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Was muss sich nach der „Zeitenwende“ ändern? Zum Platz Ost-/Ostmitteleuropas auf der historisch-kulturellen Landkarte

Frankfurt/Oder Europa-Universität Viadrina Kulturwissenschaftliche Fakultät Clara Frysztacka

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Spätestens seit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 ist die Idee einer „Zeitenwende“ allgegenwärtig. Von diesem Moment an war der Begriff aber auch durch eine doppelte Diskrepanz zwischen Formulierung und Bedeutung geprägt. Einerseits, und anders als das, was der Singular „Wende“ suggeriert, schwingen in seinem Gebrauch zwei „Wenden“ mit: eine erste, die der Kanzler infolge des brutalen Angriffs Russlands auf die Ukraine in den europäischen und globalen Machtbalancen konstatierte; und eine zweite, die aufgrund der ersten u.a. bei der deutschen Perspektive auf ihre ukrainischen, polnischen oder baltischen Nachbarn aktiv bewirkt werden soll. Andererseits täuscht auch die Verwendung des Wortes „Zeiten“ im Plural: Beide „Wenden“ beziehen sich auf die gleiche „Zeit“, bzw. die Tage, Wochen, Monate und bald Jahre nach dem 24. Februar 2022.

Wenn aber die Zeit nach dem Kriegsausbruch, wirklich zu einer neuen Epoche im Sinne der hier postulierten zweiten Wende wird, soll der Plural „Zeiten“ viel ernster genommen werden und eine kritische Auseinandersetzung mit den asymmetrischen West-Ost-Verhältnissen erfolgen, die aus der Idee von einer einzigen Zeit in der Moderne entspringen. Denn die Asymmetrien zwischen Ost- und Westeuropa haben viel mit der modernen Vorstellung zu tun, die Geschichte der Menschheit ließe sich als einen einheitlichen, nach vorne gerichteten Zeitpfeil denken, auf dem Europa mit Westeuropa gleichgesetzt wird und sich an der Spitze befindet, während Osteuropa in einer Nachzüglerposition steht. Eine Veränderung der deutschen Perspektive auf die ostmitteleuropäischen Gesellschaften funktioniert nur durch eine radikale Hinterfragung dieser Vorstellung. Anstatt als hierarchisch angeordnete Punkte auf einer Zeitlinie sollte eine wirkliche Zeitenwende bewirken, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des europäischen Kontinentes in Termini der Vielfältigkeit der asynchronen, aber gleichwertigen und miteinander verflochtenen europäischen Zeiten neu gedacht werden.

Ein historischer Blick auf die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Stellung Osteuropas in Europa und gegenüber Westeuropa am Beispiel Polens ermöglicht, die Entstehung dieser zeitlichen Hierarchien und das Plädoyer für die Pluralisierung der Zeiten besser zu verstehen. „Europa“ begann erst im 17. Jahrhundert als wichtiger Bezugspunkt der kollektiven Identifikation zu fungieren. Damals artikulierte die polnisch-litauische Adelsrepublik ihre Zugehörigkeit zu Europa durch die sich selbst zugeschriebene Rolle als Bollwerk des westlichen Christentums, bzw. als Schutzwall Süd- und Westeuropas gegen das Vorrücken erst der Osmanen und dann des Zarenreiches. Die Figur der „antemurale christianitatis“ war zutiefst ambivalent, denn sie verortete Polen-Litauen zugleich an der räumlichen Peripherie sowie am zivilisatorischen Zentrum Europas. Dennoch, und indem sie eindeutige Feindbilder – nämlich die muslimische und orthodoxe Welt – definierte, sicherte sie den europäischen Charakter des polnisch-litauischen Staates und propagierte die Vorstellung, er würde eine Kernfunktion für Europa erfüllen.

