS beziehungsweise DIE LINKE oder fand in der Wahlabstinenz einen Ausdruck. Gleichwohl sammelte sich im Spektrum der extremen Rechten ein umfangreiches Erfahrungswissen hinsichtlich der (Miss-)Erfolgsbedingungen eines solchen Parteiprojektes an.
Für den Aufstieg, die Etablierung der AfD und ihre spezifische Stärke in mehreren ostdeutschen Bundesländern sind mehrere Faktoren bedeutsam. Der Rückbau staatlicher Institutionen und Sicherungssysteme hat insbesondere im Zuge der Finanzmarktkrise in Haushalten mit niedrigen Einkommen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, aber auch bei einem wachsenden Teil der Mittelschichten zu Gefühlen der Verunsicherung und Bedrohung geführt. Das für die Nachkriegsstabilisierung der Bundesrepublik Deutschland bedeutsame Versprechen des ökonomischen und sozialen Aufstiegs hat an Überzeugungskraft verloren. Die Verunsicherungen in den Lebensverhältnissen und das Auftreten vielfältiger Kontrollverluste fallen häufig mit einem gravierenden Vertrauensverlust in die politischen Parteien zusammen und können als ursächlich mitverantwortlich für die Entwicklung bzw. Verfestigung von extrem rechts affinen Einstellungen bzw. von Wahlerfolgen extrem rechter bzw. rechtspopulistischer Parteien betrachtet werden. Dies gilt umso mehr als die drei klassischen gesellschaftspolitischen Strömungen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus/Sozialdemokratie deutlich weniger als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik konsistente Deutungs- und Orientierungsangebote hervorbringen, die zwischen dem politischen System, der realen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und den Alltags- und Lebenswelten Plausibilität herstellten. Zu dieser Entfremdung, die vielfach als das Ende der Volksparteien diskutiert wird, kommt in Ostdeutschland noch eine massive Selbstwertverletzung hinzu, die maßgeblich aus der Missachtung von Lebens- und Arbeitsleistungen in der DDR resultiert.
Insbesondere die Politikfelder Migration und Asyl sind dabei für das jüngste Erstarken des Rechtspopulismus bedeutsam. Die Vorstellung einer homogenen Gemeinschaft, die mittels Gegnerschaft gegen »die Fremden«, »die Unproduktiven« oder »die EU-Bürokraten« hergestellt wird, kann die eigenen Erfahrung der Verunsicherung, des Kontrollverlustes und der Abwertung von Biografien subjektiv abfedern. Nationalistische und autoritäre Politikangebote erscheinen als plausible Alternative zu der selbst empfundenen sozialen Ausgrenzung und entsprechenden prekären Alltagserfahrungen. In west- und ostdeutschen Bundesländern speist sich die Reproduktion rassistischer und nationalistischer Ideologiemuster aus lange tradierten stereotypisierenden und stigmatisierenden Erzählungen. Entsprechende Thematisierungen wurden vielfach durch die mediale Berichterstattung aktualisiert. Im Jahr 2010 erschien das Buch Deutschland schafft sich ab, dessen Autor – Thilo Sarrazin – in den Jahren zuvor für die SPD als Finanzsenator im Berliner Senat tätig war. Ein großes öffentliches Interesse und die mehrwöchige Popularisierung dieser offen rassistischen, an Traditionen der politischen Eugenik und der Rassenhygiene anknüpfenden Wortmeldung durch die BILD-Zeitung trugen zur Legitimierung entsprechender Sichtweisen auch in den gut situierten Mittelschichten bei. Im Herbst 2010 erklärten 18 Prozent einer vom Meinungsforschungsinstitut »Emnid« durchgeführten repräsentativen Befragung, dass sie einer »Sarrazin-Partei« ihre Stimme geben würden.
