Bejubelte Inszenierung?
Lässt sich aus den im Privaten entstandenen Protokollen individueller Erlebnisse ein Muster ableiten, das den unbedingten Konformitätswillen der deutschen Bevölkerung ab 1933 offenbart? Würden sich die Jubelschreie bei den Aufmärschen und die begeisterte Affirmation des Führerkults auch in diesen Quellen wiederfinden? Steuwer kommt in seiner Untersuchung zu einem differenzierten Bild: Besonders in den Tagebucheinträgen, die zu Beginn des NS-Regimes entstanden, fand der Historiker durchaus Ablehnung gegenüber der medial inszenierten Propaganda. Eine Frau aus dem Ruhrgebiet etwa konnte 1933 noch nicht "rückhaltlos glauben" – die aggressive Kommunikation löste bei ihr zunächst eher Irritation aus. Die intendierten Botschaften schienen also nicht überall direkt auf fruchtbaren Boden zu fallen. So wird Hitler in seinen Reden als “Metzger“ oder “Raufbold“ wahrgenommen, sein "wüstes Schimpfen" sei abstoßend.
Die Radikalisierung setzt sich durch
Sind diese Tagebucheinträge also Indizien für eine bisher verborgene Form des Widerstands gegen die nationalsozialistische Propaganda und der durch sie transportierten Normen? Nein, sagt Steuwer, denn auch in den Tagebucheinträgen von 1933 bis 1939 sei ein Radikalisierungsprozess wahrzunehmen. Je näher der Kriegsbeginn rückte, desto bereitwilliger schlossen sich die Menschen den Normsetzungen des Regimes an.
Erfolgreiches Agenda-Setting
Diejenigen, die zunächst noch Vorbehalte hatten gegenüber der Art und Weise, wie die NS-Ideologie vorgetragen wurde, "waren keine Gegner des Regimes oder gar Widerständler", so Steuwer. Denn selbst wenn das Wie der Ideologievermittlung Ablehnung hervorrief, war die Propaganda darin erfolgreich, Themen zu setzen. Resultat dieses erfolgreichen Agenda-Settings sei nicht zuletzt die Tatsache gewesen, dass die deutsche Mehrheitsbevölkerung nicht mehr hinterfragte, dass es ein "Judenproblem" in Deutschland gegeben habe. Außerdem lassen sich laut Steuwer aus den frühen Zeugnissen der Abwehr gegen die NS-Propaganda keine Schlüsse ziehen auf das tatsächliche Verhalten der Autorinnen und Autoren der Tagebücher. Einstellungen und Verhalten seien so stark voneinander entkoppelt, dass ablehnende Äußerungen in Tagebüchern selten in gelebte, aktive Opposition mündeten.
Nicht identisch: Einstellungen und Verhalten
An diesem Punkt berührt sich Steuwers Referat mit dem Vortrag von Hanna Krasnova, die an der Humboldt-Universität zu Berlin Nutzungsgewohnheiten von Facebook-Usern erforscht. Durch quantitative Befragungen stellte sie fest, dass auch innerhalb des Massenmediums Internet keine direkte Beziehung zwischen Einstellungen und Verhalten besteht.
Sie fragte Facebook-User unter anderem nach deren Einstellungen zum Datenschutz-Problem von Facebook. Es stellte sich heraus, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer sehr wohl der "Privacy"-Mängel von Facebook bewusst sind. Dies ändere jedoch wenig bis gar nichts am Nutzungsverhalten der User. Weiterhin seien sie freiwillig dazu bereit, enorme Mengen an persönlichen Daten preiszugeben. Die "benefits" der sozialen Interaktion auf Facebook scheinen in der Nutzenkalkulation immer noch den Kontrollverlust über die eigenen Daten zu übersteigen.
Ein Videointerview mit Janosch Steuwer finden Sie