Es ist die Geschichte des kleinen Mädchens Inge, das sich weigert, zu einem jüdischen Arzt zu gehen. Viele ihrer Freundinnen im Bund deutscher Mädel hätten berichtet, dass man von dort mit noch schlimmeren Krankheiten zurück käme. Inges Mutter kann das Verhalten ihrer Tochter zunächst nicht verstehen. Doch als diese wenig später schockiert aus der Praxis zurückkommt, ist auch die Mutter empört: Geschrei sei aus dem Untersuchungsraum zu hören gewesen, der jüdische Arzt habe das Gesicht des Teufels, eine stark gekrümmte Nase und kriminelle Augen, die sagten: "Jetzt hab ich dich!"
Emotionen gegen Juden
Mit einer Bildergeschichte aus dem Kinderbuch "Der Giftpilz" beginnt
Jensen illustriert seine These, dass antisemitische Bilder und Texte in der NS-Diktatur gezielt Emotionen gegen Juden wecken wollten – was Nicht-Juden gleichzeitig zu einer emotionalen Gemeinschaft machte. Bücher wie "Der Giftpilz" seien nicht auf eine plumpe Art und Weise antisemitisch; die bekannte Moral von der Geschichte trete sogar eher in den Hintergrund. Kinder sollten durch lebensnahe Situationen – wie dem Besuch beim jüdischen Arzt – eigene Emotionen entwickeln und selbst darauf kommen, dass etwas nicht stimmt. Hierzu dienten zum Beispiel die Physiognomie des abgebildeten jüdischen Kinderarztes, verstärkt durch die Bildunterschrift: "Hinter den Brillengläsern funkeln zwei Verbrecheraugen und um die wulstigen Lippen spielt ein Grinsen." Solche Bilder will Jensen nicht als plumpe Propaganda abtun, vielmehr handele es sich dabei um ein "mimetisches Erzeugen von Emotionen", so der Wissenschaftler.
Emotionale Inseln für Nicht-Juden
Doch warum sollte sich Geschichtswissenschaft mit Emotionen beschäftigen? Das sei allein Aufgabengebiet der Psychologen, wurde in der an den Vortrag anschließenden Diskussion aus dem Publikum kritisch angemerkt: "Emotionen erlernt man nicht, die sind da." Jensen aber hält es mit dem Soziologen Pierre Bourdieu: "Unsere Emotionen sind Teil unseres sozialen Habitus." Demnach prägen Sozialisierung und Geschichte, wie Emotionen von Menschen codiert werden. Und das gebe Anlass, die Gemeinschaftsbildung durch Emotionen in der Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen.
Das bewusste Auslösen von Emotionen führte nach Jensen auch dazu, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Gesellschaftsmitgliedern zunächst gelockert und dann zerstört werden konnten und in Hass umschlugen. Schließlich gab es zuvor viele Freundschaften und Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden. Es habe eine emotionale, sukzessive Zerstörung von Beziehungen stattgefunden, nicht bloß eine abstrakte Ausgrenzung von Juden, sagt Jensen: "Parallel zur und verbunden mit der Gesetzgebung kam es zu einer emotionalen Entfremdung zwischen Juden und Nicht-Juden." Das Fazit des Wissenschaftler: Antisemitismus entstand in der frühen NS-Gesellschaft auch durch die Bildung "emotionaler Inseln" für Nicht-Juden.
Ein Videointerview mit Uffa Jensen finden Sie