Der AfD gelang es vergleichsweise rasch, eine Stammwähler*innenschaft aufzubauen (2016: 4-5 Prozent der Befragten nach 1-2 Prozent in 2014). Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hatte die AfD mit 50 Prozent den höchsten Anteil der Anhänger*innen ohne alternative Wahlpräferenz. Zu dieser Entwicklung hat auch die Thematisierung der Krise des Migrationsregimes als 'Flüchtlingskrise' durch zahlreiche Massenmedien beigetragen , an die Rechtsaußen-Akteure vielfach mit ihrer Agitation anschließen konnten. Auch jihadistische Gewalttaten und die sexualisierte Gewalt in der Silvesternacht 2015/16 in Köln konnten von migrations- und muslimfeindlichen Akteur*innen genutzt werden. Der Rechtspopulismus der Gegenwart ist insofern auch als ein Protest gegen die selektiv wahrgenommene Unterstützung von 'Masseneinwanderung' durch die 'eigenen' politischen und kulturellen Eliten zu verstehen. Seitens der Rechtsaußen-Akteur*innen werden dabei vielfach rassistische, antimuslimische und antisemitische Verschwörungserzählungen aufgerufen, die sich aktuell in Schlagworten wie der "große Austausch" oder der "große Reset" verdichten , deren literarische Bezugspunkte jedoch meist schon weiter zurückliegen.
Die kampagnenartige Skandalisierung der Krise des Migrationsregimes als Gefahr durch Geflüchtete im Herbst 2015 hat der AfD aus dem Umfragetief geholfen, in dem sie sich im Sommer 2015 aufgrund der hart geführten innerparteilichen Kämpfe befand. Der Mitgliederparteitag in Essen im Juli 2015 führte zu einer Verschiebung zugunsten der völkisch-rassistischen Kräfte in der AfD. Dieser Radikalisierungsprozess hat sich seitdem fortgesetzt , so dass die Partei beziehungsweise einflussreiche Strömungen und Gliederungen inzwischen in zahlreichen Bundesländern bzw. im Bundesgebiet von den Nachrichtendiensten als Prüffall oder als erwiesen rechtsextrem geführt werden.
Jüngere Untersuchungen zu den Wähler*innen der AfD machen deutlich, dass die Entscheidung zur Wahl der Partei weniger auf eine objektiv schwierige ökonomische Lage zurückgeht, sondern vor allem mit der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Lebenslage korreliert, die deutlich pessimistischer ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnisse keinem Tarifvertrag unterliegen bzw. durch Befristung geprägt sind, sind deutlich eher bereit, die AfD zu wählen, als Personen in festen und tariflich gebundenen Beschäftigungsverhältnissen. AfD-Wähler*innen zeichnen sich entsprechend vielfach durch das Erleben eines Kontrollverlustes aus, der sich aus dem Gefühl des Ausgeliefertsein gegenüber technologischen Innovationen und der Abgehobenheit und des Versagens politischer Institutionen speist, etwa bezüglich der Sicherung der Staatsgrenzen gegenüber Immigration und Kriminalität. Entsprechend attraktiv kann ein Politikangebot sein, das Autoritarismus und einwanderungsfeindliche Positionen betont. Als ein zentrales Identifikationsmoment mit der Partei gilt der Rassismus. Zugleich sehen auch Personen mit mittlerer und höherer Statuslage die AfD als ihre Interessenvertretung, was mit den wirtschaftsliberalen Zielen der Partei erklärbar sein könnte. Im Zeitverlauf ist insbesondere die Krise des Migrationsregimes Mitte der 2010er-Jahre signifikant für die "deutliche Steigerung menschenverachtender Einstellungen insbesondere gegenüber Musliminnen und Muslimen sowie auch der deutliche Anstieg rechtsextremer Ideologien innerhalb der Wählerschaft der AfD". Bei der Bundestagswahl 2021 war der Anteil der Wähler*innen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild in der AfD fast viermal so hoch wie im Durchschnitt aller Wahlberechtigten. Fast jede*r dritte AfD-Wähler*in (29 Prozent) ist manifest rechtsextrem eingestellt; ein weiteres Viertel (27 Prozent) vertritt latent rechtsextreme Einstellungen.
