Geringe Wahlbeteiligung, Politikverdrossenheit, religiöse und politische Radikalisierung junger Menschen: Große Gruppen der Gesellschaft sehen ihre Interessen nicht mehr durch traditionelle politische Strukturen repräsentiert. Was kann, was muss geschehen, damit Politik wieder zur Sache aller wird?
Referierende der Interner Link: Sektion 9: Evgeny Morozov, Publizist Dr. Felix Gerlsbeck, Universität Hamburg Dr. Armina Omerika, Goethe-Universität Frankfurt Prof. Dr. Behrouz Khosrozadeh, Georg-August-Universität Göttingen Moderation: Ulrike Winkelmann, Deutschlandfunk
Ethische Selbstkritik vonnöten
Zum Auftakt der Interner Link: Sektion 9 legte die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika dar, wie durch immer intensivere und unüberschaubare
Kommunikationsstrukturen populistische Bewegungen entstünden. Hierbei würden ressourcenbasierte Konflikte kulturell oder religiös kodiert und führten zu Radikalisierung und antidemokratischen Tendenzen. Sozioökonomische Verbesserungen oder politische Bildungsarbeit allein reichten hier nicht aus: Um dem Misstrauen vieler gegenüber der Politik zu begegnen, brauche es fortlaufende ethische Selbstkritik und -reflexion der Politik. Insbesondere wertebasierte Widersprüche wie der Demokratiediskurs in der Außenpolitik seien dabei aufzugreifen.
Mut zu einer gezielteren Nahost-Politik
Nach einer kurzen Einführung in die politische Landschaft des Nahen Ostens zog Behrouz Khosrozadeh eine Bilanz des Arabischen Frühlings, der für viele wie ein demokratischer Aufbruch anmutete. Er nannte die zahlreichen enttäuschenden Beispiele: Syrien oder Libyen, die in die Krise stürzten, aber auch reiche Staaten wie Saudi-Arabien, denen es gelang, die eigenen Bürger mit höheren Sozialausgaben ruhig zu stellen. Es gäbe jedoch auch Zeichen der Hoffnung, zum Beispiel die junge tunesische Demokratie. Mithilfe der Internationalen Gemeinschaft, so Khosrozadeh, könne es "mehr Tunesiens" geben. Dazu sei aber eine gezielte Förderung von Bildung und Arbeitsplätzen in den Regionen nötig, die erst die Grundlage für demokratische Prozesse schüfen. Eine neue Nahost-Politik müsse sich frei machen davon, lediglich stabile Kooperationspartner zu suchen, um den Wünschen und Sorgen der Bevölkerung gerecht zu werden.
Prof. Dr. Behrouz Khosrozadeh im Interview
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Rat der Fünfhundert 2.0?
Felix Gerlsbeck unterschied zunächst aus politiktheoretischer Perspektive zwischen der in westlichen Staaten häufig gegebenen Gleichheit auf dem Papier und der substantiellen Gleichheit, in der die Interessen aller Bürger einbezogen würden. Er plädierte dafür, politische Institutionen nicht nur durch politische Bildung zu stützen, sondern auch institutionelle Innovationen zu schaffen. Als einen Ansatz erläuterte er sogenannte „mini publics“, Bürgerversammlungen, in denen politische Entscheidungen durch zufällig, aber nach repräsentativen Kriterien ausgewählte BürgerInnen getroffen werden. Laut Gerlsbeck belegt die Empirie: In dieser Form ursprünglicher Demokratie sind Beteiligung und Diskussionsniveau hoch, ein deliberativer Meinungsaustausch werde möglich.
Gebt Euch nicht mit der Illusion von Teilhabe zufrieden!
Als letzter Redner sprach Evgeny Morozov über ungleiche demokratische Beteiligung auf digitalen Plattformen. In ihrer derzeitigen Form eröffneten Google, Facebook & Co. keinesfalls eine gleichberechtigte Form der Teilhabe, sondern kontrollierten durch ihre kommerzielle Ausrichtung die Gedanken und Aktivitäten der politisch Aktiven. Die Auswirkungen des Internets auf demokratische Prozesse müssten mehr in den Fokus des politischen Denkens rücken. Open Data sei also kein Garant für mehr Transparenz. Unmengen von verfügbaren Daten brächten nur denjenigen etwas, die die notwendigen Ressourcen zur Auswertung besäßen. Es entstünden also neue Asymmetrien: Dem Individuum würde großer politischer Einfluss suggeriert, während politisch und wirtschaftlich Verantwortliche nicht in traditionellen politischen Prozessen geradestehen müssten. Um im Internet zur demokratischen Meinungsbildung und Aktivität beizutragen, müssten zunächst im Web neue, unabhängige Infrastrukturen geschaffen werden.
Dr. Armina Omerika im Interview
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Neue Gedanken brauchen neue Strukturen
In der abschließenden Diskussion wurde noch einmal hervorgehoben, dass alternative Politikformen nur in neuen Strukturen realisiert werden könnten. Diese Strukturen müssten die Potenziale der heterogenen Gesellschaft nutzen und gleichzeitig Raum für Eigeninitiative lassen. Neue Medien eröffneten durchaus Möglichkeiten für eine gleichberechtigte Teilhabe, wie im Arabischen Frühling zu beobachten war. Ihre Nutzung ist pragmatisch zwar häufig zu begrüßen, muss aber dauerhaft von kommerzialisierter Infrastruktur gelöst werden. Auch würden die entstehenden Narrative Gefahren für die Demokratie bergen: spontane Mobilisierung dürfe nicht langfristige Strategien und politischen Einsatz ersetzen. Politische Bildung sei dabei nicht nur in der Pflicht, das aktuelle System zu stützen: Neue politische Gedanken forderten auch von den BildnerInnen die Bereitschaft, sich auf Innovationen einzulassen.
von Teresa Wilmes
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