Die russische Propaganda-Offensive habe bereits vor dem eigentlichen militärischen Angriff auf die Ukraine begonnen, so Smirnova. Russland stellte sich selbst als Beschützer der Menschen im Donbas dar, und die Ukraine wurde als von Nazis durchsetzt beschrieben. Ziel der russischen Desinformationen sei es, die westliche Unterstützung der Ukraine zu schwächen und die Gesellschaften zu spalten.
Relevante Akteure in Bezug auf Desinformation und Propaganda seien zum einen ausländische (vor allem russische) Akteure wie Regierungsvertreter/-innen, staatliche und private staatsnahe Medien, verdeckte staatliche Netzwerke und private Firmen. Zum anderen seien auch einheimische Akteure wie Parteien, Politiker/-innen, extremistische Gruppen und Influencer/-innen aktiv. Es sei nicht immer einfach, die Akteure und Verantwortlichkeiten zuzuordnen, gerade bei den privaten staatsnahen Medien in Russland, so Smirnova. In Russland spielten außerdem Formen der Zensur und der eingeschränkte Zugang zu unabhängigen Informationen eine wichtige Rolle. Die Propaganda- und Desinformationskampagnen seien dort bei einem Großteil der Bevölkerung sehr erfolgreich.
In der Ukraine gebe es viele Fälle von Online-Manipulation, Doxing (Veröffentlichen persönlicher Daten) von Militärangehörigen und neue Propaganda-Medien in den besetzten Gebieten. Die russische Propaganda sei dort jedoch deutlich weniger erfolgreich als 2014. Die Kampagnen zielten darauf ab, Panik zu säen; in den ersten Kriegstagen hieß es, der Krieg sei schon verloren, und es lohne sich nicht zu kämpfen. Die russische Armee wurde als Beschützer und Befreier präsentiert. In den besetzten Gebieten wurde schnell die Kommunikation übernommen und neue Medienseiten und Nachrichtenkanäle wurden eingerichtet.
Kurz nach Beginn des Krieges wurden die Seiten und Profile der staatlichen russischen Auslandsmedien in der EU unzugänglich gemacht, was zu einem starken Rückgang der Zugriffszahlen führte. Diese Verbote würden auf verschiedenen Wegen umgangen, etwa mit Mirror-Domains, Copy-Paste-Websites oder mit Ausbau der Online-Präsenz auf alternativen Plattformen.
Das russische Staatsmedium RT DE war bereits vor dem Beginn des Krieges eine beliebte Informationsquelle in Online-Communities von "Verschwörungsinfluencer/-innen und Covid-19-Skeptiker/-innen", aber auch von Teilen der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland. Die Propaganda knüpfe an deren generelles Misstrauen gegenüber etablierten Medien an, so Smirnova. Bereits in den Monaten vor dem Beginn der russischen Invasion teilten die entsprechenden Facebook-Gruppen auch russische Desinformationen über die Ukraine.
Eine weitere Herausforderung seien Kreml-freundliche Influencer/-innen. Allein zwölf westliche Influencer/-innen berichteten aus den besetzten Gebieten der Ukraine, sie verfügten im Mai 2022 zusammen über 1,57 Mio. Follower. Ihre Posts wurden von russischen Staatsmedien, russischen Beamten, aber auch von Persönlichkeiten in anderen Ländern wie China, Venezuela und Südafrika geteilt und verstärkt.
Die russische Propaganda und Desinformation zielen auf breitestmögliche Wirkung und verfolgen dabei verschiedene Taktiken: Sie nutzen Schlupflöcher in der Moderation oder in Empfehlungssystemen der Plattformen, formulieren Überschriften bewusst uneindeutig. Sie eignen sich die Faktencheck-Sprache an, um seriöse Nachrichtenquellen zu diskreditieren und Desinformationen zu verbreiten. Sie bauen Netzwerke von muttersprachlichen Übersetzer/-innen auf, wenden Doxing und Identitätsdiebstahl an, gefälschte Unterlagen und manipulierte Video-Inhalte werden verbreitet. Auch seriöse Medien werden gefälscht und unter ähnlichen Domain-Namen veröffentlicht.
Es werden Narrative verbreitet, die Anklang bei den jeweiligen Zielgruppen finden. Dazu gehören: Verunglimpfung der Ukraine als Nazi-Regime, falsche Anschuldigungen, die Ukraine bereite den Einsatz von Massenvernichtungswaffen vor, Anti-NATO-Stimmung, Leugnung der russischen Gräueltaten in der Ukraine, man dockt an Debatten um Inflation und steigende Energiepreise an, oder in Afrika an antikoloniale Narrative.
Zusammenfassend sagte Julia Smirnova, dass Russland erhebliche Ressourcen für Propaganda einsetze. Es seien jedoch auch heimische Akteure involviert, die häufig viel effizienter arbeiteten. Es reiche keinesfalls aus, russische Staatsmedien zu sperren. Nicht alles sei reine Desinformation, oft handle es sich um eine Mischung mit wahren Nachrichten bzw. eine gezielte Auswahl oder Dekontextualisierung. Ziel der Kampagnen sei es, wunde Punkte und bestehende Spaltungen in Gesellschaften zu finden und zu verstärken. Aus Smirnovas Sicht könne man diese Kampagnen nicht nur mit Faktenchecks bekämpfen, sondern es handele sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gehe darum, Medienkompetenz und politische Bildung zu stärken, in den Schulen, aber auch für Erwachsene.
Auf die Nachfrage, ob Künstliche Intelligenz (KI) helfen könne, gegen Propaganda vorzugehen, antwortete Julia Smirnova, dass diese sowohl Propaganda-Akteuren helfen könne als auch der Bekämpfung dienen könne. Es seien schon viele Fakes erkannt worden, doch KI könne Nachrichten nicht sauber in richtig oder falsch unterscheiden.
Befragt zur Rolle und Empfänglichkeit der russischsprachigen Community in Deutschland, sagte Smirnova, dass besonders ältere Menschen anfällig für die Propaganda seien, die auch vorher schon russische Staatsmedien, vor allem Fernsehen, konsumiert hätten, doch auch viele jüngere informierten sich aus russischsprachigen Quellen. Man dürfe die Menschen jedoch nicht unter Generalverdacht stellen. Eine Möglichkeit sei es, ihnen gezielt Bildungsangebote zu machen und ihnen zum Beispiel auch russischsprachige staatskritische Medien vorzustellen. Dies berge auch die Chance, dass sie in ihre Communities hineinwirken.