Die AfD als Referenzsystem des Rechtsaußen-Spektrums in Deutschland
Der Wiedereinzug der AfD in den Deutschen Bundestag im September 2021 hat verdeutlicht, dass die Partei trotz mancher Rückschläge für das kommende Jahrzehnt in den Parlamenten angekommen ist. Dies gilt trotz fortgesetzter Konflikte innerhalb der Partei sowie der Schwächung der wirtschaftsliberalen Strömung, die bei der Gründung der Partei im Jahr 2013 noch dominant war. Der Aufstieg der Partei und besonders die herausragenden Wahlergebnisse in einigen ostdeutschen Bundesländern haben manche Aktivist*innen der AfD in den Jahren 2017 und 2018 schon von absoluten Mehrheiten träumen lassen.
Mit den parlamentarischen Erfolgen und dem damit verbundenen Zugewinn an materiellen Ressourcen, aber auch hinsichtlich des Zugriffs auf Informationen sowie der medialen Resonanz ist die AfD rasch zur zentralen Akteurin im Rechtsaußen-Spektrum geworden. Zentrale Printmedien dieses Spektrums wie etwa das Wochenblatt Junge Freiheit oder das Monatsmagazin Zuerst! kommentieren die Entwicklung der Partei seit Jahren intensiv, lassen ihre Vertreter*innen ausführlich zu Wort kommen und verbreiten deren Positionen. Andere Parteiprojekte – zu denken ist an die Partei Die Freiheit und die Pro-Bewegung – sind aufgrund der Erfolglosigkeit eingestellt worden. Aus dem Spektrum der extrem rechten Deutschen Burschenschaft finden sich zahlreiche Mitglieder im Apparat der AfD. Vielfältige Kontakte bestehen auch zum Institut für Staatspolitik (IfS) um Götz Kubitschek sowie zur Identitären Bewegung Deutschlands (IBD).
Im Schatten von teils medienwirksamen Aktivitäten der IBD und des IfS haben jedoch auch Vereinigungen und Organisationen der extremen Rechten ihre Tätigkeit fortgesetzt, die zum Teil bereits seit Jahrzehnten existieren. Hierzu gehören antisemitisch-völkische Gruppen wie die Artgemeinschaft oder der Bund für Gotterkenntnis – Ludendorff, aber auch die im November 1964 gegründete NPD. Diese war sowohl in Sachsen als auch in Mecklenburg-Vorpommern über zwei Legislaturperioden in den Landtagen vertreten, wurde jedoch insbesondere durch die Dominanz der AfD marginalisiert. Hatte sie bei der Bundestagswahl 2009 mit 635.525 abgegebenen Zweitstimmen noch 1,5 Prozent bekommen, so blieb davon im Jahr 2021 lediglich ein Zehntel übrig (64.574 Zweitstimmen). Zwar hat die Partei im Frühjahr 2020 die Parteizeitung Deutsche Stimme vom Zeitungsformat auf ein Magazinformat umgestellt und ist damit wieder an den Bahnhofskiosken vertreten. Finanziell hat die NPD jedoch keinerlei Spielräume mehr.
War seit dem Ende der 1990er-Jahre die NPD zeitweise zentrale Referenz für einen großen Teil der neonazistischen Szene, so hat auch hier in den 2010er-Jahren eine Veränderung stattgefunden. Hatte man im Neonazismus aus den Organisationsverboten der frühen 1990er-Jahre den Schluss gezogen, sich weniger formalisiert zu organisieren , so hat nicht zuletzt das Scheitern der beiden Verbotsverfahren gegen die NPD (2001-2003 und 2013-2017) neonazistische Akteur*innen ermutigt, erneut Parteien als Organisationsform zu nutzen. In den Parteien Die Rechte und Der III. Weg haben sich nicht nur zahlreiche Aktivist*innen aus verbotenen neonazistischen Vereinigungen zusammengefunden, sie stellen mit jeweils 500-600 Mitgliedern auch kampagnenfähige Strukturen, sind international vernetzt und sind vielfach eng verbunden mit einem zahlenmäßig deutlich größeren neonazistischen Milieu, in dem RechtsRock und Kampfsport einen hohen Stellenwert haben. Mit der Zeitschrift N.S. heute verfügt die neonazistische Szene neben zahlreichen Web-Seiten seit 2017 über eine eigene identitätsstiftende Quartalszeitschrift.
