"Wie konnten sie nur?" lautet die Frage, die man sich retrospektiv stellt, wenn es um das "Mitmachen", den Dienst für den Nationalsozialismus geht. Um diese zentrale Frage hinreichend beantworten zu können, müsse man die damalige Alltagsrealität rekonstruieren, so Dr. Elissa Mailänder vom Centre d'Histoire de Sciences Po Paris. Mailänder skizziert in ihrem Vortrag "Alte Kameradinnen: das Erlebnisangebot des Nationalsozialismus für junge Ostmärkerinnen" die Lebensläufe einer KZ-Aufseherin, einer Krankenschwester des nationalsozialistischen Vereins Lebensborn und einer Führerin des Reichsarbeitsdienstes, um zu verdeutlichen, wieso der Nationalsozialismus für junge Frauen aus der "Ostmark" so attraktiv war. ("Ostmark" bezeichnete das Gebiet Österreichs nach dem Anschluss an das Deutsche Reich von 1938.)
Die Karriere der Hermine Braunsteiner
Mailänder erzählt unter anderem von Hermine Braunsteiner, jüngstes Kind einer Wäscherin und eines Chauffeurs aus Wien. Als der Vater stirbt, muss die 15-Jährige ohne eine Ausbildung als Hausmädchen arbeiten, es folgen ermüdende und anstrengende Tätigkeiten in einer Fabrik. In Deutschland erfährt sie, dass das neu eingerichtete Konzentrationslager für Frauen in Ravensbrück junge Aufseherinnen sucht. Ein anständiges Gehalt und eine höhere Stellung klingen verlockend: "Braunsteiner gehörte zu den Aufseherinnen der ersten Stunde", berichtet Mailänder. Sie machte Karriere im KZ Majdanek und als Leiterin des Nebenlagers Genthin. Die 1981 zu lebenslanger Haft verurteilte Braunsteiner galt als äußerst brutale Frau.
Perspektiven, Macht, Freiheit
Welche Anziehungskraft hatte das "Mitmachangebot" des Nationalsozialismus auf junge "Ostmärkerinnen" wie Braunsteiner? Gerade für die jungen Frauen aus Österreich habe das NS-Regime attraktive Chancen geboten: einen Beruf mit sozialem Ansehen und finanzielle Unabhängigkeit. "Sie suchten die Gelegenheit des sozialen Aufstieges und nahmen sie wahr", sagt Mailänder. Nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland im Jahr 1938 seien die Frauen in Berührung gekommen mit dem Nationalsozialismus. Mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter habe der NS-Dienst ihnen neben Berufsperspektiven und finanzieller Eigenständigkeit auch eine sexuelle Freiheit geboten, die sie im ständestaatlichen, klerikalen Österreich so nicht gekannt hatten.
Uniformen und Architektur als Gemeinschaftssymbole
Die Erfahrungen gemeinsam ausgelebter Macht machten die "Ostmärkerinnen" im Deutschen Reich zu Gleichgesinnten. Eine Rolle spielten laut Mailänder dabei auch die Berufsuniformen der Frauen, zum Beispiel der KZ-Aufseherin Braunsteiner und ihrer Kolleginnen: "Uniformierte Körper gaben den Trägerinnen das Gefühl einer in sich geschlossenen Gemeinschaft", erläutert die Wissenschaftlerin anhand von Fotografien. Die Uniform war eine "sichtbare und symbolische Trennlinie" zwischen den Zugehörigen der Staatsmacht und den ihnen Untergeordneten. Strukturierungen und Reglementierungen wie das Tragen einheitlicher Uniformen stellten also nicht bloß Zwänge und Verpflichtungen für die Frauen dar, sondern auch Rechte und Machtbefugnisse.
Zum Abschluss ihres Vortrags zeigt Mailänder, wie die konstituierten Gemeinschaften der Frauen im Dienst für den Nationalsozialismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterlebten: In Dokumenten und Korrespondenzen sei die Suche nach den toten Verlobten und Angehörigen zur Gemeinschaftssache geworden, man selbst habe sich als Opfergemeinschaft in Trauer um die Toten und Vermissten verstanden. Dies schweißte österreichische und deutsche "Mitmacher" noch Jahre nach Kriegsende zu einem "Wir" zusammen, so Mailänder.
Eine Videointerview mit Elissa Mailänder finden Sie