30 Jahre sind vergangen, seit die Menschen in der DDR auf die Straße gegangen sind, um für ihre Grundrechte, für Meinungs-, Pressefreiheit und eine allgemeine Veränderung in der Gesellschaft zu demonstrieren. „Wir sind das Volk“ war der Slogan der Stunde, der Satz, der den Willen zum Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung ausdrückte.
Und der Fall der Mauer kam: Am 9. November 1989 wurde das Unmögliche möglich: Die Fahrt nach Westberlin ohne Anträge über Anträge stellen zu müssen, die Möglichkeit der Teilhabe am Wohlstandsmodell der BRD. In einer Gesellschaft, die von einem Gefühl des Stillstandes geprägt war, schien plötzlich alles möglich – Hoffnung breitete sich aus, das westliche Leben, das utopisch schien, war plötzlich nicht mehr unerreichbar. Verlust einer Utopie
Rückblickend gibt es aber einige VerliererInnen der friedlichen Revolution, etwa jene, die durch die Privatisierung der Betriebe arbeitslos wurden. Im Grunde entwickelte sich von da an eine politische Unzufriedenheit, die derzeit eine Art Höhepunkt erlebt. Mit dem Satz „Wir sind das Volk“ wird auch heute Wut auf Regierende ausgedrückt, wenn jeden Montag in Dresden einige hundert Demonstranten bei Pegida oder seinen Ablegern mitlaufen. Dabei soll der Montag bewusst an die friedlichen Demonstrationen von damals erinnern. Die Verwendung des Satzes „Wir sind das Volk“, der im kollektiven Gedächtnis untrennbar mit der Friedlichen Revolution verbunden ist, ist von außen betrachtet höchst fragwürdig, zeigt aber gleichzeitig, dass offensichtlich noch einige Debatten zur Aufarbeitung dieser Zeit zu führen sind.
Denn die Menschen, die bei Pegida mitlaufen, haben häufig einen großen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht und sich in einem vollkommen anderen Land eine Existenz aufgebaut. Die Wiedervereinigung wurde innerhalb kürzester Zeit vollzogen – ein Jahr hat es gedauert, bis der Geltungsbereich des Grundgesetzes auf die DDR ausgeweitet wurde und ein Transformationsprozess die Industriegesellschaft der DDR umwandelte.
Verpasste Chance?
Für einige ging es nicht schnell genug, andere sahen den Prozess der Wiedervereinigung durchaus kritisch, kamen aber nicht ausreichend zu Wort. Heute kritisiert die Kultursoziologin Dr. Yana Milev vor allem, dass es für die Bürger der DDR keine direkte Möglichkeit zur Mitsprache, keine Referenden gab, welche ihnen die Gelegenheit gegeben hätte, an der Wiedervereinigung aktiv mitzuwirken. Und das wirke nach, äußere sich in politischer Unzufriedenheit und darin, dass ein bestimmter Teil der Gesellschaft den Satz „Wir sind das Volk“ nun für sich reklamiert. Die mentale Wiedervereinigung scheint auch nach 30 Jahren nicht vollendet zu sein, sind Begriffe wie „Ossi“ und „Wessi“ doch immer noch allgegenwärtig und klischeebehaftet.
Das ist jedoch auch nicht wirklich verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es bis heute keine breite gesellschaftliche Debatte um die Aufarbeitung der Wiedervereinigung und der Wende gab. Stattdessen spielen rechte Parteien und Bewegungen mit den Gefühlen und Bedürfnissen der Menschen in den Bundesländern der ehemaligen DDR und sind damit erschreckenderweise und beeindruckend zugleich erfolgreich.
Was nun?
Ein Problem besteht darin, dass der dringend benötigte Diskurs über die Friedliche Revolution bisher vor allem in wissenschaftlichen Kreisen stattfindet. Dort verliert man sich in Kleinigkeiten wie etwa den richtigen Begrifflichkeiten – Kann man von einem Anschluss der DDR an die BRD sprechen, wo das Wort „Anschluss“ doch vor allem mit dem Anschluss Österreichs 1938 assoziiert wird? Kann man von einem Demütigungsprozess reden, oder handelt es sich bei Privatisierung der DDR-Betriebe durch die westdeutsche Treuhand um eine Enttäuschungsdynamik, frei nach dem Motto „so habe ich mir das aber nicht vorgestellt“?
Sicher sind das Debatten, die geführt werden müssen, weil sie wissenschaftlich relevant sind. Sie sind aber eben nichts alles. Vielleicht ist es an der Zeit, nicht mehr über „den Osten“ zu reden und dabei zu pauschalisieren, denn in der ehemaligen DDR ist die Gesellschaft ähnlich vielfältig wie im Rest des Landes. Es braucht eine sachliche Debatte über das, was beim Prozess der Wiedervereinigung schief ging, um die Brucherfahrung, die 1989/90 mit sich brachte, zu verarbeiten und gesellschaftlich sowie persönlich zu überwinden.