Das änderte sich in den folgenden Jahrhunderten. Larry Wolff führt die „Erfindung Osteuropas“ auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Nach ihm hat der Gedanke der Aufklärung die moderne mental map Europas – die Art und Weise, wie der europäische Raum in der Moderne imaginiert und in (Macht-)Verhältnis zu anderen Räumen gesetzt wurde – geschaffen und legitimiert. In dieser aufklärerischen, kognitiven Geografie galt Europa einerseits in seiner Gesamtheit als Ort der Zivilisation, der eine vorgerücktere Position in der Zeit gegenüber dem Rest der Welt okkupierte. Andererseits wurde aber der europäische Kontinent selbst durch die Kategorie Zeit differenziert. Während die westeuropäischen Länder, vor allem Frankreich und England, die neue Idee des historischen Fortschritts verkörperten, wurden die Gebiete der polnisch-litauischen Adelsrepublik, der böhmischen und ungarischen Länder unter habsburgischer Herrschaft bis hin zu jenen des zarischen Russlands das erste Mal im Begriff Osteuropa zusammengefasst. Der neue Begriff bezeichnete eine Raumeinheit, die durch ihre Rückständigkeit in der historischen Entwicklung gegenüber Westeuropa gekennzeichnet wurde.

Jenseits der sehr berechtigten Kritik an der Periodisierung Wolffs (nach Hans Lemberg zum Beispiel entstand der Osteuropabegriff erst nach den napoleonischen Kriegen) und an seiner einseitigen, ausschließlich westlichen Betrachtung der Erfindung Osteuropas, lassen sich zwei Aspekte festhalten. Erstens diente spätestens im 19. Jahrhundert die Kategorie Zeit dazu, die moderne Weltordnung zu strukturieren, in der Europa als einziger Träger der Moderne eine hegemoniale Stellung in Bezug auf den Rest der Welt innehatte. Zweitens bildete die Vorstellung dieser Weltordnung nicht nur die Grundlage des europäischen Kolonialismus gegenüber den anderen Kontinenten, sondern auch der Beziehungen innerhalb des europäischen Kontinents. In der Tat indizierte der neue Begriff Osteuropa eine Position noch auf dem Weg zur Moderne aber noch nicht vollkommen modern, die sich mit der Lage politischer Abhängigkeit meistens osteuropäischer Gebiete während des 19. Jahrhunderts im Rahmen der imperialen Konstellationen (Habsburgerreich, Zarenreich, Osmanisches Reich, Deutsches Reich) deckte.

Obwohl die Positionen der europäischen Übersee-Kolonien und Osteuropas in ihrem vormodernen, politisch-abhängigen und „epigonalen“ – bzw. nachahmenden – Charakter (Manuela Boatcă) gegenüber Westeuropa auf den ersten Blick identisch erscheinen, so können wieder am Beispiel Polens die Besonderheiten der Stellung Osteuropas aufgezeigt werden. Im langen 19. Jahrhundert war Polen-Litauen aus der politischen Landkarte Europas verschwunden, geteilt zwischen Preußen, Russland und dem Habsburgerreich. Spätestens die Erfahrung der Teilungen machte die Überzeugung, Polen sei der Schutzwall der westeuropäischen Staaten und somit von existentieller Bedeutung für Europa, obsolet. Hingegen vermehrten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Stimmen polnischer Historiker*innen, die u.a. die Schutzmauer-Rolle als Indikator dafür sahen, dass Polen ab dem 16./17. Jahrhundert einen nicht zeitgemäßen Sonderweg im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten eingeschlagen habe, die zur Auflösung des polnischen Staates unter fremder imperialer Herrschaft führte.