Im Zeitraum 2010 bis 2020 lässt sich insgesamt ein Aufschwung der organisierten äußersten Rechten beobachten. Dieser drückt sich einerseits in Gestalt der AfD aus, wird andererseits in Form der Entstehung bzw. Stabilisierung weiterer Netzwerke, Vereinigungen und Aktionszusammenhänge wie den völkischen Siedler*innen, der Bewegung der Reichsbürger*innen oder rechter Hooligans sichtbar.
Die Erfolge der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und – auf niedrigerem Niveau – in den 2000er-Jahren sowie der AfD seit 2013 sind nicht zuletzt durch ihren Charakter als Projekte der 'nationalen Sammlung' zu erklären. Wenn auch in der AfD heute verschiedene politische Milieus – nationalliberal, rechtskonservativ, völkisch-autoritär, fundamentalistisch-christlich und faschistisch – zusammengefunden haben, so ist deren Koexistenz zugleich fragil. Dies hat mit differenten Vorstellungen von Strategie und Taktik ebenso zu tun wie mit persönlichen Rivalitäten und Profilierungen. Programmatisch sind insbesondere Fragen außenpolitischer Orientierung sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik umstritten. Gleichwohl gibt es in der AfD und im gesamten Rechtsaußenspektrum eine weithin geteilte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung. In der entsprechenden Erzählung dominieren rassistische und kulturalistische Behauptungen einer 'Überfremdung des deutschen Volkes' durch außereuropäische Einwanderung und den Islam , das Lamento über die 'Zerstörung gewachsener Strukturen wie Familie, Volk und Nation' durch den Liberalismus bzw. 'Kulturmarxismus' sowie das nationalistische Klagen gegen die Europäische Union. In zahlreichen, nicht selten antisemitischen Varianten wird auf die vermeintlichen Drahtzieher*innen, Nutznießer*innen und Apolget*innen dieser Entwicklungen verwiesen , was regelmäßig eine denunziatorisches Sprechen über die öffentlich-rechtlichen Medien bzw. die 'Mainstream-Presse' einschließt. Als Ausweg aus der Selbstviktimisierung wird die Durchsetzung völkischer bzw. ethnopluralistischer Ordnungssysteme ebenso genannt wie die Retraditionalisierung der Geschlechter- und Familienarrangements und die Rückkehr zum System der Nationalstaaten im Gewande des Souveränismus.
Auch wenn es selbstverständlich signifikante Differenzen in der Tonalität, den historischen Referenzen, der Rigidität und Radikalität des Verschwörungsdenkens sowie den thematischen Fokussierungen gibt, sind die Schnittmengen der Weltanschauungen nicht zu übersehen, die von der neonationalsozialistischen Rechten bis hin zu nationalliberalen Kreisen um die Zeitschrift Tichys Einblick reichen. Als strömungsübergreifendes Projekt ist auch hier die AfD trotz aller internen Konflikte integrierend tätig und trägt mittels der Nutzung von Online- und Offline-Öffentlichkeiten maßgeblich zur Verbreitung der genannten Erzählungen bei.
