Wo anfangen und wo aufhören, wenn es um Emotionen bei gesellschaftlichen Segregationen geht? Was hält eine Gesellschaft emotional zusammen? Zu Beginn der anderthalbstündigen Veranstaltung bekommen die Referierenden jeweils sieben Minuten, um ihren Standpunkt zu diesen Fragen darzustellen. Sieben Minuten, die, wie man merkt, bei so einem komplexen Thema schwer einzuhalten sind. Am präsentesten ist das deutsche Paradebeispiel für gesellschaftlichen Umbruch – die Wende und die Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland.
Die Nachwendezeit: eine hochemotionale Situation
Den Anfang macht SPD-Politikerin Petra Köpping, seit 2014 Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration. Sie erinnert an die PEGIDA-Aufmärsche im selbigen Jahr und an die Ankunft vieler Geflüchteter, die 2015 folgte. „Ich habe Tausende von Gesprächen geführt mit aufgebrachten und wutgeladenen Bürgern“, erzählt sie. Da habe sie erst gemerkt, dass Integration mehr bedeute als Flüchtlingspolitik. Es bedeute vor allem auch Integration des Ostens in die Bundesrepublik. „Die Ostdeutschen wissen, was Veränderung heißt. Ihre Probleme sind real und müssen gelöst werden.“ In der Nachwendezeit seien viele Gefühle aufgekommen, wie Vernachlässigung oder ein Gefühl des Übergangenwerdens. Diese Gefühle seien bei der Ankunft von Geflüchteten neu und verstärkt hervorgerufen worden.
Auch Michael Lühmann, Historiker und Politologe am Göttinger Institut für Demokratieforschung, setzt seinen Schwerpunkt auf die DDR-Geschichte und ihre Folgen. Der gebürtige Leipziger hatte seine Heimat lange hinter sich gelassen - „und dann kam Pegida“. Er habe sich gefragt, was da bloß los sei in Dresden, in Sachsen, in Ostdeutschland „auch angesichts der immensen AfD Erfolge“. Zentrales Problem ist seiner Meinung nach die Opferrolle, die der Osten seit der Wende einnehme. „Der Ossi“ fühle sich überrannt und benachteiligt, teilweise zurecht. Unschuldig sei er an den Entwicklungen im Osten aber nicht, es seien zu hohe Erwartungen vor und nach 1989 gehegt worden. Dies habe auch zu der besonders aufgeladenen Emotionalität in Ostdeutschland geführt. Er schlussfolgert: „Wir müssen ehrlich sein und vom Opferdasein wegkommen.“
Migration und Magie
Einen Blick von außerhalb bringt Prof. Dr. Paul Scheffer ein, Soziologe an der Universität in Amsterdam und Tilburg. Das Erstarken populistischer Parteien sei in Europa schon lange zu beobachten. Er plädiert für mehr Zusammenarbeit in der EU, sowohl in der Migrationspolitik, wie auch um den eigenen BürgerInnen mehr Unterstützung im Umgang mit Herausforderungen von Migration zu bieten. Denn wenn liberale Stimmen keine Lösung anböten, würden autoritäre ihre Antworten präsentieren, und das erfolgreich.
Den Schluss bildet Dr. Jonas Rees, Sozialpsychologe an der Universität Bielefeld. Seine Leitthese bedient sich der Zauberkunst: „Tritt nie vor einem Publikum auf, das deine Tricks nicht sehen will“. Es habe immer schon menschenfeindliche Einstellungen in der deutschen Gesellschaft gegeben, welche aber „leise gedreht“ und nicht öffentlich besprochen wurden. Rees bittet die Anwesenden sich die Wartehalle eines Flughafens vorzustellen. Dort herrsche allgemeine Nervosität, und gelegentlich stellt sich jemand zum Boarding an, obwohl es keinen Aufruf gab: demjenigen folgen andere und es bildet sich eine Schlange. Diese Metapher lässt sich auf die gesellschaftliche Polarisierung übertragen. So könnte man zu dem Schluss kommen, dass Menschen auf die Handlungen anderer reagieren, diese nachahmen. Für sein Plädoyer folgert Rees: Wir brauchen mehr Vorbilder, die sich einerseits anstellen und häufiger aufstehen. „Es braucht ein breites Engagement und Zivilcourage, die sich als gesellschaftliches Immunsystem dem Rechtspopulismus und Fatalismus entgegenstellen.“
„Ein harter Kampf“
Die Diskussion, die darauffolgt, ist arm an Kontroversen. Die Referierenden scheinen sich in vielen Punkten einig, haben ähnliche Einstellungen und wenig Konfliktpotenzial. Dies scheint ihnen auch aufzufallen: „Wir reden immer in denselben Kreisen“, führt Rees an. Zustimmend ergänzt Köpping, „qualifizierte Personen müssten dahingehen, wo es weh tut, anstatt nur auf Tagungen und Kongresse“, fügt sie hinzu. Damit erntet sie Applaus vom Publikum, doch scheinbar steckt dahinter auch eine Kritik am eigenen Auftritt auf dem Bundeskongress. Als Fazit bleibt: Es sei ein „harter Kampf“, wie Lühmann es ausdrückt, den man fortwährend gegen die zunehmende Polarisierung führen müsse. Aber wie geht man nun mit Menschen um, die derart in ihrer Emotion stecken und wie Eva Illouz in ihrer Keynote am Freitag beschreibt, „in einer Parallelwelt mit einer anderen Wirklichkeit leben“? Eine Patentlösung können auch die Teilnehmenden nicht präsentieren.