In ihrem Eröffnungsvortrag „Die liberale Weltordnung unter Druck“ konstatierte Prof. Dr. Daniela Schwarzer, Vorständin der Bertelsmann Stiftung in Berlin, die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung, dass sich viele Aspekte des internationalen Gemeinwesens und auch des allgemeinen Lebens veränderten. Dies führe zu Unsicherheiten, Verwirrung und Unkontrollierbarkeiten, selbst in der an sich zukunftsorientierten Jugend. Spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges konnte bei der liberalen, regelbasierten Weltordnung eine Entwicklung in eine gemeinsame Richtung bemerkt werden. Es bliebe jedoch bei der Kernfrage, inwieweit jene Ordnung fair sei und dem Hegemon diene, zumal sich immer größere Kosten und Forderungen ergäben, während der Hegemon eher aus dieser Ordnung aussteige.
Der frühere Blick auf Asien wurde von der demographischen Entwicklung und der ansteigenden Wirtschaftskraft in jener Weltregion dominiert. Heute hingegen erlebe man ein erstarktes China, das auch zunehmend mittels militärischer Macht versuche, die Regeln zu bestimmen. Hinzu komme Indien als weiterer wichtiger Faktor, der Deutschland als drittgrößte Weltwirtschaft alsbald überrunden werde – und dies als Demokratie, wenn auch nicht nach unserem Verständnis.
Eine liberale Weltordnung benötige gesunde Demokratien. Doch aktuell zeige sich die Schwäche der eigenen westlichen Demokratien: diese gerieten aufgrund von Populismus, Nationalismus und zunehmender antidemokratischer Akteure immer mehr unter Druck.
Hinzu komme die geopolitische Realität der Verwerfungen zwischen dem Globalen Norden und dem Süden, die sich bei den zahlreichen Grenzkonflikten und nicht zuletzt im Krieg um die Ukraine zeige: So kritisierten viele afrikanische Staaten, dass Europa nicht in derselben Intensität gegen Konflikte vorgegangen sei, die nicht vor ihrer Haustüre lägen. Als eine Folge stimmten viele Staaten vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei der Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht mit dem Westen – jene Länder repräsentierten 60 Prozent der Weltbevölkerung.
In der Geoökonomie würden mittels Zöllen, Sanktionen und strategischen Abhängigkeiten machtpolitische Ziele durchgesetzt. Jenes Einfallstor für Druck und Erpressung habe sich auch in der Corona-Krise gezeigt, als Staaten die Abhängigkeit von Lieferungen machtpolitisch ausnutzten.
Anders als das Baltikum habe Deutschland die Bedrohung durch Putin verzögert wahrgenommen, der seinen Ansatz spätestens mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 verdeutlichte. Erst mit dem Angriff im Februar 2022 wurde wirklich realisiert, dass sich ein Kernakteur nicht dem Gewaltverbot unterwerfe. Anders als beispielsweise in Schweden würden die seit Jahren stattfindenden hybriden Angriffe auf Deutschland nicht in politische Botschaften umgesetzt; vielmehr sei Schwarzer nach ihrer Analyse von Putin-Reden nach der Krim-Annexion auch von staatlichen Stellen Kriegstreiberei vorgeworfen worden.
In den USA setze Präsident Trump mit großer Geschwindigkeit seine politischen Vorstellungen erneut um, während sich mächtige Großunternehmen aus gesellschaftlichen Prozessen entfernten. Am Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Schließung der Organisation für Entwicklungszusammenarbeit USAID (United States Agency for International Development) zeige sich, dass die positiven Wirkungen von Entwicklungszielen und Good Governance auf die USA nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern als den amerikanischen Interessen widersprechend dargestellt würden. Somit stelle sich die Frage, wie sich der Rückzug der USA kompensieren ließe, beispielsweise im militärischen Bereich, bei Verhandlungen oder auch beim Wiederaufbau der Ukraine? Die Chance, anderen Ländern bei der internationalen Finanzordnung, bestimmt von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, mehr Rechte einzuräumen, sei jedenfalls verpasst worden: Die USA zögen sich zurück, während China und andere Staaten bereits begonnen hätten, alternative Infrastrukturen aufzubauen.
Die Weltordnung werde zunehmend zu einer machtbasierten Ordnung – es bleibe die Hoffnung, dass sie dabei immer noch eine auch rechtsbasierte Ordnung bleibe: Doch es werde eben nicht alles unternommen, um zu verhindern, dass Russland den Krieg gewinne. Vielmehr benötige Europa offenbar Zeit, um sich auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen. Dies beinhalte den Schutz Europas vor geoökonomischem Druck, die Investitionskontrolle (beispielsweise bei der Kontrolle über kritische Infrastrukturen) sowie die sichere Versorgung mit Energie, Nahrungsmitteln und Gütern wie seltenen Erden. Immerhin gebe die gemeinsame Marktmacht den Europäern einen größeren Hebel. Ein wichtiger Bestandteil sei auch mehr digitale Souveränität – ein Lichtblick sei der kürzliche Aktionsgipfel zu Künstlicher Intelligenz (KI) unter dem gemeinsamen Vorsitz des französischen Präsidenten Macron mit dem indischen Premierminister Modi. Als Fazit konstatierte Schwarzer, dass Europa eine aktivere Rolle spielen müsse, um die liberale Weltordnung zu erhalten und voranzubringen.
In der anschließenden Diskussion wurde darauf verwiesen, dass die Abschlusserklärung des erwähnten KI-Gipfels von den USA und vom Vereinigten Königreich nicht unterzeichnet wurde; es bilde sich möglicherweise eine „Arbeitsteilung“ heraus, nach der die einen die Technologie schufen, die anderen sie nur noch zu regulieren versuchten. Schwarzer betonte den enormen Nachholbedarf im Bereich KI – und die Notwendigkeit, sich die Frage nach der nächsten Schlüsseltechnologie zu stellen, um diese frühzeitig zu besetzen. Es sei jedenfalls noch offen, wer von den Krisen und Brüchen tatsächlich profitieren werde. Auch die Frage, ob Europa mit Hinblick auf das neue Machtstreben der USA erneut zu spät erwache, wurde angesprochen. Die Bertelsmann Stiftung werde jedenfalls weiterhin bei Themen wie der Zukunft Europas und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt aktiv sein, was auch den Kampf gegen Desinformation beinhalte.