Rassistische Massenmobilisierung und die Eskalation der Gewalt
Die gewaltsame Eskalation politischer Konflikte in Nordafrika und im Nahen Osten sowie ein weiterhin bestehendes erhebliches Wohlstandsgefälle führten seit 2014 zu einer beträchtlichen Steigerung der Zahl nach Europa Flüchtender. Dies stellte Kommunen vor ernsthafte Herausforderungen (z. B. Unterbringung, Sprachkurse). Nach einer ersten Phase des bürgerschaftlichen Engagements und der 'Willkommenskultur' bestimmten Verunsicherung und Skepsis die Antwort vieler Menschen auf die Frage, ob 'wir das schaffen'. Die extreme Rechte erlangte seit 2014 rund um die Themen Flucht, Asyl und Islam neue Mobilisierungsfähigkeit; schlagzeilenträchtige Kampagnen und Aktionen von PEGIDA und den Hooligans gegen Salafisten (HoGeSa) fanden ihre Fortsetzung in Tausenden von Versammlungen quer durch die Bundesrepublik, organisiert von Gruppen wie 'Bekenntnis für Deutschland', 'Mönchengladbach steht auf', 'Das Eichsfeld wehrt sich' oder auch 'Zukunft Heimat'. Ihre Ziele: eine restriktive Asyl- und Flüchtlingspolitik mit dem sofortigen Ende der Aufnahme von Schutzsuchenden und der Ausweisung bereits ins Land gelangter Menschen. PEGIDA schuf den Resonanzrahmen für eine sich zuspitzende rassistische Eskalationsspirale auf der Straße. Angesichts von Legitimations- und Repräsentationsdefiziten der demokratischen Parteien, die sich in manchen konservativen und sozial abgehängten Milieus zu tiefem Misstrauen gegen demokratische Strukturen und Entscheidungsprozesse verdichtet haben, verdeutlichten die Mobilisierungserfolge von PEGIDA überdies der organisierten extremen Rechten, dass sie Zustimmung weit über den Kreis der bisher von ihr erreichten Personen finden kann. Die insbesondere bei den nationalistischen und immigrationsfeindlichen Protesten in Ostdeutschland vielfach anzutreffende Bezugnahme auf '1989' soll den Aktivitäten nicht nur Legitimation verschaffen, sondern verweist auf einen weiteren Aspekt dieser Mobilisierungen: die Möglichkeit des Sturzes eines als stabil erscheinenden politischen Systems soll aufgezeigt werden.
Die 2010er-Jahre markieren auch die fortschreitende Erosion der Abgrenzung zwischen 'Wutbürger*innen' und extrem rechten Agitator*innen und Kadern, die unter Verweis auf die angebliche Notwendigkeit der 'Rettung des Abendlandes' und unter Berufung auf den 'Schutz von Volk und Heimat' zu einem 'nationalen Aufstand' mobilisieren, den sie als Notwehrhandlung rechtfertigen. Nicht zufällig formulierte der seinerzeitige Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz, als er bereits Anfang 2016 von "Pogromstimmung" sprach: "Wir steuern auf eine Situation zu, in der gewaltbereite Stimmungsmacher die Angst der Menschen bewusst nutzen, um Hysterie gegen die Asylpolitik zu schüren und Gewalt gegen die Flüchtlinge zu rechtfertigen."
In zahlreichen antimuslimischen und einwanderungsfeindlichen Blogeinträgen und Internetforen war im Sommer 2015 zu verfolgen, wie die wachsende Zahl von Geflüchteten, die nach Europa und damit zum Teil auch nach Deutschland kam, als drohende bzw. beginnende 'Apokalypse' wahrgenommen wurde. Weil rassistisches und völkisches Denken die Einwanderung und dauerhafte Anwesenheit von Eingewanderten zu einer existentiellen Frage macht, ist in ihm die Rechtfertigung für den Einsatz von Gewalt bereits angelegt. Zwar regelmäßig als 'Notwehr' verbrämt, aber keineswegs zufällig, ist die rassistisch motivierte Gewalt Mitte der 2010er-Jahre in Deutschland eskaliert. Diese Gewaltpraxis ist durch Entgrenzungen charakterisiert: Ihr Umfang ist seit 2014 um ein Vielfaches angestiegen , der Einsatz von Sprengstoffen hat zugenommen, die Gewalt richtet sich auch gegen Menschen, die von den Angreifenden als Repräsentant*innen einer liberalen Asylpolitik angesehen werden – wie die jetzige Oberbürgermeisterin der Stadt Köln Henriette Reker oder der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke. Auch der terroristische Rassismus und Antisemitismus der Attentäter von Hanau und Halle ist Teil der rechten Gewalteskalation in den 2010er-Jahren.
Rechtsruck, Polarisierung oder Mainstreaming the Extreme?