Diese Stimmen weisen paradigmatisch darauf hin, dass die Vorstellung von der Verspätung Osteuropas gegenüber Westeuropa bei der Erreichung der Moderne (genau wie diejenige über die westeuropäische Modernität) nicht nur als Produkt des westeuropäischen Denkens, sondern als Verschränkung zwischen osteuropäischen Selbstverständnissen und westeuropäischen Perspektiven aufgefasst werden soll. Darüber hinaus zeugen sie auch davon, dass es sich um die Vorstellung einer nur relativen Verspätung handelt, das bedeutet, dass die historischen Entwicklungen Osteuropas und Westeuropas ein Stück weit in der Geschichte synchron liefen und die Rückständigkeit, die Osteuropa später akkumulierte, daher ohne zu große Hürden nachgeholt werden könnte. Während Europa seine asiatischen oder afrikanischen Kolonien als minderwertige Andere bzw. als Negativfolie zu sich selbst imaginierte, lässt sich daher die Beziehung Osteuropas zu Europa mit dem Begriff einer „unvollständigen“ Zugehörigkeit (Maria Todorova) definieren. So verstanden hat die Beziehung ihre Wirksamkeit bis in die Gegenwart beibehalten, zum Beispiel in den Diskursen über die langsame Rückkehr der ehemaligen Ostblockstaaten zu Europa nach dem Mauerfall oder über die schrittweise Europäisierung der Ukraine nach dem Euro-Maidan. Beide Diskurse zeigen, dass seit zwei Jahrhunderten Europa für Osteuropa nicht die eigene geografische Lage ist, sondern ein durchaus erreichbares (aber noch nicht vollständig erreichtes) Ziel in der Zeit.

Die weitere wesentliche Eigenschaft der Position Osteuropas in der modernen Weltordnung und gegenüber Westeuropa besteht in ihrer Ambivalenz. Nimmt man wieder Polen als Beispiel, so befanden sich die drei polnischen Teilungsgebiete in sehr verschiedenen Lagen innerhalb der Imperien, die sie eingegliedert hatten. Sowohl Galizien (die Region mit Krakau und Lemberg unter habsburgischer Herrschaft) als auch das Großherzogtum Posen (im Deutschen Reich) wurden von den imperialen Zentren jeweils in Wien und Berlin als rückständig wahrgenommen. Dennoch verwandelte sich Galizien durch die Autonomie in ein Zentrum polnischer Kultur, das ein westeuropäisches Selbstverständnis als modern, und deswegen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung überlegen, pflegte. Gleichzeitig entwickelte die polnische Gesellschaft in der Posener Provinz Formen der Selbstorganisation, die die deutsche Autorität in der Region ständig hinterfragte. Schließlich wurde das Königreich Polen mit der ehemaligen Hauptstadt Warschau nach dem polnischen Aufstand 1863 einer sehr starken Repression und Russifizierungspolitik ausgesetzt. Die Warschauer Intelligenz empfand sich aber als definitiv moderner im Vergleich zum russischen imperialen Machtzentrum und hegte eigene Herrschaftsansprüche an das ehemalig verbündete Litauen. Die (Selbst-)Verortung Osteuropas in Bezug auf die Moderne lässt sich daher nicht eindeutig mit Rückständigkeit und politischer Unterordnung fassen, sondern muss auch Modernitäts- und Dominanzansprüche gegenüber anderen einbeziehen.

Wie lassen sich die hier gezeigten zeitlichen Muster, wie über Osteuropa von Westeuropa aus sowie in Osteuropa selbst in den letzten zwei Jahrhunderten gedacht wurde und wird, überwinden? Der erste Schritt besteht darin, uns des zeitlichen Rasters der Moderne, das unseren Blick auf den europäischen Kontinent in seinen verschiedenen Teilen prägt, bewusst zu werden. Zweitens brauchen wir ein anderes Verständnis von Zeit, nämlich nicht mehr als eine Linie, die von Westeuropa angeführt wird und die osteuropäischen Gesellschaften hinter sich auf dem Weg zur Moderne bzw. zu Europa einordnet. Stattdessen soll gerade die grundlegende Asynchronie der vielen verschiedenen historischen Entwicklungspfade, die die Geschichte des Kontinentes sowohl in Osten als auch in Westen charakterisieren, als Kern Europas erkannt werden. Gehen wir von der Vorstellung aus, dass Europa nicht aus einer einzigen Moderne, sondern aus „multiplen Zeiten“ (Helge Jordheim) gemacht ist, die in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, dann lösen sich die Ideen Osteuropas und Westeuropas als asymmetrische Positionen in der Zeit auf und ost- und westeuropäische Gesellschaften können gemeinsam in einem neuen, nicht mehr von den Machtgefällen der Moderne geprägten Europabegriff erfasst werden. Erst dann können wir wirklich über „Zeitenwende“ sprechen.

Fussnoten

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