Die politische und wissenschaftliche Diskussion um die Entwicklung des Rechtsaußen-Spektrums und ihres Einflusses auf die Gesellschaft wird kontrovers geführt. Tatsächlich lohnt es sich, entlang verschiedener Dimensionen abzuschichten, welche Veränderungen sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beobachten lassen. Diese lassen sich weniger auf der Einstellungsebene konstatieren, wo widersprüchliche Entwicklungen zu beobachten sind ; vielmehr gelingt es mit der AfD erstmals nach Jahrzehnten, das rassistische und minderheitenfeindliche Einstellungspotential auf eine Partei zu fokussieren und entsprechend Wähler*innen zu gewinnen, die zuvor nicht gewählt haben oder ihre Stimme anderen Parteien gegeben haben. In der AfD sieht dieser Teil des Elektorats seine Stimme im politischen Meinungskampf.
Maßgebliche Teile der AfD sehen in einer einwanderungsfreundlichen Gesellschaft religiöser und sexueller Vielfalt eine existentielle Bedrohung, reproduzieren das in der extremen Rechten seit langem gepflegte Phantasma vom 'Volkstod' und verknüpfen krisenhafte Entwicklungen – insbesondere im Feld der Migration und der Gesundheit – mit moralischer Personalisierung und Dämonisierung – ungeachtet anderslautender empirischer Befunde. Im ausdifferenzierten Rechtsaußen-Spektrum finden sich zahlreiche Erzählungen über einen Great Reset, die allerdings unterschiedlich konkretisiert werden. Mittels der Etablierung neuer Zeitschriften – insbesondere Zuerst! (Ende 2009), Compact (seit 2010), Tichys Einblick (2014) CATO (2017), aber auch web-basierter TV-Formate – werden unterschiedliche Zielgruppen angesprochen; kaum zu überschätzen ist die Reichweite von rechten Social-Media-Plattformen und der Nutzung von Image Boards zur Verbreitung rechtsextremer, antisemitischer, misogyner und rassistischer Botschaften.
Diese Ausweitung der Agitation verbindet sich mit einer aggressiven Dynamisierung anderer politischer Handlungspraxen. Die Zahl der von Rechtsaußen-Akteur*innen durchgeführten öffentlichen Versammlungen hat ebenso zugenommen wie die Konfrontationsbereitschaft der daran Teilnehmenden. Die Radikalisierung im Zuge der Anti-Asyl-Agitation verbindet sich inzwischen vielfach mit der offen artikulierten Verachtung für etablierte demokratische Beratungs- und Entscheidungsprozesse.
Der Eintritt der AfD in die parlamentarischen Arenen hat nicht zur Mäßigung ihrer Agitation geführt. Ihre Abgeordneten wechseln zwischen den drei Strategien Opposition, Provokation und Störung ; die Einschleusung von Störer*innen durch AfD-Abgeordnete anlässlich der Beratung des Bundestags zum Infektionsschutzgesetz am 18.11.2020 war ein signifikantes Ereignis. Die deutliche Mehrzahl von Ordnungsrufen richtet sich gegen AfD-Abgeordnete, wobei manch offen sexistische Invektive gar nicht sanktioniert wird. So hat sich die Atmosphäre im Deutschen Bundestag zugunsten offen sexistischen Dominanzverhaltens verschoben.
Mitte der 2010er-Jahre ist es im Fluchtdiskurs zu Verschiebungen und Einengungen des Sagbarkeitsfeldes gekommen, die grosso modo nicht mehr die Schutzbedürftigkeit der Geflüchteten in den Mittelpunkt stellten, sondern den Schutz vor den Geflüchteten betonten und entsprechende Maßnahmen wie die Einführung von Obergrenzen, die Verstärkung des Grenzregimes oder die Abwendung von einer Politik der 'Gutmenschen' einforderten. Die AfD hat gemeinsam mit außerparlamentarischen Akteur*innen der extremen Rechten wie der IBD oder eher regional tätigen Vereinigungen versucht, die demokratischen Parteien hinsichtlich der Migrations- und Asylpolitik unter Druck zu setzen. Dies gelang im Anschluss an die Krise des Migrationsregimes in den Jahren 2015/6 auch, so dass auch die übrigen Parteien sich verstärkt diesem Thema zuwandten und insbesondere FDP und CSU flucht- und migrationsrestriktivere Haltungen einnahmen. Mittelfristig ist es allerdings kaum zu grundlegenden Veränderungen der parteipolitischen Positionierungen gekommen.
Dies bedeutet nicht, dass die politische Tätigkeit der AfD wirkungslos geblieben ist. Sie hat als ressourcenstarke Akteurin mit ihrer Agitation dazu beigetragen, insbesondere die gesellschaftliche Debatte um Migration und Flucht zuzuspitzen. Projekte, die sich einer menschenrechtsorientierten Asylpolitik verschrieben haben, für sexuelle Vielfalt und Selbstbestimmung eintreten oder Räume für emanzipatorische Jugendarbeit bereitstellen, sind dezidiert zur Zielscheibe politischer Angriffe seitens der AfD und anderer extrem rechter Akteur*innen geworden. Dabei wurde vielfach der Vorwurf des Linksextremismus benutzt, um Projekte und Aktivitäten zu denunzieren und ihnen Ressourcen (Gelder, Räume, Personal) zu entziehen. Entlang von Referenzbegriffen wie 'Meinungsfreiheit' und 'Neutralität' rief die AfD zur Denunziation unliebsamer Lehrkräfte auf und forderte Eingriffe in den Kulturbetrieb, weil man die vielfach erreichte Diversität der Perspektiven als Gefahr begreift. Mancherorts wurde Forderungen nach Absetzung von Theaterstücken auch mit Störung der Aufführung Nachdruck verliehen. Die große Bandbreite solcher Aktivitäten, deren Wirkung noch durch den kampagnenartigen Einsatz von Social Media vervielfacht wird, trägt zu einem Klima der Verunsicherung und Einschüchterung demokratischer Akteur*innen bei. Das ist – neben dem Entzug von Ressourcen und der Delegitimierung der Projekte und Aktivitäten – das Ziel des Rechtsaußen-Spektrums. Nicht zuletzt ihr aggressives Auftreten und die Praxis der (Androhung von) Gewalt von Teilen dieses Spektrums haben entsprechende Wirkungen gezeigt.
Angesichts der Entstehung der völkisch-nationalistischen Massenbewegung und ihrer vielfältigen Artikulationen und Erfolge außerhalb und innerhalb der Parlamente hat sich im Rechtsaußen-Spektrum zeitweise ein historischer Optimismus entwickelt, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung im Sinne der Herstellung von Homogenität und 'Reinheit' durch den Ausschluss des/der 'Fremden' herbeiführen zu können. Inzwischen hat sich nicht zuletzt angesichts der regional differenzierten Wahlerfolge der AfD eine Diskussion innerhalb der extremen Rechten entwickelt, ob die Konzentration der Kräfte auf die ostdeutschen Bundesländer die aktuelle strategische Orientierung sein müsse. Auch aus neonazistischen Hochburgen im Westen der Bundesrepublik ziehen Kader nach Ostdeutschland um.
Welche Entwicklungen das Rechtsaußen-Spektrum in den 2020er-Jahren nehmen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Kaum jemand hätte jedenfalls im Jahr 2010 den Aufstieg der AfD vorhergesagt. Sie steht allerdings für ein Jahrzehnt der Organisierung extrem rechter und minderheitenfeindlicher Einstellungen sowie der Einschüchterung und Bedrohung demokratischer und emanzipatorischer Projekte und Akteur*innen. Der Zeitraum 2010 bis 2020 hat das Rechtsaußen-Spektrum mit erheblichen zusätzlichen Ressourcen versorgt, zu einer Ausdifferenzierung und Festigung seiner Strukturen geführt sowie zur Dynamisierung der Aktionen beigetragen. Für eine Gesellschaft der Gleichen und der Vielen hat sich die Gefahr von rechts vergrößert.